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25. Erland Dahlen „Bones“
26. Mahsa Vahdat & Skrug „Braids Of Innocence“
27. matthias rüegg „Das blaue Klavier“
28. Daniel Lanois „Player, Piano“
29. Pia Davile & Linda Leine „Irgendwo auf der Welt“
30. Vor 48 Jahren: Miles Davis „Big Fun“
Dienstag 27.12.2022
Erland Dahlen „Bones“
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Vielleicht gehört der Norweger Erland Dahlen zu den derzeit wichtigsten, weil ganzheitlichen Schlagwerkern. Hinter seinen Trommeln, Gongs, den Becken und Schiffsglocken, den Bongos und Marimbas, dem Metallophon und der „singenden Säge“ sitzend, entwirft der 51jährige perkussive Tagträume von bizarrer Schönheit. Es sind kleine Schlagzeugsinfonien, die er entwickelt, perkussive Herzkammermusik, endgrenzter, manchmal wild stolpernder Seelenpuls. Bei Dahlen verliert das Schlagzeug endgültig seine Stellung als Begleitinstrument.
Bones“ enthält sechs Kompositionen zwischen vier und acht Minuten. Und jede einzelne dieser Kompositionen hat ein etwas anderes Konzept, ist speziell aufgebaut. Doch alle besitzen einen anfänglich etwas zurückhaltenden Flow, der mit der Zeit an Fahrt aufnimmt, anschwillt, dessen Sound sich permanent verdichtet, der beunruhigt und letztendlich beglückt. Ausgelassenheit und Disziplin sind die Intentionen, um derartig gegensätzliche Motive zu gestalten. Sie transportieren in ihrer Dramaturgie berührende Emotionen, klingen mal wie perkussiver Postpunk, dann wieder wie eine Ambient-Nachricht aus dem Kosmos oder wie ein stilles, berührendes Liebeslied, gespielt in einer dunklen Nacht weit draußen am Waldrand. Dabei ist alles in einem ständigen sich verändernden, ergänzenden, verspielten Fluss.
Man verliert schnell den Überblick, welche Schlaginstrumente im Einsatz sind, da Dahlen an den Instrumenten die Aggregatzustände der Rhythmen förmlich wechselt. Doch alles was er perkussiv erzählt, kommt letztendlich aus der Stille – und dorthin verflüchtigt sich seine Musik auch wieder. Was bleibt ist ein aufwühlender Nachklang.
Jörg Konrad

