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19. Sandra Kegel (Hrsg.) „Prosaische Passionen“
20. Guido Zingerl „Das Narrenschiff“ & „Das Geheimnis der Griechischen E...
21. Ian McEwan „Lektionen“
22. Andrea Wulf „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindun...
23. Pier Paolo Pasolini „Land der Arbeit“
24. Claire Keegan "Kleine Dinge wie diese"
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Dienstag 28.02.2023
Sandra Kegel (Hrsg.) „Prosaische Passionen“
Besonders deutlich zeigt sich die öffentliche männliche Dominanz innerhalb der Literatur, ruft man die Nobelpreisträger dieser Sparte der letzten sechs Jahrzehnte ab: Von den insgesamt 62 Gewinnern sind nur 12 Frauen. Das wären nur ein Fünftel weibliche Autoren! Nun geht es ganz sicher nicht darum, anhand von Quotenregulungen dieses Missverhältnis zu egalisieren. Doch es dürfte allen Literaturinteressierten klar sein, dass der Anteil schreibender Frauen weitaus größer ist. Von der Qualität der Texte einmal ganz zu schweigen. Denn die literarische Moderne ist nun wirklich keine exklusive Männerdomäne!
Dies ist mit Sicherheit auch einer der Gründe, weshalb Sandra Kegel mit ihrem umfangreichen Werk „Prosaische Passionen“ ein erstes weibliches Weltpanorama der Literatur vorlegt. Auf fast tausend Seiten stellt die in Aix-en-Provence, Wien und Frankfurt am Main studierte Literaturwissenschaftlerin und heutige Leiterin des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 101 Autorinnen anhand von Kurzgeschichten vor. Sämtliche Arbeiten entstanden nach 1900, von zum Teil bekannten, dem Klassikerkanon zugehörigen Autorinnen, aber auch von Schriftstellerinnen, die es erst noch zu entdecken gilt. Einige der Texte sind Erstübersetzungen, aus dem Arabischen, Chinesischen, Koreanischen, Norwegischen, Spanischen, Russischen oder Hebräischen.
Es ist eine breite motivische und stilistische Vielfalt, die hier an Beispielen von Anna Seghers, Carson McCullers, Patricia Highsmith, Maria Luisa Bombal, Rashid Jahan, Sigrid Undset, Gertrude Stein, Ricarda Huch u.v.a. präsentiert werden.
„Prosaische Passionen“ kann als ein fulminantes Fest weiblichen Schreibens gelesen werden. Diese über 50 Short Stories aus fünf Kontinenten sind ein literarisches Ereignis, das jedes Entdeckerfieber mit Lesevergnügen belohnt. Einem Kompass ähnlich und hilfreich ist das Quellenverzeichnis sowie kurze biographische Notizen der Autorinnen. Ein Buch für jede Tages-, Nacht- und Jahreszeit.
Jörg Konrad

Sandra Kegel (Hrsg.)
„Prosaische Passionen“
Die weibliche Moderne in 101 Short Stories
Manesse Verlag
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Samstag 25.02.2023
Guido Zingerl „Das Narrenschiff“ & „Das Geheimnis der Griechischen Eule“
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Am Donnerstag starb 90jährig der Maler und Zeichner Guido Zingerl

Altersmilde? Aber nicht Guido Zingerl. Schließlich ist die Welt zu sehr aus den Fugen, gibt es zu viel Ungerechtigkeit als auch Aufklärungsbedarf. Solange der 1933 in Regensburg Geborene als Maler, Zeichner, Karikaturist tätig ist, hat er gegen jede Form der sozialen Benachteiligung und politischen Willkür öffentlich angekämpft. Und, das versteht sich von selbst, dabei Haltung bewahrt. Selbst auf die Gefahr hin, mit seiner Arbeit eher zu provozieren als Probleme solidarisch weichzuzeichnen.
Dafür hat er die Finger zu tief in den offenen Wunden der Gesellschaft und sind die Schwachstellen in Politik und Gesellschaft für ihn zu spürbar. Sein Gerechtigkeitssinn macht's möglich.
Erst im letzten Jahr hat der seit über vier Jahrzehnten in Fürstenfeldbruck lebende Künstler einen umfangreichen Bilderzyklus unter dem Titel „Das Narrenschiff“ vorgelegt. Dabei handelt es sich um „40 gemalte und gezeichnete Parabeln auf die Unbelehrbarkeit des Menschen“. Wer sich nur ein wenig in der Geschichte der Menschheit auskennt, wird wissen: Ein unendliches Thema.
