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43. Sara Mesa „Eine Liebe“
44. Siegfried Schmidt-Joos (Hrsg.) „Jazz-Echos aus den Sixties“
45. Lucy Fricke „Die Diplomatin“
46. Robert Cremer „Die Geheimsprache des Blues“
47. Lea Ypi „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“
48. James Ellroy „Allgemeine Panik“
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Freitag 21.10.2022
Sara Mesa „Eine Liebe“
Sara Mesa ist, laut Klappentext des Romans „Eine Liebe“ und den Mitteilungen des Verlages Wagenbach, in Spanien so etwas wie ein literarischer Superstar. Dieser Roman wurde von der größten Tageszeitung „El País“ gar zum besten Buch des Jahres gekürt.
Die Geschichte, die die aus Madrid stammende Autorin erzählt, ist dabei ganz schlicht und klingt inhaltlich und atmosphärisch recht vertraut.
Natalie („Nat“), von Beruf Übersetzerin, flüchtet aufgrund einiger Schwierigkeiten in ihrem persönlichen Umfeld und Berufsleben, von der Großstadt aufs Land. Hier, in einem alten, heruntergekommen Haus, will sie zur Ruhe kommen, ihre Situation analysieren und vielleicht auch einen Neuanfang starten. Sie möchte sich in der scheinbaren Einsamkeit neu orientieren.
Doch schon im Verhalten der Bewohner des kleinen Ortes, der sinnigerweise La Escapa, zu deutsch Die Flucht heißt, spürt sie eine gewisse Distanz, die bis zur Ablehnung ihrer Person reicht.
Es beginnt damit, dass das Haus in dem sie lebt defekt und voller Ungeziefer ist und der Besitzer sich weigert, vorhandene Mängel zu beheben. Stattdessen fühlt sie sich von ihm und seiner aufdringlichen Art bedrängt. Trotzdem übernimmt sie als persönlichen Schutz und gegen die Einsamkeit einen schlecht erzogenen Hund von ihm.
Unsicherheit und Missverständnisse bestimmen ihren Alltag, der auch durch den Kontakt zu einem „Althippie“, der in der Nachbarschaft lebt, keine wirkliche Besserung erfä. Erst als ein „Deutscher“, wie er fälschlicherweise genannt wird, auftaucht, ihr handwerkliche Hilfe gegen Sex anbietet, verändert sich ihr Leben deutlich.
Sara Mesa erzählt diese Geschichte sehr sparsam, beschreibt selbst das Obsessive der Handlung in einem eher nüchternen Sprachduktus. Sie beschränkt sich auf das Wesentliche, dringt bei den Beschreibungen Nat Gedankenwelt nicht analytisch in deren Psyche vor. Man könnte meinen, sie lässt die Geschichte laufen und ist selbst gespannt, wie sich Nat behauptet – oder eben nicht.
„Nat“ scheint die Kontrolle über ihr Leben langsam aber sicher wieder zu erlangen, bis sich die Situation wieder völlig ändert.
Jörg Konrad

Sara Mesa
„Eine Liebe“
Wagenbach
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Mittwoch 28.09.2022
Siegfried Schmidt-Joos (Hrsg.) „Jazz-Echos aus den Sixties“
Fast wäre es beim 10. Deutschen Jazzfestival zu einem Skandal gekommen. Gelächter, ironischer Beifall, Zwischenrufe („Aufhören“) unterbrachen die Musik. Einige Besucher verließen mitten im Konzert den Saal. Der Leiter der Gruppe, die gerade spielte, musste mit einer Geste das Publikum um Geduld bitten. Die bewies es dann auch, aber in den erleichterten Schlussbeifall mischten sich Buh-Rufe.“ So schrieb Manfred Miller 1966 in der „Gondel“ über den Auftritt der Wolfgang Dauner Band in Frankfurt am Main. Die „Gondel“, ein monatlich erscheinendes Magazin, das über Jahre die 8-seitige Beilage „Jazz-Echo“ vertrieb, beinhaltete Pinups, Erotik, Unterhaltung und Informationen aus der Film- und Modewelt. Auf den Weg gebracht hatte diese Beilage Joachim-Ernst Berendt Mitte der 1950er Jahre, damals unter dem Pseudonym Joe Brown. Die Vermittlung von Jazz eben auch außerhalb einschlägiger Fachzeitschriften war für ihn von außergewöhnlicher Dringlichkeit.
