München: Ragnar Axelsson. Where the world is melting.
Ausstellung vom 15.Dezember 2021 bis 18. April 2022
Kunstfoyer, Versicherungskammer Kulturstiftung
Maximilianstr. 53, 80538 München
BIOGRAFIE
Ragnar Axelsson
Seit über 40 Jahren fotografiert Ragnar Axelsson (* 1958), auch bekannt als Rax, Menschen, Tiere und Landschaften in den entlegensten Regionen der Arktis, etwa in Island, Sibirien und Grönland. In kargen Schwarz-Weiß-Aufnahmen fängt er die elementaren Naturerfahrungen des Menschen am Rand der bewohnbaren Welt ein und macht die außergewöhnlichen Beziehungen zwischen den Menschen der Arktis und ihrer extremen Umgebung sichtbar – Beziehungen, die sich aufgrund nie da gewesener Klimaentwicklungen heute tiefgreifend und vielschichtig verändern. Von 1976 bis 2020 arbeitete Axelsson als Fotojournalist für die isländische Tageszeitung Morgunblaðið, zudem hat er in Lettland, Litauen, Mosambik, Südafrika, China und der Ukraine freiberuflich Aufträge übernommen. Seine Fotografien wurden in Zeitschriften wie LIFE, Newsweek, Stern, GEO, National Geographic, TIME und Polka abgedruckt und weltweit ausgestellt. Axelsson hat sieben Bücher in verschiedenen internationalen Ausgaben publiziert. 2020 wurde sein Buch Hetjur norðurslóða/Arctic Heroes veröffentlicht, das den Schlittenhunden Grönlands als Helden der Arktis gewidmet ist. Für den 2018 erschienenen Bildband Jökull/ Gletscher verfasste Ólafur Elíasson das Vorwort. Andlit norðursins/Das Gesicht des Nordens mit einem Vorwort von Mary Ellen Mark, kam 2016 heraus und gewann im selben Jahr den Isländischen Literaturpreis für das beste Sachbuch. Zu den weiteren Auszeichnungen, die Axelsson für seine Arbeit erhielt, zählen eine Reihe isländischer
Preise für Fotojournalismus, eine ehrenvolle Erwähnung beim Leica Oskar Barnack Award, der Grand Prize des Festivals Photo de Mer im französischen Vannes sowie die höchste Ehrung Islands, das Ritterkreuz des Falkenordens. Zurzeit arbeitet er an einem Dreijahresprojekt, mit dem das Leben der Menschen in allen acht arktischen Staaten dokumentiert werden soll. In dieser entscheidenden Zeit, in der die natürlichen und tradierten Gegeben- heiten ihrer Welt durch den Klimawandel unwiderruflich zerstört werden, legt Axelsson Zeugnis von der unmittelbaren und direkten Gefahr ab, die die Erderwärmung für ihr Überleben darstellt.
Die letzten Tage der Arktis
Fotografiert in Grönland zwischen 1987 und 2013
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Draußen auf dem Eis erscheint die Freiheit grenzenlos. Der Klang der Stille fühlt sich für die Ohren seltsam an. Das knackende Eis und der heulende Wind scheinen eine Geschichte zu erzählen, die man zwar hören, aber nicht verstehen kann. Seit Jahrtausenden unter den erdrückend kalten Klauen des Eises zu leben, wie die Inuit es tun, und tagtäglich ums Überleben zu kämpfen, ist eine gewaltige Leistung.
Ein Gefühl der Bedrohung liegt in der Luft. Pfeifend wirbelt der Wind den Schnee auf, sodass man kaum zwischen den Häusern hindurchsehen kann. Ein Gletschersturm, ein sogenannter Piteraq, zieht herauf. Er entsteht, wenn starke Winde von 3000 Meter hohen Berggipfeln herabwehen. Die kalte, schwere Luft rast den Gletscher hinab und beschleunigt wie ein riesiger unsichtbarer Fluss, der zum Meer hinunterschießt und auf seinem Weg nichts und niemanden verschont. In ihrer schlimmsten Form sind diese Stürme stark genug, um Häuser in ihre Einzelteile zu zerlegen. Für die Bewohner der grönländischen Ostküste haben sie oft verheerende Folgen.
Das Eis wird dünner, die Jagdsaison geht zu Ende. Eis, das früher einen Meter dick war, misst jetzt nur noch zehn Zentimeter. Das Meereisfeld, das sich hinzog, so weit das Auge reichte, ist jetzt offene See. Wie wird sich das Dasein in diesen Teilen der Welt entwickeln, sollte das Eis vollständig verschwinden? Es hat einen so großen Anteil am Leben der Menschen hier. Jahr für Jahr geht die Zahl der Jäger zurück, von der Jagd zu leben, wird immer schwieriger. Die Bewohner bangen um ihre Zukunft. Sie haben das Ende einer Gesellschaft vor Augen, deren Jagdtradition – die Grundlage ihrer Existenz – viele Tausend Jahre zurückreicht.
Ragnar Axelsson
Gletscher
Fotografiert in Island zwischen 2008 und 2018
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Die zerklüftete Beschaffenheit der Gletscherbrüche ist verstörend anzusehen, gleichzeitig aber auch beinahe schön. Tiefe Spalten und Wände aus reinem Eis erlauben es lediglich den Vögeln im Flug dorthin vorzudringen, wo der Gletscher gefrorene Klippen absprengt. Diese zerbrochene Welt ist ebenso unberührt wie die Oberfläche des Mondes. Aus der Luft betrachtet wirken einige Risse unschuldig, kommt man jedoch näher, blickt man in einen Abgrund. Die Vorstellung, man stünde auf dem Eis, ist unerträglich. Was vom Himmel aus klein erscheint, ist auf der Oberfläche monströs. Die weiße Wüste überlistet das Auge.
In der Nähe des Vulkans Öræfajökull erwacht ein Riese aus langem Schlaf. Er liegt auf dem Rücken und starrt nach oben. Vor Hunderten von Jahren ist er während eines Schneesturms eingeschlafen und bis heute nicht wieder aufgewacht. Sein Ausdruck ist bedrohlich, feindselig – vergleichbar mit den Köpfe auf den Osterinseln. Wie viele andere Riesen werden wohl noch unter Vatnajökull, einem der weltweit aktivsten Vulkangebiete unter Eis, aufwachen?
Rätselhafte schwarze Linien und Zeichen erscheinen auf dem Eis. Es scheint, als hätte jemand spaßeshalber magische Symbole über den gesamten Gletscher gezeichnet und niemandem ist es aufgefallen. Mit dem Vorwärtsdringen des Eises verformen sich die Runen zu grotesken Gesichtern. Ihr Ausdruck verändert sich je nach Lichteinfall und Richtung, aus der sie betrachtet werden. Diese irritierenden Bilder entstehen aus der Asche jahrhundertealter Ausbrüche. Eis aus dem Schnee des 13. Jahrhunderts, gefallen während der blutigen Schlachten des Sturlungaöld, bricht nun ins Meer ab. Bald schon wird der Gletscher diese Omen aus Asche der See überantworten.
Ragnar Axelsson
Kunstfoyer, Versicherungskammer Kulturstiftung | Maximilianstr. 53, 80538 München
Täglich 9:30 – 18:45 Uhr | Eintritt frei | Zutritt nur mit online-Reservierung