Erland Dahlen
„Bones“
(Hubro, 2020)
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Donnerstag 15.12.2022
Mahsa Vahdat & Skrug „Braids Of Innocence“
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Der Titel „Braids Of Innocence“ heißt soviel wie „Zöpfe der Unschuld“ und der Text dieses Songs erzählt eine reale Geschichte, die Mahsa Vahdat in ihrer Kindheit erlebt hat. Im Alter von elf Jahren wollte sie mit ihrer Mutter den Onkel besuchen, der in Teheran wegen politischer Aktivitäten inhaftiert war. Kurz nach der islamischen Revolution war verfügt worden, dass alle Frauen und Mädchen ab 9 Jahren bestraft werden, wenn sie keine Kopfbedeckung tragen. Mahsas Mutter hat ihr Zöpfe geflochten, wodurch sie jünger aussah und so ins Gefängnis eingelassen wurde. Für ihr Onkel und andere Gefangene, die sich hinter hohen Glaswänden befanden, waren diese Zöpfe ein Symbol der Freiheit.
Eine Geschichte, die sich im Jahr 1984 zutrug und die heute eine unglaubliche Aktualität besitzt.
Mahsa Vahdats gesamtes Album ist ein Manifest der Erhabenheit und des Stolzes, es ist eine Musik, des Kampfes, der Anmut, der Schönheit und der Sehnsucht und der Hoffnung. Die Aufnahmen zeichnen sich durch eine sparsame Instrumentierung aus, in der neben Vahdats Stimme nur die Harfenistin Ellen Bødtker als Solistin heraussticht. Zudem beeindrucken die Songs durch die lautmalerischen Soundlandschaften des norwegischen Chores Skruk. Die Texte von ihnen kommen atmosphärischen Klanggemälden nahe, die imaginäre, sakrale Räume zu erschaffen scheinen. Sie projizieren Atmosphären von klagender und hoffender Schönheit. So werden aus den Songs keine provozierenden Protestlieder, es entsteht eine Art poetischer Reflexion, die als Summe der gelebten Vergangenheit, mit allem Leid und aller Freude, und dem Blick in eine befreite Zukunft musikalisch zu verstehen ist. Mit einer berührenden und beseelten Stimme erzählt die persischen Sängerin Lebens- und Landesgeschichten. Keine Resignation – nirgends. Stattdessen Zukunftsglaube.
Jörg Konrad
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Freitag 09.12.2022
matthias rüegg „Das blaue Klavier“
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matthias rüegg ist Schweizer mit Wohnsitz Wien. Hier hat der Komponist und Pianist in den letzten Jahrzehnten Jazz-Geschichte geschrieben, in dem er einer der interessantesten und herausfordernsten europäischen Großformationen vorstand. Das Vienna Art Orchestra wurde bis zu seiner Auflösung 2010 von Avantgardisten weltweit geschätzt und stand gleichzeitig für Humor und Unterhaltung in der Musik. Ein radikales Improvisationskollektiv, das swingen und grooven konnte und ebenso Kompositionen aus Jazz und Klassik auf hinreißend, unkonventionelle Art interpretierte.
Seit einigen Jahren nun beschäftigt sich rüegg mit Kunstliedprogrammen, wobei „Das blaue Klavier“ schon sein fünftes diesbezügliches Unternehmen ist. Es handelt sich um einen postromantischen Liederzyklus, in den der Komponist kammermusikalische Entwicklungen im Klavierspiel der letzten Jahrhunderte hat mit einfließen lassen. Jazzakkorde wollte er bewusst vermeiden.
Die einzelnen Kompositionen beinhalten deutschsprachige Gedichte aus dem 18.-, 19.- und 20. Jahrhundert, die ausschließlich von Musik handeln. So von Marie von Ebner Eschenbach, Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke und natürlich das Titel gebende Stück „Mein blaues Klavier“ von Else Lasker-Schüler. Am Klavier der achtzehn Lieder begleitet die 2008(!) geborene Soley Blümel den österreichischen Bariton Benjamin Harasko.
Der zweite Teil der ersten CD gehört dann matthias rüegg und seiner Band samt Solisten und Lia Pale. Hier hat der Komponist elf der Lieder noch einmal überarbeitet und für eine „größere“ Besetzung arrangiert. Die Texte sind ins Englische übertragen und gleich klingt alles wie aus einer anderen Zeit kommend, stilistisch zwischen Chanson und Jazz changierend.
Die zweite CD enthält dann Solo-Klavier-Stücke von matthias rüegg, die er für die türkisch-aserbaidschanische Pianistin Sabina Hasanova geschrieben hat. Es sind Bearbeitungen von Mozart, Liszt und Satie. Die letzten fünf Kompositionen („Five Little Figures Out Of My Dreams“) gehören dann wieder Soley Blümel, in der, wie rüegg sagt „ ...alle ihre Lieblingstiere jeweils einen Satz bekommen haben ….“).
„Das blaue Klavier“ enthält somit viel Musik, die einmal mehr das große Können des Ausnahmemusikers, Komponisten und Arrangeurs zum Ausdruck bringen. Es zeigt seine innere, kreative Freiheit. Sein Hang hin zu größeren ungewöhnlichen Projekten ist ebenso zu spüren, wie seine Begeisterung für die kleine Form und natürlich sein Gespür für Dramaturgie.
Jörg Konrad
Interview mit matthias rüegg hier.

