Nun gastierte am vergangenen Dienstag in Landsberg das Tübinger Landestheater mit José Saramagos „Die Stadt der Blinden“. Auch dem portugiesischem Nobelpreisträger geht es in seinem klaustrophobischen Roman, der dem Stück als Vorlage dient, eben um jene besondere Situation, die das Miteinander der Menschen durchleuchtet und auf eine gesellschaftlichsrelevante Probe stellt. Alles beginnt, in dem ein einzelner Mensch im Straßenverkehr ganz plötzlich sein Augenlicht verliert. Ein ihm Helfender wird kurz nach der persönlichen Begegnung, ebenfalls blind. Es ist wie eine Epidemie, die um sich greift und von der immer mehr Menschen in der namenlosen Stadt betroffen sind.
Die Gesetzeshüter internieren alle Opfer in einer alten, runtergekommenen psychiatrischen Klinik - ohne jede medizinische und soziale Betreuung - in unhaltbaren hygienischen Zuständen und rundum vom Militär bewacht. So entsteht unter den internierten Blinden eine hierarchische Struktur, die letztendlich in ein plakatives Unterdrückungssystems entartet. Die stärksten regieren das Miteinander brutal und voller Aggressionen, kontrollieren die Essensausgaben, stehlen Wertsachen, vergewaltigen hemmungslos. Erst die Frau des Augenarztes, die selbst noch sehend sich heimlich in das Irrenhaus geschlichen hat, beginnt gegen die Situation anzukämpfen. Sie verändert das Geschehen und die bitterböse Parabel lässt einen winzigen Funken Hoffnung aufglimmen.
Die einzelnen Figuren werden nicht mit Namen genannt. Nur Äußerlichkeiten und persönliche Tätigkeiten dienen der Ansprache, wodurch die zwischenmenschlichen Situationen dramaturgisch anonymisiert werden. Die Inszenierung von Dominik Günther, der zugleich auch Regie führt, lebt von der Dynamik des Schreckens, von der milchigen Abgetrenntheit des Bühnenbildes vom Zuschauerraum (Bühnenbild Sandra Fox). Die Wahrnehmung in einem Umfeld, in der das Unsichtbare sichtbar und das Sichtbare unsichtbar wird löst sich auf, macht einer Hilflosigkeit Platz. Das Ausgeliefertsein und die damit verbundene Angst ist die alles bestimmende Grundlage des Stückes, wirkt aber nicht völlig überzeugend. Zu starr geraten die Charaktere, zu holzschnittartig ihre Psyche. Auch der dröge Dico-Foxtrott, um die Verrohung der Emotionen akustisch zu untermalen, wirkt kindlich, nur wenig bedrückend.
Was bleibt ist auch die Frage, ob in derart schmerzhaften weltpolitischen Zeiten das beklemmende Szenario von der Bühne aus verstärkt werden muss. Nicht falsch verstehen: Sicher soll sich die Kunst mit dem Realen dieser Welt auseinandersetzen. Man darf dem Entsetzen natürlich nicht mit fröhlichem Einerlei begegnen! Aber rein plakative Assoziationen, zu Flüchtlingslagern, Pandemien, Foltergefängnissen sind zu wenig. Es geht auch darum, jeder Unmenschlichkeit und jeder Gewaltherrschaft kämpferisch wie überzeugend etwas entgegenzusetzen.
Jörg Konrad