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25. James Kestrel „Fünf Winter“
26. Cormac McCarthy (geb. 20. Juli 1933, gest. 13. Juni 2023)
27. Alba de Céspedes „Das verbotene Notizbuch“
28. Karl Alfred Loeser „Requiem“
29. Anders Petersen „Café Lehmitz“
30. Claire Keegan „Das dritte Licht“
Bilder
Freitag 16.06.2023
James Kestrel „Fünf Winter“
Es sollte schon mit dem Teufel zugehen, wenn James Kestrel nicht zumindest einen Teil der Romane James Ellroys gelesen hat. Denn Kestrel öffnet zum einen die doch manchmal arg engen Handlungsebenen provinzialischer Kriminalhandlungen und bringt sie in einen großen geschichtlichen und politischen Zusammenhang. Er entwirft mit leichter Hand ein umfangreiches Tableaux von handelnden Personen, die in Abhängigkeiten zu- und voneinander stehen. Von ihren persönlichen Obsessionen einmal ganz zu schweigen. Und drittens spielt das gesellschaftliche Milieu, in dem die Geschehnisse angelegt sind, für die Handlung eine entscheidende Rolle. Das alles erinnert eben an jenen oben erwähnten Autor und so sprengt „Fünf Winter“ das Genre des Kriminalromans nachhaltig. Über die Abgründe der Menschen, bei Einbeziehung ihrer sozialen Stellung und Herkunft, entwirft Kestrel das Sittenbild einer bestimmten Region zu einer bestimmten Zeit.
Die Handlung des Romans beginnt im Jahr 1941 auf Hawai, mit einem bestialischen Mord an einem weißen Amerikaner und dessen japanischer Freundin. Joe McGrady, Detektiv beim Honolulu Polizeidepartment, soll den Fall lösen. Schnell erkennt er, dass das Ziel des Anschlags nicht der Lieblingsneffe des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte ist, sondern dessen vorerst noch unscheinbare Freundin.
Die Spur führt McBrady dann mitten im 2. Weltkrieg nach Hongkong. Am selben Tag, als er dort ankommt, findet der Überfall auf die Pazifikflotte der USA in Pearl Harbor statt. Hongkong wird von den Japanern besetzt und McBrady als Amerikaner festgenommen und als Spion nach Tokio verschleppt. Er entgeht durch die Hilfe eines hochrangigen Diplomaten knapp der eigenen Hinrichtung. Der Regierungsvertreter Takahashi Kansei verhilft ihm zur Flucht und versteckt McBrady in sein Haus. Hier lernt der in seiner Heimat als vermisst geltende Detektiv in den nächsten „Fünf Wintern“ das japanische Leben, die Mentalität der dortigen Menschen und vor allem deren faszinierende Kultur kennen, worauf sich sein Feindbild völlig ändert.
Nach der Kapitulation Japans kommt McBrady frei und wieder nach Hawaii, wo er als privater Ermittler den noch immer ungelösten Fall sofort neu aufrollt und ihn in typischer Hard-Boiled-Manier letztendlich auch löst.
Mit „Fünf Winter“ hat James Kestrel, der mit bürgerlichem Namen Jonathan Moores heißt und als Anwalt, Englischlehrer, Wildwasser-Rafting-Führer und Krimi-Autor tätig war und ist, einen bemerkenswerten Roman geschrieben, der sich als Thriller im harten Krimi-Genre bewegt und zugleich als Kriegsroman, Liebesgeschichte und Historiendrama gelesen werden kann.
Sicher hat Kestrel, was die Zutaten seiner Geschichte betrifft, nicht mit den für dieses Genre ganz untypischen Klischees gespart. Aber der Fluss seiner Erzählung überzeugt, die Dialoge sind knapp, präzise und die Atmosphäre unterstützend. Das Leben in seiner Vielfalt und Unerbittlichkeit, in seinen unabwegbaren Wendungen und auch der nie versiegenden Hoffnung hält den Leser über die 500 Seiten durchweg in bester Stimmung. Zu recht wurde das Buch mit dem Edgar Award für den besten Kriminalroman und dem Barry Award für den besten Thriller des Jahres 2022 ausgezeichnet!