So erschienen unter dem Dach dieses (Männer-)Magazins hochinteressante Artikel über Jazzstile und deren Protagonisten, über Festivals zeitgenössischer Musik und über neue Entwicklungen in der Szene.
Siegfried Schmidt-Joos, der übrigens die Redaktion des „Jazz-Echos“ 1959 übernahm, hat mit dem vorliegenden Buch viele dieser Artikel zusammengefasst und damit ein Stück bundesrepublikanischer Jazzgeschichte neu zugänglich gemacht. So lässt sich aus heutiger Perspektive die Wirkung und Rezeption von Instrumentalisten wie Ornette Coleman (1965), Don Cherry (1965), Sonny Rollins (1963), John Lee Hooker (1963) oder Manfred Schoof (1967) nachvollziehen. Es sind, nicht nur aus der Gegenwart betrachtet, spannende Texte, die mit Sachverstand, Toleranz und Leidenschaft die musikalische als auch gesellschaftliche Aufbruchstimmung jenes Jahrzehnts zum Ausdruck bringen. Zu den Autoren gehören, neben jenem oben erwähnten Manfred Miller und dem Herausgeber der „Jazz-Echos aus den Sixties – Kritische Skizzen aus einem hoffnungsvollem Jahrzehnt“ auch der französische Musiker und Journalist Mike Zwerin, der US-amerikanischer Journalist, Historiker und Jazz-Kritiker Nat Hentoff, der deutsche Jazzspezialist Werner Burkhardt, Ingolf Wachler und natürlich Joachim-Ernst Behrendt. All diesen Autoren sind in der Lage, Musik in einem flüssigen und wunderbar zu lesenden Schreibstil zu vermitteln. Bedenkt man zudem, dass in den Jahren des Erscheinens dieser Texte Jazz noch als „Disharmonie, Degeneration der Musik, Musik für Primitive, Entartung der Kunst, Zerreißprobe für die Nerven“ öffentlich verfemt wurde.
Siegfried Schmidt-Joss, einer sehr großen Leserschaft bekannt geworden als Herausgeber des legendären ersten „Rock-Lexikon“ im Jahr 1973, sowie folgender überarbeiteter Auflagen, wurde 1936 in Gotha/Thüringen geboren. Er gründete noch in der DDR einen der ersten offiziellen Jazzclubs (Halle an der Saale), flüchtete 1957 in die Bundesrepublik, studierte unter anderen bei Carlo Schmid und Theodor W. Adorno Kulturwissenschaften. Er arbeitete über Jahrzehnte als Musikredakteur für das Radio (Radio Bremen, RIAS u.a.), moderierte Musiksendungen im Fernsehen und schrieb als Autor für viele deutschsprachige Zeitungen (Spiegel, Twen, Brigitte, Fono-Forum, Jazzpodium u.v.a.). Schmidt-Joos widmete sich mit gleicher leidenschaftlichen Hartnäckigkeit den Phänomen des Rock und Pop und darf heute als einer der wichtigsten Chronisten dieser Kulturformen benannt werden.
Jörg Konrad
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Montag 12.09.2022
Lucy Fricke „Die Diplomatin“
Es ist nicht erstaunlich, dass sich die Autorin Lucy Fricke in der Türkei nicht mehr willkommen fühlt und dass sie so bald nicht mehr nach Istanbul reisen will, wie sie in einem Interview erzählt. Denn in ihrem neuen Roman „Die Diplomatin“ übt sie unverblümte Kritik an dem türkischen Präsidenten und seinem Regime.
Lucy Fricke hat viele Monate als Stipendiatin der deutschen Kulturakademie in Istanbul gelebt, direkt neben Erdogans Sommerpalast, in einer Atmosphäre ständiger Überwachung. Für ihren Roman hat sie zahlreiche Interviews und lange Gespräche geführt und sich intensiv mit den Verhältnissen in der Türkei und mit dem diplomatischen Betrieb befasst.
Ihr Buch ist aus Sicht einer deutschen Diplomatin geschrieben, einer ehrgeizigen Frau um die 50, die sich in einer weitgehend von Männern dominierten Berufswelt behauptet. Fred, wie sie von ihren Freunden genannt wird, musste für ihre Karriere auf weit mehr verzichten als ihre männlichen Kollegen, die meist von ihren Ehefrauen begleitet werden. In einem Beruf, in dem man alle paar Jahre in einem anderen Land eingesetzt wird, ist es für eine Frau fast unmöglich, eine Familie zu gründen oder eine feste Partnerschaft einzugehen. Der Preis für Freds steilen Aufstieg zu einer Repräsentantin ihres Landes ist Einsamkeit.