matthias rüegg
„Das blaue Klavier“
Lotus Records
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Dienstag 29.11.2022
Daniel Lanois „Player, Piano“
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Was mag das wohl für ein Pianoalbum sein, bei dem der Klavierspieler nicht unbedingt als Klavierspieler glänzt. Bei dem der Pianist hauptberuflich bisher als Gitarrist und Produzent in Erscheinung trat. Ein Album das ebenso im Rolling Stone euphorisch vorgestellt wird, wie es gleichzeitig im Fachmagazin Jazzthing und in der Frankfurter Rundschau begeisterte Kritiken erhält.
Es handelt sich um keinen geringeren als Daniel Lanois, die große, stilüberschreitende Ausnahmepersönlichkeit im Bereich zeitgenössischer Musik. Alles aufzuzählen, was er selbst geschaffen hat, oder woran er über Jahrzehnte beteiligt war, wäre eine Sisyphusarbeit. Zudem würde jeder wohl ein anderes Lieblingsprojekt nennen, wenn es um den Kanadier geht (ich würde mich an dieser Stelle für das atemberaubende Ambient-Opus „Apollo: Atmospheres And Soundtracks“ von Brian Eno aus dem Jahr 1983 und eines der schönsten Pop-Alben der letzten vier Jahrzehnte „For the Beauty of Wynona“ von Lanois entscheiden).
Nun also ein reines Klavier-Projekt. Lanois setzt auf Atmosphären und Landschaften, statt auf Virtuosität oder Raffinement. Mit dem Atem der Freiheit lässt er melancholische Stimmungen entstehen, die der Sparsamkeit und Zurückhaltung seines Spielwillens geschuldet sind. Man spürt seine Vorliebe für einfache Dinge und Formen, die bei seinen Arbeiten zum Beispiel für Peter Gabriel oder U2 nie derart auffällig waren. Um die Weichheit und Wärme des Sounds noch stärker hervorzuheben, hat er die Seiten des Klaviers mit Tüchern gedämpft, was den effizienten musikalischen Rand- und Dämmerzonen noch mehr Raum gibt. Dadurch vibrieren die unverschämt banalen Minimalismen förmlich und die berührende Intimität kommt einem sanften Näherrücken gleich. Man könnte meinen, „Player, Piano“ wäre das richtige Album für die staade Zeit. Aber im Grunde bedürfen die Aufnahmen keiner festlichen Anlässe, gleich welcher Art. Man kann dieses Manifest der Ruhe zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu jeder Jahreszeit genießen.
Jörg Konrad

Daniel Lanois
„Player, Piano“
Modern
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Mittwoch 23.11.2022
Pia Davile & Linda Leine „Irgendwo auf der Welt“
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Was die einzelnen Songs dieser CD untereinander verbindet, ist die Tragik der Lebensläufe der Komponisten. Sie alle stammen aus dem frühen 20. Jahrhundert und sind gekennzeichnet durch Stigmatisierung, Vertreibung und Tod durch die Nationalsozialisten. Doch zugleich wollen die Sopranistin Pia Davile und die Pianistin Linda Leine diese Stücke allein aus diesem Blickfeld herausholen und präsentieren sie auch aus der Absicht heraus, ihren Charme und ihr Raffinement, ihre Tiefe und ihren Humor deutlicher in den Vordergrund zu stellen.
Denn trotz aller Demütigung aufgrund ihrer jüdischen Abstammung komponierten Erich Zeisl, Georg Kreisler, Ilse Weber oder Rudi Stephan oft dem Leben zugewandte, schwungvoll heitere Stücke, denen sich Pia Davile und Linda Leine schon vor einigen Jahren angenommen haben. Erst tourten sie mit diesem Programm sehr erfolgreich durch das deutschsprachige Europa, ehe sie sich endgültig entschlossen, dieses Album aufzunehmen.
Inhaltlich geht es in diesen 28 Liedern um einen humoristisch-verwandtschaftlichen Blick auf Mensch und Tier, sowie dem Ertragen und den Wirkungen von Naturerscheinungen. Da dürfen natürlich Georg Kreislers Tauben im Park („Frühlingslied“) nicht fehlen, auch nicht „Das Pantherlied“ (Rudi Stephan), ebenso der Regen in all seinen Erscheinungsformen, auch von Stürmen ist die Rede, von Hühnern und ihrem Kampf um die fetten Würmer (Victor Blüthgen), aber auch vom morgendlichen Kater, mit dem Hinweis auf den rezeptfreien Heilplan eines ordentlichen Heringssalates (Erich Zeisl).
Pia Davila widmet sich mit Hingabe diesen zum Teil humorvoll skurrilen Liedern. Sie interpretiert sie ein wenig zurückhaltend, wodurch der Witz zugunsten der Musik vorteilhaft leicht in den Hintergrund rückt. Schließlich handelt es sich um Miniaturen von Revueliedern, die durch die „gezügelte“ Präsentation entsprechend gewinnen und zugleich einen Hauch Melancholie vermitteln.
Linda Leine passt sich mit ihrer Klavierbegleitung hervorragend ein. Auch sie ist weniger virtuos präsent und begegnet Pia Davile somit entfernt jeder untergeordneten Begleitung auf Augenhöhe.
Insgesamt spürt man die Freude und den Spaß, den beide Musikerinnen mit sich und auch mit ihrem Repertoire haben. Die mühelos geführte Stimme und die pianistische Offenheit geben der Musik einen poetisch-diffizilen Charakter.
Jörg Konrad