Jörg Konrad

James Kestrel
„Fünf Winter“
Suhrkamp
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Dienstag 13.06.2023
Cormac McCarthy (geb. 20. Juli 1933, gest. 13. Juni 2023)
Bilder
Cormac McCarthy
„Ein Kind Gottes“

Cormac McCarthy erzählt in diesem Roman eine Geschichte die weit unten beginnt, im Verlauf tiefer sinkt, um noch viel weiter unten zu enden. Es ist die Geschichte eines Mannes, Lester Ballard, einem verrohten Outlaw, von dessen Kindheit und Jugend wir nichts wissen. Wir möchten sie wahrscheinlich nicht einmal ahnen.
Ballard lebt in Tennessee, in den 1960er Jahren, mal in runtergekommenen Häusern, dann in einsam stehenden, völlig abgebrannten Ruinen, Mal unter freiem Himmel, später in dunklen Höhlensystemen – weit abseits jeder menschlichen Gesellschaft. Völlig isoliert. Er mordet und vergewaltigt und leidet an Grenzen überschreitender Einsamkeit. McCarthy versucht diesem Kind Gottes mit Abstand und der Kraft einer poetischen Sprache gerecht zu werden. Nicht anklagend und nicht verteidigend. Trotz Tod und Verwesung. Er beschreibt schonungslos und mit nüchternen Metaphern ein illusionsloses Leben außerhalb der zivilisatorischen Norm, ohne den idealisierenden Filter trügerischer Moral, als ein naturalistisches Drama.
„Ein Kind Gottes“ ist 1973 erschienen und liegt jetzt erstmals in deutscher Sprache vor. Dieses dunkle wie intensive und vor allem kompromisslose Buch besitzt schon alle Merkmale jenes „pessimistischen Individualismus“, den ein Großteil späterer Bücher McCarthys auszeichnen sollten. Es hat oft den Anschein, dass der heute 81jährige und in Rhode Island lebende Autor der Natur, der landschaftlichen Schilderung, mehr Empathie zukommen lässt als seinen handelnden Figuren. Mit diesem abgrundtiefen Blick auf den Menschen und Büchern wie „Die Straße“, „Kein Land für alte Männer“ oder „Grenzgänger“ wird McCarthy seit Jahren als einer der heißesten Nobelpreisanwärter gehandelt.
Jörg Konrad
(Erstveröffentlichung auf KK: Januar 2015)

Cormac McCarthy
„Ein Kind Gottes“
rororo
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Dienstag 06.06.2023
Alba de Céspedes „Das verbotene Notizbuch“
Ein Zimmer für sich allein forderte Virginia Woolf vor fast 100 Jahren für jede Frau. Ihr Text wurde zu einem Klassiker der Frauenbewegung, und das vielzitierte Schlagwort zu einer Metapher für den Wunsch nach Privatsphäre und der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Die Protagonistin von Alba de Céspedes´ Roman „Das verbotene Notizbuch“ hat kein Zimmer für sich allein; es gibt nicht einmal eine Nische in ihrer Wohnung, in der sie ungestört ihr Tagebuch führen kann. Meist schreibt sie nachts, wenn alle schlafen.
„Das verbotene Notizbuch“ ist 1952 zum ersten Mal erschienen und war lange in Vergessenheit geraten. Im Zuge der Wiederentdeckung von bedeutenden weiblichen Stimmen der Literaturgeschichte wurden in den letzten Jahren auch die Bücher der italienisch- kubanischen Autorin Alba de Céspedes wieder aufgelegt und neu übersetzt. Ihre Werke, die aus explizit weiblicher Sicht geschrieben sind, waren Vorbilder und Inspiration für Autorinnen wie Annie Ernaux und Elena Ferrante.
Alba de Céspedes, Kosmopolitin, Antifaschistin und Feministin, war eine der wichtigsten Autorinnen Italiens des 20. Jahrhunderts. 1911 wurde sie in Rom geboren,1997 starb sie in Paris. Ihren ersten Roman versuchten die italienischen Faschisten vergeblich zu verbieten, da ihnen die Heldin der Geschichte zu selbstbewusst und emanzipiert erschien.