Lucy Fricke schickt ihre Protagonistin zunächst auf einen ruhigen Posten in Montevideo. „Ich stehe da rum und bin nur Deutschland.“ Doch als die Tochter einer einflussreichen deutschen Zeitungsmagnatin in Uruguay entführt wird und Fred sich an ihrem Tod mitschuldig fühlt, ist sie erschüttert und verunsichert.
Von einem befreundeten Kollegen hatte sie gelernt, dass die wichtigste Eigenschaft eines Diplomaten ist, geduldig zu sein, sich nicht zu sehr einzumischen und die Dinge nicht zu sehr an sich heranzulassen. Aber als sie nach den dramatischen Ereignissen in Uruguay in die Türkei versetzt wird, ist sie eine Andere geworden. In Istanbul verliert Fred ihre Geduld.
Zunächst ist sie überwältigt von der „herzerschütternden Schönheit“ Istanbuls. Bald aber wird sie konfrontiert mit einer langen Liste von Namen türkischer Politiker, Künstler und Künstlerinnen, Journalistinnen und Journalisten, die hinter Gefängnismauern verschwunden sind.
Lucy Fricke verdeutlicht das autoritäre System Erdogans an drei fiktiven Figuren, die sich an realen Fällen orientieren: Ein Berliner Student kurdischer Abstammung, der noch nie in der Türkei war, wird bei der Einreise verhaftet, als er seine Mutter in einem Istanbuler Frauengefängnis besuchen will. Der Vorwurf an ihn lautet: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.
Seiner Mutter, einer deutsch-kurdischen Kunsthistorikerin und Kuratorin von Ausstellungen, wird Terrorpropaganda vorgeworfen. Und da ist noch ein deutscher Journalist, mit dem Fred eine Affäre beginnt. Er hat über den türkischen Geheimdienst und seine Verflechtungen mit der BRD recherchiert. Auch ihm droht Gefängnis wegen Hochverrats.
Zunehmend verzweifelt versucht Fred, den Dreien zu helfen und sie vor dem Zugriff der Staatsgewalt zu schützen. Dabei erlebt sie die Aussichtslosigkeit diplomatischer Bemühungen in einem Land, das sich zwar einen demokratischen Rechtsstaat nennt, in dem aber nackte Willkür herrscht. In einem Land, in dem es keine Meinungsfreiheit und keine Gewaltenteilung gibt. In dem unliebsame Menschen ohne ordentliche Gerichtsverfahren in Gefängnissen gefoltert und gebrochen werden, in dem keine unabhängige Justiz existiert, in dem die Richter korrupt sind oder durch Drohungen gefügig gemacht werden. Da bleibt den Diplomaten eigentlich nur müde Resignation oder die Flucht auf den Tennisplatz. Auch von der Bundesregierung erfahren sie wenig Unterstützung. Die deutsch-türkischen Beziehungen sollen nicht zu sehr belastet werden, denn die Türkei wird gebraucht, um die EU-Außengrenzen zu schützen.
Doch während ihre Kollegen auf die nahe Rente warten, wird Fred wütend. Ihr Vorbild ist eine junge türkische Opferanwältin, die sich nicht entmutigen lässt. Der spannende Roman mündet in einen fulminanten Schluss. In ihrem dringenden Wunsch, Menschen zu retten, übertritt Fred die Grenzen der Legalität.
Die Kunst der Schriftstellerin Lucy Fricke liegt in ihrer präzisen Sprache, den pointierten Dialogen, ihrem trockenen, manchmal auch bitteren Humor. Sie hat in einer Zeit, in der die Demokratie überall in Gefahr gerät, ein hochaktuelles Buch geschrieben. Darin erzählt sie von einem Land am Rande Europas, das immer mehr zu einer Diktatur wird. Und sie beschreibt die Entwicklung einer Karrieristin zu einer engagierten Frau, die sich mit ihrem engen Handlungsspielraum als Diplomatin nicht mehr abfinden will.