Pia Davile & Linda Leine
„Irgendwo auf der Welt“
C2 / Es-Dur
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Dienstag 15.11.2022
Vor 48 Jahren: Miles Davis „Big Fun“
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Miles (Davis) Live-Auftritte waren in dieser Zeit gekennzeichnet von einer großen improvisatorischen Leidenschaft. Es wurde pro Konzert häufig nur ein Stück gespielt, das allein von einer Bass-Figur zusammengehalten wurde, um die herum sich die anderen Bandmitglieder gruppierten. Alles war somit abhängig von den instrumentalen Fähigkeiten, einer funktionierenden Gruppendynamik und dem Soundverständnis seiner Mitmusiker.

Mit „Big Fun“ kam Ende 1972 ein Doppelalbum auf den Markt, das genau diese Herangehensweise im Studiokontext dokumentierte. Vier Plattenseiten – vier Titel. Trotz mancher Ähnlichkeiten ist diese Veröffentlichung nicht mit der Bitches Brew-Session zu vergleichen, die ein in sich geschlossenes Werk darstellt, wo hingegen diese Aufnahmen in einem Zeitraum von drei Jahren eingespielt wurden.
Trotzdem ist „Big Fun“ ein großartiges musikalisches Experiment, das bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat und allein schon in der Lage ist, die damalige Musikwelt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auf „Great Expectation“ von 1969 wird eine schwebende, fernöstlich angehauchte und nur aus wenigen Tönen bestehende Melodie von Miles fast endlos repetiert. Diese permanenten Wiederholungen schaffen eine meditative Atmosphäre und bringen ein völlig andersartiges Verständnis von Raum und Zeit in den Jazz. Unterlegt wird dieses Dreiklangmotiv von einem brodelndem, sich ständig leicht veränderndem perkussiven Klanggewebe, in das sich John McLaughlin mit rhythmischen Wah-Wah-Kürzeln einbringt. Durch Khalil Balakrishnas elektrisch verstärkte Sitarklänge erhält die Aufnahme eine indirekte Nähe zu Raga-Ritualen, wie sie für die westliche Musik jener Zeit sehr typisch waren. Zum Ende geht das Stück dann in den luftig leichten Samba "Mulher Laranja" von Joe Zawinul über, der erst viele Jahre später auf dem Cover auch benannt wurde.
Ähnlich ist auch „Loneley Fire“ aufgebaut. Ein Dreiklangmotiv, das in seiner formalen Struktur stark an „Sketches Of Spain“ erinnert. Ein Verdienst Chick Coreas, der hier deutlich seine Spuren hinterließ und in jener Zeit auch seinen Klassiker „Spain“ komponierte.
„If“ besteht aus einem Zweitakt-Baßriff, das von den beiden Schlagzeugern Billy Hart und Al Foster kunstvoll umgarnt wird. „Al Foster war bei den Aufnahmen zu Big Fun das erste Mal dabei. Er legte das Fundament, auf dem jeder aufbauen konnte, und dann hielt er den Groove bis in alle Ewigkeiten durch“, schrieb Miles später in seiner Autobiographie. Der Groove erreicht fast rauschhafte Dimensionen, verliert sich in dem breit ausgewalzten Keyboardflächen, taucht wie ein Phönix aus der Asche wieder empor und wird mit widerspenstigen und feurigen Trompetenstößen von Miles immer weiter angeheizt. Eine Endlosschleife, die während der gesamten fast zweiundzwanzig Minuten nichts von ihrer Spannung einbüßt.
Das längst Stück auf „Big Fun“ ist „Go Ahead John“, eine weitere Reverenz an den von Miles überaus geschätzten Gitarristen John Mclaughlin. Hier ist Jack DeJohnette der tonangebende Schlagzeuger. Er webt auf Hi Hat und Snare ein dichtes wie strahlendes Netz rockbetonter Rhythmen, die zwischen linkem und rechtem Tonkanal ständig wechseln. Es klingt, als spiele DeJohnette gegen sich selbst an, als fordere er sein Ego zum Zweikampf heraus, wobei er sich in eine regelrecht rhythmische Tachykardie zu steigern droht. Steve Grosman und Miles brillieren in ihren Beiträgen und bereiten den Boden für John McLaughlin, der dann eines seiner längsten und rüdesten Solos in Miles Band spielt.
Eine ganz eigenartige Stimmung entsteht dadurch, daß es technische Probleme mit dem Tonabnehmer des Gitarristen gab, wodurch die Aufnahme trotz ihrer kraftvollen Präsenz an Fragilität gewinnt und etwas eminent verletzliches ausstrahlt.
Der Mittelteil gehört dann dem Bassisten Dave Holland und Miles, der dank der technischen Möglichkeiten in einen wunderschönen, melancholisch spirituellen Bluesdialog mit sich tritt. Langsam setzt ein Instrument nach dem anderen wieder ein, bis die Band zum Schluss wieder das treibende Energielevel der ersten Minuten erreicht.