In „Das verbotene Notizbuch“ lesen wir dagegen die Aufzeichnungen einer unauffälligen, bescheidenen Frau. Die Autorin wollte hier eine typische Italienerin der 1940-er und 50-er Jahre porträtieren. Valeria Cossati ist 43 Jahre alt und seit über 20 Jahren mit Michele, einem Bankangestellten, verheiratet. Das Paar lebt scheinbar zufrieden mit seinen beiden fast erwachsenen Kindern in Rom. Um das Gehalt ihres Mannes aufzubessern, arbeitet Valeria nebenbei als Büroangestellte. Eines Tages kauft sie sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, ein schwarzes Heft, in das sie nun minutiös ein halbes Jahr lang ihre Gedanken, Gefühle und Alltagserlebnisse einträgt. Das tut sie heimlich und mit heftigen Schuldgefühlen. Denn das Schreiben über ihr Leben, von dem sie nicht lassen kann, setzt eine Bewusstwerdung in Gang. Zunehmend erkennt sie, dass sie mit ihrem eingeengten Dasein unzufrieden ist. Sie fühlt sich aufgerieben zwischen ihren Verpflichtungen als Hausfrau, Ehefrau und Mutter. Sie hat keinen Raum und keine Zeit für sich, und sogar ihren Namen Valeria hat sie verloren. Seit einigen Jahren nennt auch ihr Mann sie nur noch Mama. Ist sie denn nicht immer noch eine hübsche Frau und nicht zu alt für Romantik? Sie sucht sich kleine Fluchten, kauft ihrem Mann und ihren Kindern Fußballkarten, um allein in der Wohnung sein und schreiben zu können und fängt an, ihre Familie zu belügen. Ihrem Tagebuch vertraut sie an, wie sie und ihr Chef sich immer näher kommen. Samstags täuscht sie Arbeit vor, um sich mit ihm im Büro zu treffen, und schließlich planen beide einen gemeinsamen heimlichen Urlaub in Venedig.
Von Anfang an wird Valeria von der fast panischen Angst verfolgt, dass jemand aus der Familie ihr Tagebuch lesen und sie entlarven könnte. Denn so sehr sie unter ihrer Rolle als aufopferungsvolle Hausfrau und hingebungsvolle Mutter ohne eigene Wünsche leidet, so sehr braucht sie das Bild, das die Gesellschaft und ihre Familie von ihr haben. „Wie oft beklage ich mich, zu viel zu tun zu haben, im Joch der Familie und des Haushalts zu stehen, nie ein Buch lesen zu können. All das ist wahr, doch ist dieses Joch gleichsam zu meiner Stärke geworden, zum Heiligenschein meines Martyriums.“ Mit einem schonungslosen Blick auf sich selbst bekennt sie in ihrem Tagebuch, dass sie in Wirklichkeit durch ihre Aufopferung ein Kapital aufhäufen will, das ihr die Menschen ihrer Umgebung durch Bewunderung und Dankbarkeit zurückzahlen müssen. Alba de Céspedes zeigt, wie die unterdrückten, nicht ausgelebten Bedürfnisse einer Frau in Härte und Groll umschlagen.
Die Autorin hat mit großem Scharfblick eine sehr ambivalente Frauenfigur geschaffen. Es ist eine Stärke des Romans, dass es kein Schwarz-Weiß gibt. Valeria wird einerseits als Opfer von Erwartungen und Normen ihrer Zeit gezeichnet; und doch hat sie das Frauenbild und die engen moralischen Vorstellungen, die sie unglücklich machen, selbst verinnerlicht, und sie bleibt ihnen verhaftet. Das zeigt sich vor allem in ihrer Beziehung zu ihrer Tochter. Als sie entdeckt, dass Mirella ein Verhältnis mit einem verheirateten Anwalt hat und mit ihm zusammen eine Karriere als Juristin plant, schreckt Valeria aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung weder vor hemmungsloser Überwachung noch vor körperlicher Bestrafung zurück. Ihrer Tochter gönnt sie den Aufbruch nicht, den sie sich selbst wünscht und zu dem sie nicht den Mut aufbringt.
