Ihre Musik hat nichts von ihrer komplexen Wirkung verloren. Myra Melford wandelt schon seit Jahren auf den Pfaden avantgardistischer Hochkultur. Dabei war die europäische Moderne ebenso ein selbstverständlicher Teil ihrer Herangehensweise, wie sie beinahe wild, auf jeden Fall spielerisch, überschäumende Rhythmen afrikanischer Kulturen vertont und melodisch arabeske Fragmente in den Ring wirft.
Geändert hat sich ihr musikalischer Bezug bzw. ihre theoretische Ausgangsbasis, das philosophische Konstrukt ihrer Arbeit. Schon seit langem beschäftigt sich die im kleinen Evanston, Illinois bei Chicago geborene Instrumentalistin mit dem US-amerikanischen Maler, Fotografen und Objektkünstler Cy Twombly. „Ich habe wirklich über das Gefühl nachgedacht, das ich bei Twombly habe:“, sagt sie im Booklet ihres neuen Albums „Splah“. „dass seine Linien auf eine bestimmte Weise beginnen und an einem völlig anderen Ort enden können und trotzdem als Komposition funktionieren.“
Das würde im musikalischen Kontext bedeuten, dass Improvisation und Komposition sehr nahe beieinander stehen, dass die scheinbare Improvisation gedanklich einer Komposition entspricht – und umgekehrt. Dafür braucht die zierliche Pianistin Mitmusiker, die diesen praktischen und treibenden Gedankengängen auch zu folgen in der Lage sind. Mit dem Bassisten Michael Formanek und dem Schlagwerker Ches Smith hat sie mit Sicherheit ein ideales Duo zur Seite. Beide gehören in die oberste Liga spontan komponierter Tonkunst. Sie leiten jeweils eigene, großartige Bands und gehören seit Jahren zu den gefragtesten Sidemans der Szene. Sie reagieren spontan, wuchtig, rücksichtsvoll, polarisierend im musikalischen Sinn, manchmal unberechenbar und damit im kreativen Sinn herausfordernd.
So wird „Splash“ zu einem Abenteuer, zu einem den jeden Rahmen sprengenden Ereignis. Musik am Puls der Zeit. Immer eine faszinierende Balance zwischen Emotionen und Intellekt anstrebend und damit die dramaturgische Spannungskurve hoch zu haltend.
Jörg Konrad