Miles befand sich zweifellos auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die Musikwelt lag ihm zu Füßen. Doch es gab immer wieder massive Auseinandersetzungen mit Kritikern, von denen er sich falsch interpretiert und nicht verstanden fühlte. Er gab besonders den weißen Journalisten falsche oder gar keine Auskünfte. Er wollte nichts und niemandem Rechenschaft über seine inneren Beweggründe geben – war aber andererseits von der Berichterstattung in der Presse nicht völlig unabhängig. Ein Konflikt, den er zeitweise noch bewußt anheizte und der ihm endgültig die Aura eines unnahbaren Künstlers, gespickt mit den Schrulligkeiten und Allüren eines Stars einbrachte.
Entsprechend stürzten sich die Medien auf seine gesellschaftlichen Fehltritte und schlachteten jede noch so simple und nichtssagende Äußerung des Trompeters schonungslos aus. Ganz dem Motto verpflichtend: Only bad news is good news.

Es war ein nicht ganz ungefährliches Spiel. Spielte Miles mit dem Rücken zum Publikum, weil er meinte, in einem bestimmten Bereich der Bühne den richtigen Sound zu finden, so war dies für manche Kritiker der eindeutige Beweis der Mißachtung gegenüber seines Publikums. Es gab Gerüchte, daß Miles mit seinen wechselhaften Launen seine Mitmusiker drangsalierte. Hingegen sprachen diese von einem Leader, der sensibel war und sich um die meisten Instrumentalisten seiner Band in einer sehr freundlich väterlichen Art bemühte.
Miles machte es wütend, daß das Finanzamt immer neue Forderungen an ihn stellte. Er fühlte sich bald von allen Seiten ausgenutzt und wollte nach eigenem Bekunden nur noch tun, was ihm Spaß machte. Es gab sogar das Gerücht, er wolle ganz aufhören Musik zu spielen – was vorerst noch nicht der Fall sein sollte.
(Aus: Jörg Konrad - Miles Davis: Die Geschichte seiner Musik, Bärenreiter 2008)

Miles Davis
„Big Fun“
Columbia

- Great Expectations/Orange Lady (rec. 1 November 1969 - Columbia Studio E)

* Miles Davis - trumpet
* Steve Grossman - soprano saxophone
* Bennie Maupin - bass clarinet
* John McLaughlin - electric guitar
* Khalil Balakrishna - electric sitar, tamboura
* Bihari Sharima - electric sitar, tamboura
* Herbie Hancock - electric piano
* Chick Corea - electric piano
* Ron Carter - double bass
* Harvey Brooks - Fender bass guitar
* Billy Cobham - drums
* Airto Moreira - percussion


- Ife (rec. 12 June 1972 - Columbia Studio E)

* Miles Davis - trumpet
* Sonny Fortune - soprano saxophone, flute
* Bennie Maupin - clarinet, flute
* Carlos Garnett - soprano saxophone
* Lonnie Liston Smith - piano
* Harold I. Williams, Jr. - piano
* Michael Henderson - double bass
* Al Foster - drums
* Billy Hart - drums
* Badal Roy - tabla
* James Mtume - African percussion


- Go Ahead John (rec. 3 March 1970 - Columbia Studio E)

* Miles Davis - trumpet
* Steve Grossman - soprano saxophone
* John McLaughlin - electric guitar
* Dave Holland - double bass
* Jack DeJohnette - drums


- Lonely Fire (rec. 28 November 1969 - Columbia Studio E)

* Miles Davis - trumpet
* Wayne Shorter - tenor saxophone
* Bennie Maupin - bass clarinet
* Khalil Balakrishna - sitar, Indian instruments
* Chick Corea - electric piano
* Joe Zawinul - electric piano, Farfisa organ
* Dave Holland - double bass
* Harvey Brooks - Fender bass guitar
* Jack DeJohnette - drums
* Billy Cobham - drums
* Airto Moreira - Indian instruments, percussion

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