Dem Roman „Das verbotene Notizbuch“ gelingt ein eindrucksvolles Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit in Italien und zugleich das Porträt einer Frau, die zerrissen ist zwischen den Traditionen ihrer Elterngeneration und dem Ruf nach Veränderung, der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Lilly Munzinger, Gauting

Alba de Céspedes
„Das verbotene Notizbuch“
Insel
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Montag 22.05.2023
Karl Alfred Loeser „Requiem“
Nachdem in Deutschland 1933 aufgrund des Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ jüdische Musiker aus staatlichen und städtischen Orchestergräben diskreditiert wurden, gab es schon zwei Jahre später so gut wie keine jüdischen Künstler mehr in offiziellen Musikbetrieben. Diese Entwicklung bringt Loeser in seinem packenden, mahnenden und anklagenden Roman „Requiem“ eindrucksvoll zum Ausdruck.
Die Geschichte ist in den 1930er Jahren in einer westfälischen Kleinstadt angelegt. Im dortigen Symphonieorchester spielt der jüdische Cellist Erich Krakau. Der 22-jährige Sohn des ortsansässigen Bäckers, Fritz Eberle, selbst Mitglied der SA, spielt ebenfalls Cello, und will, mehr oder weniger freiwillig, in die musikalischen Fußstapfen seines Onkels treten, dem Leiter der Musikschule vor Ort.
Auch wenn sein musikalisches Talent überschaubar bleibt, will Eberle die Stelle Krakaus einnehmen. Getrieben von Hass und Missgunst und unterstützt von der schon deutlich spürbaren antijüdischen Propaganda, beginnt die öffentliche Denunziation und Hetzjagd Erich Krakaus, der sich letztendlich entschließt zu emigrieren.
Die von Ohnmacht und Machtmissbrauch gekennzeichneten Verhaltensweisen der handelnden Personen, die tagtäglichen Intrigen und der Opportunismus, denen speziell Erich Krakau ausgesetzt ist, bestimmen das zwischenmenschliche Klima dieses Romans. Loeser beschreibt diese Situation mit psychologischem Feingefühl, aber auch mit der beklemmenden Klarheit, für die sich verändernden Machtverhältnisse.
Loeser hat den heraufziehenden Nationalsozialismus in seiner ganzen menschenverachtenden Ideologie früh erkannt. Er zog für sich und seine Familie die Konsequenzen und emigrierte 1934 über Amsterdam nach Sao Paulo, wo er in dem erst jetzt posthum erschienen Roman die Gründe seiner Flucht mit diesem eindrucksvollen und anklagenden Text literarisch verarbeitete. Seine Familie fand dieses Manuskript erst nach seinem Tod 1999. Vielleicht lag seine Zurückhaltung auch daran, dass er sich in Südamerika nie wirklich frei und sicher fühlte. Denn obwohl im Laufe der Zeit Tausende jüdische Emigranten aus Mitteleuropa hier eintrafen, gab es eine restriktive Einwanderungspolitik in Bezug auf die brasilianische Industriealisierung bzw. sollte diese dem dortigen Wirtschaftswachstum zuträglich sein. Zudem sympathisierten die brasilianischen Machthaber während des Dritten Reiches offen mit Nazi-Deutschland.
So arbeitete Loeser notgedrungen in einer niederländischen Bank, spielte in seiner Freizeit im Amateur-Sinfonieorchester von Sao Paulo Geige und schrieb nebenher Romane, Erzählungen und Dramen. Dank der Entdeckerleidenschaft des Lektors, Verlegers und Buchhändlers Peter Graf für „vergessene“ Bücher wurde dieser literarische Schatz jetzt erstmals veröffentlicht.