Lilly Munzinger, Gauting

Lucy Fricke
„Die Diplomatin“
Claassen
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Mittwoch 07.09.2022
Robert Cremer „Die Geheimsprache des Blues“
Dieses Buch dürfte ein literarisches Fest für all jene sein, die dem Leitstern des Blues folgen. Aber auch für die Leser, die den Blues in seiner ganzen Schönheit und Bedeutung sich erst noch erschließen müssen ist „Die Geheimsprache des Blues“ ein enormer Gewinn. Auf knapp 850(!) Seiten beschäftigt sich Robert Cremer intensiv mit dieser ältesten Variante zeitgenössischer populärer Musik. Denn der Blues ist die Grundlage all dessen, was unter Jazz und Rock'n Roll, Gospel und Soul, Pop und Hip Hop bis heute gespielt wird. Ohne den Blues – ja, klänge die Gegenwart völlig anders.
Cremer fokussiert seine Auseinandersetzung mit dieser im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in den Südstaaten der USA entstandenen Musikform speziell auf deren Texte. „Die Sprache des Blues ist bemerkenswert anspruchsvoll, wenn man bedenkt, dass die Texte von Musikern verfasst wurden, die nie eine Schule besucht haben“, schreibt Bobby Rush, fast 90jähriger Multiinstrumentalist, Sänger und Komponist des Blues, in einem Vorwort. Dann folgen zwölf Kapitel, in denen Cremer die Hintergründe und Anliegen der Texte von namenlosen Protagonisten des Blues und späteren Superstars beschreibt. Unter Überschriften wie „Wenn ich kein Unglück hätte, hätte ich überhaupt kein Glück“, „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“ oder „Schwarzer Humor mit Schwarzem Gesicht“ pflügt der Autor die textlichen Wurzeln des Blues ans Tageslicht. Er zeigt auf, dass sich die Musiker bei den Interpretationen der Lieder nicht unbedingt an die Originaltexte gehalten haben und halten, sondern momentane Stimmungen und Befindlichkeiten inhaltlich spontan einbauen. Dabei geht es um Armut, Unglück, Trauer, Sexualität, die kurzen Momente des Glücks und die großen wie die kleinen Visionen im Leben.
Doch die Musiker des Blues haben ihre ganz individuelle Art, die Lebensinhalte und Emotionen auszudrücken. Hier spielen grammatikalische Varianten eine entscheidende Rolle, die umgangssprachliche Ausdrucksweisen (Slang) sind maßgeblich und natürlich das historische Verständnis, die soziokulturellen Entwicklungen von der Verschleppung der Afrikaner nach Amerika bis hin zu ihrem heutigen Status in der amerikanischen Gesellschaft.
Cremer hat für „Die Geheimsprache des Blues“ etliche Texte ausgewertet, von denen ein Großteil im Buch nachzulesen sind. Zudem beinhaltet der Band vierzehn Seiten einer ausgewählten Diskographie des Blues, die das wichtigste selbst zum Ausdruck bringt: Die Musik!
Robert „Bob“ Cremer ist ein ausgewiesener Fachmann in Sachen Blues. Er lebte Jahrzehnte in Chicago und wuchs regelrecht in den Bluesclubs der Stadt auf. Dort erlebte er all die Großen (und namenlosen) des Blues, pflegte persönliche Kontakte zu ihnen und beschäftigte sich intensiv mit ihrer Kunst. Später ging er als Journalist nach China und berichtete von dort über Mao und die dortige Kulturrevolution. Immer mit im Handgepäck: Bluesplatten. Zurück in die USA entwickelte er das erste von einer Universität produzierte Kabelfernsehen. Außerdem leitete er einen Radiosender.
1992 kam er nach Deutschland, arbeitete bei Siemens und an der Universität Bayreuth. Heute lebt Robert Cremer in Bamberg.
Jörg Konrad

Robert Cremer
„Die Geheimsprache des Blues“
Edition Olms
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Mittwoch 17.08.2022
Lea Ypi „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“
Eigentlich wollte Lea Ypi, die heute politische Philosophie an der London School of Economics lehrt, eine theoretische Abhandlung über die unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit schreiben. Doch, wie sie selbst sagt, aus den Ideen wurden Menschen. Und so erzählt sie in „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ in einer glasklaren Sprache, mit Witz und Empathie, von ihrer Kindheit und Jugend im sozialistischen Albanien der 1980er und 90er Jahre. Sie zeigt in ihrem spannend zu lesenden Memoir, wie das politische System ihr eigenes Leben und das ihrer Familie entscheidend geprägt und alle Aspekte des Alltags durchdrungen hat.
