Die Geschichte hinter der Aufführung ist unglaublich und von einer zum Himmel schreienden Unerträglichkeit. Zudem gibt es keine ernst zu nehmende Entschuldigung, wenn Haupttäter realer Gewalt gegen die Menschheit, trotz staatlichem Wissen um deren Verbrechen, nicht zur Verantwortung gezogen werden. Sondern deren bestialische Kaltblütigkeit erst die Grundlage für gesellschaftlichen Aufstieg und politische Anerkennung bildet.
Aber der Reihe nach: Friedrich Zawrel (1929-2015) wuchs Ende der 1930er Jahre in Kinderheimen und Pflegefamilien auf und wurde 1941 in die Wiener Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“, eine der größten NS-Euthanasie-Kliniken Österreichs, eingewiesen. Hier traf er auf den Psychiater Heinrich Gross, Stationsleiter der „Reichsausschuss-Abteilung“, der behinderte Kinder für abscheulichste Forschungszwecke missbrauchte, wissentlich missbrauchen ließ und letztendlich an deren Ermordung beteiligt war.
Nach dem Krieg wurde Gross, mit seiner Sammlung von über 800 Kinderhirnen(!), Leiter des eigens für ihn geschaffenen Ludwig-Boltzmann-Instituts zur Erforschung von Missbildungen des Nervensystems und zugleich meistbeauftragter Gerichtspsychiater Österreichs. 1953 trat er der SPÖ bei, zwei Jahrzehnte später erhielt er das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse.
Friedrich Zawrel geriet nach 1945, aufgrund von banalen Eigentumsdelikten, in die Fänge der österreichischen Justiz und sollte aus diesem Grund psychiatrisch begutachtet werden. So traf er, wie es der Zufall will, 1975 auf seinen einstigen Peiniger Heinrich Gross, mittlerweile Leiter des „Ludwig Boltzmann-Instituts zur Erforschung der Mißbildungen des Nervensystems“, der den offiziellen Auftrag hatte, über Zawrel ein nervenärztliches Gutachten anzufertigen. Zawrel erkannte Gross sofort und konfrontierte ihn mit seiner Vergangenheit. Daraufhin stellte Gross ihm ein Gutachten aus, aufgrund dessen er sechs Jahre in Haft kam. Er empfahl zudem, die anschließend dauerhafte Unterbringung in einer Anstalt für gefährliche Rückfalltäter.
Zawrel informierte über einen Journalisten die Öffentlichkeit, woraufhin eine jahrzehnte lange juristische Auseinandersetzung über die (erwiesene) Schuld des beamteten Arztes folgte, an deren Ende Heinrich Gross 90jährig zwar angeklagt, aber nie verurteilt starb.
Nikolaus Habjan hat aus den historischen Eckpfeilern dieser Geschichte mit der Kraft eines Überzeugungsaufklärers und dem Mut eines Freischärlers ein Puppenspiel geformt und dieses auf die Bühne gebracht. Selbst Habjans Gönner hatten Bedenken, ob diese Form der spielerischen Umsetzung gelingt, ob derartiger Schrecken mit künstlerischen Mitteln darstellbar wäre.
Genau das Gegenteil ist der Fall. Habjan nähert sich mit den Mitteln seiner einzigartigen Kunst in „F. Zawrel - erbbiologisch und sozial minderwertig“ geschickt wie erschütternd dem Menschheitsverbrechen, betreibt zugleich humanitäre Aufklärung und macht ein ganz klein wenig Hoffnung, in dem er derartiges moralisches wie rechtliches Versagen aus dem Kanon gesellschaftlicher Verschwiegenheit ans Licht der Öffentlichkeit trägt. Allein dafür gebühren ihm, Nikolaus Habjan, die höchsten Auszeichnungen. Was beim Publikum nach seinem gestrigen Auftritt im Fürstenfelder Veranstaltungssaal letztendlich blieb: Stummer Schrecken, maßlose Wut ob dieses ohnmächtig machenden Irrsinns. Auch deshalb: Standing Ovations.
Jörg Konrad
Erich Fried
Was geschieht
Es ist geschehen
und es geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen
wenn nichts dagegen geschieht.
Die Unschuldigen wissen von nichts
weil sie zu unschuldig sind
und die Schuldigen wissen von nichts
weil sie zu schuldig sind.
Die Armen merken es nicht
weil sie zu arm sind
und die Reichen merken es nicht
weil sie zu reich sind.
Die Dummen zucken die Achseln
weil sie zu dumm sind
und die Klugen zucken die Achseln
weil sie zu klug sind.
Die Jungen kümmert es nicht
weil sie zu jung sind
und die Alten kümmert es nicht
weil sie zu alt sind.
Darum geschieht nichts dagegen
und darum ist nichts geschehen
und geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen, wenn nichts dagegen geschieht.