Jörg Konrad

Karl Alfred Loeser
„Requiem“
Klett Cotta
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Freitag 12.05.2023
Anders Petersen „Café Lehmitz“
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Wer wenn nicht Tom Waits ist für das Vorwort zu Anders Petersens Photobuch-Klassiker „Café Lehmitz“ geeigneter? Immerhin hatte der kalifornische Sänger und Komponist schon 1985(!) auf seinem Album „Rain Dogs“ ein Foto aus diesem Zyklus für sein Cover gewählt. Zudem passt Waits Musik wohl wie kaum eine andere zu diesen bizarren wie empathischen Schnappschüssen aus der Reeperbahner Stehbierhalle. „Anders Petersen hat das Auge eines Poeten“, schreibt Waits in seiner Einleitung. „Wie wäre es sonst möglich, beim Anblick seiner Bilder Lili Marleen aus einer verbeulten Klarinette zu hören oder Bockwurst mit Tiparillo-Rauch und kaputtem Klo zu riechen?“
Anders Petersen stammt aus Schweden und studierte in Stockholm Fotografie. Auf seinen Reisen und für seine Projekte lichtete er fast immer eine Art Parallelgemeinschaft ab, bestehend aus Außenstehenden und Originalen einer scheinbar „anderen Welt“ - weit draußen. Doch die Sonderlinge und Eigenbrötler, die Verlierer und Hallodris waren und sind auch immer ein Teil der gesellschaftlichen Realität.
Petersen fotografierte in Gefängnissen, Altenheimen, in psychiatrischen Kliniken und eben in Etablissements wie dem Café Lehmitz. „Im Himmel gibt es kein Bier, darum trinken wir es hier“ war auf einem der Schilder an der Wand zu lesen. Hier, am Ende der Reeperbahn, hatten sie ihre Kontakte, feierten, tanzten, tranken. Sie nannten sich Korn-Uschi, Blumen-Paul oder Jägermeister-Karin, waren Sexarbeiterinnen, Stricher, Zuhälter, Kleinkriminelle, Alkoholiker und fanden im Lehmitz eine Nische, in der sie akzeptiert wurden und sich nicht ständigen Schikanen und Drangsalierungen ausgesetzt sahen - wie das auf den Straßen zu ihrem Alltag gehörte.
Das besondere an Petersens Arbeiten ist die Offenheit und Authentizität der Bilder, auch wenn ihre schonungslose Direktheit manchmal erschlagend wirkt. Doch nie bedienen diese Bilder eine Sensationslust oder gar Voyeurismus. Es sind Dokumente vom Rande einer gesellschaftlichen Norm, in der die, die nicht zu den Gewinnern und Champions dieses Lebens gehören ihren Platz finden, die Freuden ihres Seins ausleben können und von den meist spießigen Ansprüchen der Gesellschaft nicht verschluckt werden.
Petersen betrachtet sie mit einem solidarischen, fast liebevollen Blick und hat mit diesen Klassikern der Millieufotografie ein beeindruckendes Werk hinterlegt. „Er hält lebendige Momente fest, die uns anstarren“, schreibt Waits. „Er zog einen Hut aus dem Kaninchen, mit dem Foto eines frisch gebrochenen Herzens, oder würde es gleich brechen?“
Die im vorliegenden Band veröffentlichten Arbeiten sind in den Jahren 1968 bis 1970 entstanden und erschienenen 1978 erstmals in Buchform. Anders Petersen, der 2008 mit dem Dr.-Erich-Salomon-Preis ausgezeichnet wurde, lebt und arbeitet heute in Stockholm.
Jörg Konrad

Anders Petersen
„Café Lehmitz“
Schirmer/Mosel
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Freitag 28.04.2023
Claire Keegan „Das dritte Licht“
Die Autorin Claire Keegan gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Irlands. Sie hat zahlreiche Preise erhalten, im deutschsprachigen Raum war sie aber nur wenig bekannt. Das änderte sich erst, als im letzten Jahr ihr schmaler Roman „Kleine Dinge wie diese“ in deutscher Übersetzung erschien. Jetzt liegt ihre Erzählung „Das dritte Licht“ in neuer Überarbeitung vor, und wieder ist man beim Lesen beglückt darüber, was für eine wunderbare Schriftstellerin Claire Keegan ist.