Das Buch beginnt mit einer symbolträchtigen Szene: Als zehnjähriges Mädchen, im Jahr 1990, gerät Lea in eine Horde wütender Demonstranten, die „Freiheit“ und „Demokratie“ skandieren. Sie flüchtet sich zum Bronzedenkmal des großen Stalin. Wie sie von ihrer Lehrerin weiß, hat er die ganze Welt inspiriert und Kinder geliebt. Doch als Lea nach oben blickt, erschrickt sie: Stalin hat keinen Kopf mehr. Er wurde ihm von Demonstranten abgeschlagen.
Das kleine Albanien galt vor dem Kollaps des Ostblocks als „weißer Fleck Europas“, weil sich das Land seit dem Zweiten Weltkrieg weitgehend isoliert hatte und von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde. Enver Hoxha errichtete ein stalinistisches Schreckensregime; politische Säuberungen, Morde, Folter waren an der Tagesordnung.
Doch Lea Ypi wusste als Kind und Heranwachsende von all dem nichts. In ihrem Buch erzählt sie mit leiser Ironie aus der kindlichen Perspektive von ihren unbeschwerten ersten Jahren. Lea ist eine sehr gute Schülerin und eine eifrige Sozialistin. Sie glaubt ihrer Lehrerin nicht nur, dass der Lehrer von Marx „Hangel“ hieß, sondern auch, dass sie in einem der freiesten Länder der Welt lebt, in dem der wahre Sozialismus weitgehend verwirklicht ist, in dem es kaum Gier und Neid gibt, weil alle Menschen gleich sind.
Dennoch spürt Lea, dass sie anders ist als ihre Freundinnen. Ihre Großmutter spricht französisch mit ihr, und als Enver Hoxha im Jahr 1985 stirbt, kann sie nicht verstehen, warum ihre Familie nicht so trauert wie alle anderen. Sie erreicht nicht einmal, dass ihre Eltern ein gerahmtes Bild von Onkel Enver im Wohnzimmer aufstellen.
Lea Ypis Eltern stammen von reichen Großgrundbesitzern, Adeligen und Intellektuellen ab, sozialen Schichten, die in allen sozialistischen Ländern verhasst waren. Leas Urgroßvater Xhafer Ypi war vor Hoxhas Machtergreifung albanischer Ministerpräsident. Sein Sohn, Leas Großvater, musste deshalb 15 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbringen. Ihre geliebte Großmutter, mit der sie aufwächst, war Nichte eines Paschas im Osmanischen Reich. Viele ihrer Verwandten waren im Kommunismus hingerichtet worden. Auch Leas Eltern leiden unter dem politischen System. Vor allem ihr Vater lebt in ständiger Angst und Sorge, und beide Eltern müssen in ungeliebten Berufen arbeiten.
Doch um sich selbst und ihre Kinder zu schützen, erzählen sie Lea nichts von ihrer Herkunft. Sie lassen sie in dem Glauben, dass sie nur zufällig denselben Nachnamen trägt wie der ehemalige Ministerpräsident und Vaterlandsverräter. Sie haben sogar eine Art Geheimcode entwickelt: wenn sie von einem Freund oder Verwandten erzählen, er besuche die Universität, meinen sie damit, er sitze im Gefängnis. Und wenn jemand von der Universität geflogen ist, soll das heißen, dass sie oder er sich umgebracht hat.
Erst spät, als auch in Albanien der Sozialismus zusammenbricht, erfährt Lea die Wahrheit: sie hat in einer Lüge gelebt. Durch diese Erkenntnis wird – symbolisch -ihrem Idol Stalin brutal der Kopf abgeschlagen. Lea stürzt in eine tiefe Identitätskrise. Und das Land Albanien schlittert in Anarchie und Chaos.
Lea Ypi verharmlost weder den Sozialismus noch den Kapitalismus. Die Hoffnungen vieler Menschen in Albanien auf Freiheit, Demokratie und ein besseres Leben werden nach der Wende enttäuscht. „Das hat man von zu viel Freiheit“ sagt Leas Großmutter, als auch in ihrer Stadt Schleuser, Drogendealer und Zuhälter an Einfluss gewinnen. Strukturreformen, die die Marktwirtschaft ankurbeln sollen, erzeugen ein Heer von Arbeitslosen. Als die Hälfte der albanischen Bevölkerung, darunter auch Leas Familie, all ihre Ersparnisse an unseriöse Schneeballfirmen verliert und das Finanzsystem zusammenbricht, kommt es zum Bürgerkrieg und einer beispiellosen Auswanderungswelle.
