Fürstenfeld. Dass das Tanzen eine Welt für sich ist, in der wiederum ganz eigene, individuell abgesteckte Ausdrucksformen existieren, Kenner sprechen hier von unterschiedlichen choreographischen Handschriften, wurde am Dienstag in Fürstenfeld besonders deutlich. Im Rahmen des DanceFirst-Festivals präsentierte das Hessische Staatsballett die Stücke „Timeless“ und „Untitled Black“, die in ihrer Ausführung und Wirkung kaum unterschiedlicher hätten ausfallen können. Gleichzeitig wurden mit den Aufführungen die Vielfalt und der weit gespannte Bogen dieser künstlerischen Diktion deutlich, auch wenn nicht jede Art der Umsetzung auf den Betrachter gleich ansprechend wirkt.
Xie Xins, eine der bedeutendsten Choreografinnen Asiens, eröffnete mit ihrem Auftragswerk „Timeless“ den Tanz-Abend betörend. Die Chinesin bewegt sich mit diesem Stück zwischen östlicher und westlicher Kultur, ein (auch politischer) Spagat, der in seiner Umsetzung jedoch kaum harmonischer hätte ausfallen könnte. Einfach weil sich Xie Xin in dieser Arbeit auf das Wesentliche des menschlichen Miteinanders konzentriert – egal welcher Kultur angehörend. Bei ihr geht es um die Empathie der Kommunikation, um Würde und Eleganz, um die Friedfertigkeit der Stille und eine transzendente Dynamik.
In weiten beigefarbenen Gewändern schienen die Tänzer über den Bühnenboden regelrecht zu gleiten. Es sind sinnliche Figuren, die etwas Unbestimmtes aber Anhängiges vermitteln, etwas magisches, wie Traumsequenzen, die die menschliche Spezies von einer sehr verführerischen, empfindsamen Seite zeigen. Trotz mancher Shaolin-Assoziationen, die das Stück aufwirft, sind die dynamischen Bewegungsabläufe mit- und umeinander von ausgeprägtem Respekt voreinander gekennzeichnet.
Unterlegt wird dieses feinfühlige getanzte Schauspiel von kontemplativer Musik, komponiert von Sylvian Wang. Die reduzierte, allein einer klanglichen Ästhetik verpflichtende Tonkunst wirkt im tänzerischen Kontext fast surreal. Der Puls dieser Musik stammt von den wogenden, mäandernden, sich vereinenden und wieder trennenden menschlichen Leibern auf der Bühne. Ein anmutiges, leichtfüßiges und doch Haltung bekennendes Werk.
Schnitt. Die fast meditativ versunkenen Klangbilder machen nach der Pause einem lauten und treibenden rhythmischen Tumult Platz. „Untitled Black“, erarbeitet von der Israelin Sharon Eyals, ist genau das Gegenteil dessen, was man als zart, poetisch und diskret benennt. Zumindest nach den Maßstäben und im Vergleich mit dem vorigen „Timeless“.
Nun sind die rhythmischen Grundlagen in Form von Techno und Drum&Bass (Musik: Ori Lichtik) deutlich zu hören und tief in sich zu spüren. Die Bühne wirkt plötzlich wie der Schauplatz einer feindlichen Übernahme. Das Leben ist hier hart und roh, besteht aus einer strikten Aneinanderreihung von Bewegungselementen. Teilweise zwar minimalistisch durchorganisiert, dabei die Gedanken zur aktuell gesellschaftlich geführten KI-Diskussion deutlich spürend. Das vorige behutsame Miteinander ist hier einer stark individuellen Ausrichtung gewichen. Alles ist im (individuellen) Fluss, getreu dem Motto: Wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht. Insofern besitzt „Untitled Black“ auch einen aufklärerischen Focus – im Sinne einer objektiven Zustandsbeschreibung.
Dieser Abend glich letztendlich einem Wechselbad der Gefühle und faszinierte in der Umsetzung derart unterschiedlicher Vorgaben durch das Hessische Staatsballett.
Jörg Konrad