Die Autorin ist auf einer kleinen Farm aufgewachsen. Sie weiß, wie hart das Leben auf dem Land in Irland sein kann. „Das dritte Licht“ spielt Anfang der 80er Jahre in der irischen Grafschaft Wexford unter einfachen, bäuerlichen Menschen. An einem heißen Sonntagmorgen bringt ein Vater seine Tochter mit dem Auto zu entfernten Verwandten. Das kinderlose Ehepaar Kinsella lebt auf einem Hof am Meer. Hier soll das Mädchen auf unbestimmte Zeit bleiben, denn seine Mutter ist wieder schwanger. Die Eltern schaffen es nicht mehr, alle Kinder satt zu kriegen. Die Tochter wird, mit nichts als einem armseligen Kleidchen am Leib, bei ihr völlig fremden Menschen abgeliefert, und der Vater fährt ab, ohne sich von ihr zu verabschieden.
Sie ist die Ich-Erzählerin des Buches, ihr Name wird nicht genannt. Beim Lesen erfährt man nichts, was über ihre kindliche Perspektive hinausgeht. Die Armut, die Verwahrlosung, die Lieblosigkeit, die in ihrer Familie herrschen, werden durch wenige Bemerkungen deutlich. Man liest, dass der Vater eine Kuh beim Kartenspielen verloren hat und dass die Tochter noch lange die stählernen Zinken des Kammes auf ihrer Kopfhaut spürt, mit dem die Mutter ihr am Morgen die Haare gekämmt hatte.
Bei Mr und Mrs Kinsella lernt das Kind ein ganz anderes Zuhause kennen. Das Ehepaar gibt ihm Essen und Kleidung, Stabilität und vor allem Verständnis und Wärme. Das Mädchen hilft der Frau im Haushalt und dem Mann im Stall. Zwischen ihm und dem Kind entwickelt sich eine ganz besondere Zuneigung und Zärtlichkeit, die von seiner Seite nichts Übergriffiges hat. Er unterstützt das Mädchen in vieler Hinsicht, stärkt sein Selbstbewusstsein, und mit seiner Hilfe entdeckt es die Welt der Bücher: „…ich spürte, wie mir Flügel wuchsen, die Freiheit, an Orte zu gelangen, wo ich zuvor nicht hinkonnte…“.
Claire Keegan zeichnet eine ganz eigene, dezente und beeindruckende Erzählkunst aus. Sie setzt ihre Mittel sehr sparsam ein, vieles bleibt nur angedeutet oder erschließt sich erst nach und nach im Laufe der Geschichte. Gerade in der Reduktion entfaltet die Erzählung eine besondere Ausdruckskraft. Scheinbar belanglose Beobachtungen haben einen doppelten Boden und eine symbolische Bedeutung. So versteht man erst beim Weiterlesen, dass der kleine Junge, der auf der Tapete im Zimmer des Mädchens einem fahrenden Zug nachwinkt, ein subtiler Hinweis der Autorin auf ein dunkles Geheimnis ist, das Mrs und Mr Kinsellas Leben überschattet.
Eine sehr poetische, metaphorisch aufgeladene Szene ist ein Nachtspaziergang am Strand, zu dem John Kinsella das Mädchen mitnimmt. Hier erlebt das Kind eine Leichtigkeit im Spiel mit den Wellen und eine väterliche Zuwendung, die es bisher nicht kannte. Über dem Wasser sind zwei flackernde Lichter zu sehen, zwischen denen später ein drittes Licht aufleuchtet. Das kann man als Bild lesen für das kinderlose Ehepaar, zu dem das Mädchen hinzugekommen ist und das ihr Leben heller macht.
Doch der lange, sonnige Sommer geht zu Ende, die Schule beginnt, und das Mädchen muss zu seiner Familie zurückgebracht werden. Der aufwühlende, dramatische Schluss des Buches lässt vieles offen.
Wie im Roman „Kleine Dinge wie diese“ geht es Claire Keegan auch in ihrer berührenden Erzählung „Das dritte Licht“ um ihr zentrales Thema, um Empathie und Menschlichkeit in harten Zeiten.
Lilly Munzinger, Gauting

Claire Keegan
„Das dritte Licht“
Steidl Verlag
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Autor: Siehe Artikel
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