Lea Ypis Resümee lautet: Nicht nur der Sozialismus, der den Menschen vorschreibt, was sie zu denken und zu tun haben, ist repressiv. Sondern auch eine Gesellschaft, in der individuelle Freiheit und soziale Gerechtigkeit nicht so miteinander vereinbart werden, dass tatsächlich alle Menschen gleiche Entfaltungsmöglichkeiten haben, in der es weiter vererbte Privilegien und bewusstes Ausblenden von Ungerechtigkeit gibt. Freiheit muss vor allem gesellschaftlich verstanden werden.
Lilly Munzinger, Gauting

Lea Ypi
„Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“
Suhrkamp
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Mittwoch 03.08.2022
James Ellroy „Allgemeine Panik“
Wer Krimis mag, muss nicht unbedingt James Ellroy mögen. Und wer um Krimis generell einen weiten Bogen macht, der könnte an dem Amerikaner wiederum große Freude haben. Denn obwohl Ellroy seinen schonungslosen Stoff aus dem kriminellen Milieu filtert, sind seine Bücher - hauptsächlich im Umfeld von Los Angeles der 1950er Jahre angesiedelt - weit mehr als nur die Beschreibung von Verbrechen. Ellroy ist ein Chronist der Zeit, ein Autor, der gesellschaftliche Themen wie nebenbei abhandelt und damit ein (oft erschreckendes) Bild der amerikanischen Gesellschaft entwirft. Romane wie „Die schwarze Dahlie“, „Stadt derTeufel“ (verfilmt als „L.A. Confidentuial“) oder „Die Rothaarige“ (autobiographischer Text) sind auch literarisch auf hohem Niveau angesiedelt und außergewöhnlich komplex.
„Allgemeine Panik“ ist nun Ellroys zweiundzwanzigste Veröffentlichung und wird, wie einige seiner Vorgänger, einem weit zurückliegenden Zitat der Süddeutschen Zeitung absolut gerecht: „Ellroy ist der wohl wahnsinnigste unter den lebenden Dichtern und Triebtätern der amerikanischen Literatur.“
Leider geht diese Einschätzung bei „Allgemeine Panik“ auf Kosten der Handlung, bzw. der Dramaturgie des Textes. Fred Otash, die Hauptfigur des Buches mit klaren Bezügen zu einer realen Figur gleichen Namens, der als Polizist, Privatdetektiv und Autor, sein Geld hauptsächlich mit Intrigen, Korruption, Bestechung, Erpressung und deren Veröffentlichung in Klatschmagazinen verdiente, schmort seit 28 Jahren im Fegefeuer. Übrigens diente diese Gestalt dem Privatdetektiv Jake Gittes in Roman Polanskis Film „Chinatown“ (gespielt von Jack Nicholson) als Vorlage.
In Ellroys Roman soll jener Otash in Form einer Autobiographie Beichte ablegen – um vielleicht doch noch ins Paradies zu gelangen. Und hier beginnt Ellroy aufzuzählen, welche Skandale Otash inszenierte, welche Privatheiten von welchen Berühmtheiten er auf schmierigste und abstoßendste Art und Weise im Boulevardmagazins „Confidential“ veröffentlichte. Brutalität, Sexismus, Rassismus wiederholen sich auf den Seiten stakkatohaft und gipfeln in Otashs Bekenntnis: „Ich war der Höllenhund, vor dem ganz Hollywood kuschte. Ich war der Mann, der um all die kranken Sex-Geheimnisse wusste, auf die ihr irren Irdischen so scharf seid.“
Der Leser wird mit privaten Einzelheiten und erfundenen Verfehlungen und Affären aus dem Leben von Prominenten wie John F. Kennedy, Liz Taylor, Burt Lancaster, Rock Hudson, James Dean, John Wayne, Barbara Stanwyck und vielen vielen anderen konfrontiert. Diese Aneinanderreihung von unappetitlichen und letztendlich schwachen Konstrukten sind auf Dauer etwas eintönig und in ihrer Krudelität beinahe förmlich. Fast verpasst der Leser dann den zweiten Teil des Romans, in dem Ellroy den Fall des 1960 hingerichteten Gewalttäters Caryl Whittier Chessman und seinen kriminellen Machenschaften um den James Dean-Klassiker „Denn sie wissen nicht was sie tun“ beschreibt. Hier läuft Ellroy fast wieder zu gewohnter Größe und Genialität auf und kann einiges des zuvor etwas angeschlagenen literarischen Porzellans wieder kitten.
Jörg Konrad

James Ellroy
„Allgemeine Panik“
Ullstein
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Autor: Siehe Artikel
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