Obwohl Katerina Poladjan den Roman vor Ausbruch des Ukraine-Krieges geschrieben und in der Vergangenheit angesiedelt hat, kann man ihn auch als Beitrag zur Situation im heutigen Russland lesen.
Wie die Autorin eine an sich trostlose Szenerie in magische Poesie verwandeln kann, zeigt schon der erste Satz ihres Buches: „Tausende Werst oder Meilen oder Kilometer östlich von Moskau ragte das Skelett einer Radarstation in den Nachthimmel, schwach beleuchtet von den Lampen der Glühbirnenfabrik, die immer brannten.“ Mit wenigen Worten fängt sie die gewaltigen Dimensionen des Sowjetreiches ein und beschwört gleichzeitig eine Endzeitstimmung herauf.
Die Handlung des Buches konzentriert sich auf einen einzigen Tag im Leben der Bewohner einer Kommunalka, einer Art Zwangs-WG, irgendwo in Sibirien. Es ist der 11. März 1985, und aus allen Radios und Lautsprechern tönt von früh bis spät Chopins Trauermarsch, der als Leitmelodie den ganzen Roman grundiert. Der Tag markiert eine Zeitenwende. Der greise Staatschef ist gestorben. Ein gewisser Michail Gorbatschow wird am selben Tag sein Nachfolger werden, was aber noch niemand in der Kommunalka ahnt. Und doch liegt etwas wie Hoffnung in der Luft.
In einer einst eleganten, jetzt aber heruntergekommenen großbürgerlichen Wohnung sind wegen der überall herrschenden Wohnungsnot mehrere Parteien einquartiert. Fünf Kochherde stehen in der Gemeinschaftsküche, und an der Wand im Flur hängen die Klobrillen der Bewohner an ihren Haken. Einen Raum der Kommunalka teilen sich die vier Frauen einer Familie: die herbe, aber lebenslustige Urgroßmutter Warwara, die hübsche, sanfte Großmutter Maria Nikolajewna, die von schönen Kleidern und liebenswürdigen Männern träumt, und ihre zornige 20-jährige Tochter Janka. Sie verkörpert die junge, verlorene Generation der Sowjetunion und sehnt sich nach Freiheit und intensiven Gefühlen. Sie will eine andere Musik machen als den allgegenwärtigen Trauermarsch: Zukunftsmusik. Am Abend möchte sie in der Küche ein Punkkonzert veranstalten. Die drei erwachsenen Frauen sind berufstätig und kümmern sich abwechselnd um Jankas kleine Tochter. Die Männer der Familie sind abhanden gekommen oder waren nie da.
In locker komponierten Episoden, aus wechselnden Perspektiven, erzählt die Autorin von den Ängsten und Sehnsüchten ihrer Figuren und fängt damit die Atmosphäre in der späten Sowjetunion ein. Sie schildert, wie die Frauen mit der Mühsal und Tristesse des russischen Alltags zu kämpfen haben, mit der mangelnden Privatsphäre, dem täglichen Schlangestehen, der Bespitzelung und der Illusionslosigkeit. Und doch wirkt das Buch federleicht und nicht anklagend. Katerina Poladjan schlägt einen ganz eigenen, unverwechselbaren Erzählton an. Er ist traurig und komisch zugleich, verspielt und poetisch.
In einem Zimmer neben den Frauen lebt Matwej Alexandrowitsch, ein Ingenieur in geheimer staatlicher Mission, ein Apparatschik. An ihm zeigt die Autorin die Härte der Sowjetdiktatur und die erstaunliche Bereitschaft vieler Bürger, sich ihr gläubig zu unterwerfen. Als junger Mann wurde Matwej Opfer von Denunziation und einer staatlichen Strafaktion, dennoch hält er an der großen Idee fest und glaubt an die Eroberung des Kosmos durch die Sowjetunion. Dabei ist gerade er eine vielschichtige Figur. Seit vielen Jahren verehrt er auf eine altmodische, zarte Weise seine Mitbewohnerin Maria Nikolajewna. Er liebt die Poesie und spricht so gewählt, als käme er aus einem russischen Roman des 19. Jahrhunderts.
Überhaupt gibt es in „Zukunftsmusik“ zahlreiche Anspielungen auf die große Tradition der russischen Literatur, auf Dostojewski, Turgenjew, Tschechow und viele andere. Katerina Poladjan öffnet damit einen weiten Raum jenseits der engen Sowjetdoktrin.
Der tristen Realität des Sozialismus setzt sie im Roman eine phantasievolle, zunehmend surreale Welt entgegen, die an Bulgakows „Meister und Margarita“ erinnert. Dabei arbeitet sie mit starken Symbolen. In der Kommunalka gibt es ein Zimmer mit einem Loch in der Decke, durch das ein Bewohner davongeflogen ist, ein Symbol für Aufbruch und Freiheit. Jetzt sieht man den Himmel. Am Ende des Tages wird das verfallende Haus überraschenderweise abgerissen - ein eindrucksvolles Bild für den Untergang der Sowjetunion. Die junge Janka findet sich plötzlich in einer phantastischen Szenerie. Durch eine Tür blickt sie in eine verheißungsvolle Landschaft und ist „glücklich wie eine Genesende, die nach langer Krankheit zum ersten Mal nach draußen tritt“.
Katerina Poladjans schöner, melancholischer Roman macht froh und traurig zugleich. Beim Lesen ist man beglückt, einfach deshalb, weil er so gut ist. Gleichzeitig ist er deprimierend, denn was ist aus der Hoffnung auf Wandel, aus der Aufbruchstimmung in Russland geworden! „Jetzt sind wir da, wo wir auch vorher waren“ sagt die Autorin in einem Interview. Es ist „sehr traurig, dass wir es nicht geschafft haben, einen anderen Weg zu gehen.“
Lilly Munzinger, Gauting
Katerina Poladjan
"Zukunftsmusik"
S. Fischer