Zingerl, der mit bürgerlichem Namen Heinrich Scholz heißt, bezieht sich in dieser umfangreichen Arbeit auf die moralische Klageschrift gleichen Namens von Sebastian Brandt aus dem Jahr 1494, dem erfolgreichsten deutschsprachigen Buch vor der Reformation, mit Holzschnitten von Albrecht Dürer.
Der Mensch hat bis heute nichts von seinen dunklen amoralischen Eigenschaften, die man unter den Begriffen Macht, Habgier und Egoismus zusammenfassen kann, verloren. Vielleicht sind manche dieser Eigenschaften glatt geschliffen, sind heutzutage verfeinert, sind einer postmodernen wie auch demokratisch motivierten Frischenzellenkur durchlaufen. Doch die Kritik daran ist bis heute gleich geblieben. Dank Menschen wie Guido Zingerl, der Kunst auch immer als Waffe der Aufklärung versteht.
Zingerl hat keine Berührungsängste, beschäftigt sich in seinen neuen Arbeiten kritisch mit Kirche und Klimawandel, mit der Nazizeit und deren Erben, die besonders in den heutigen Tagen wieder aktiv sind, mit der Flüchtlingskrise, den Weltverschwörungsmythen der Gegenwart, als auch mit den furchtbaren Auswirkungen des Kapitalismus in den sogenannten Entwicklungsländern. Er zeigt die Welt ungeschönt und real und klagt mit seinen Bildern konsequent jene an, die für diesen Zustand verantwortlich sind: Uns Menschen.
Egal ob Zingerl mit Acryl malt, ob er zeichnet oder Karikaturen entwirft – er arbeitet mit scharfen Schnitten, nutzt grelle Farben, fordert mit Inhalten massiv heraus. Er ist schonungslos in seiner Analyse und trotzdem kommt der Humor nicht zu kurz. Auch wenn manches Lachen bei genauerer Betrachtung im Halse stecken bleibt. Er kreuzigt Marx, verballhornt die Bürokratie, zeigt Narren als Narren (US-Präsident D. Trump). Immer wieder lassen sich auf seinen Bildern neue Details entdecken, erkennt man Hintergründiges, wird Widersprüchliches deutlich.
In einem anderen jetzt erschienenen Band spannt Guido Zingerl unter dem Titel „Das Geheimnis der Griechischen Eule – Asam, Apollon, Amper“ einen Bogen von der antiken Mythologie bis in unsere Gegenwart. Grund für seinen überwältigenden Historienblick ist das zehnjährige Jubiläum der Wiedereröffnung des Churfürstensaales im Kloster Fürstenfeld. Zingerl hat keine Mühe, vom Maler und Bildhauer Hans Georg Asam über seine Figur des griechischen Helden Herakles, den weiblichen Gottheiten des Olymp und dem Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung Appolon einen gewaltigen Bogen bis in die Neuzeit zu spannen. Da wird Sisyphos als Zwangsarbeiter beim Bau der Klosterkirche Fürstenfeld ins Spiel gebracht, ebenso wie die Vergangenheitsbewältigung der Polizeischule im Kloster. Da kreisen Kampf-Drohnen neben dem geflügelten Pegasus am Himmel über dem Fliegerhorst und Kassandra mahnt zeitig vor dem Trojanischen Pferd, Nationalismus und Krieg. Zingerl entwirft mit spitzem Stift die Szenen, erläutert in kurzen Texten die verdichtete Historie, mit all ihren Paradoxen und Entsetzen. Im Grunde ist alles ganz einfach und fix auf einen Nenner gebracht: Ohne Auseinandersetzung keinen Frieden. Und genau aus diesem Grund sind beide Bücher zu empfehlen. Gerade zum Weihnachtsfest!!!
Jörg Konrad
(Artikel vom 20. Dezember 2020, erschienen in KultKomplott)
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Freitag 10.02.2023
Ian McEwan „Lektionen“
Das Besondere an Ian McEwans neuem Roman ist, dass er im Grunde wenig Neues erzählt. Die Rahmenhandlung in „Lektionen“ besteht aus europäischen Streifzügen durch die letzten Jahrzehnte. McEwan stellt das Leben seiner Hauptperson, wie das seiner eigenen Generation, in die Abfolge von geschichtlichen und politischen Ereignissen. Roland Baines, anfangs verheiratet und Vater eines Sohnes, gehört eher zu den entscheidungsarmen Zeitgenossen, die zwar einiges Talent in sich tragen (Barpianist, Tennisspieler und Gelegenheitsautor), doch letztendlich diese Anlagen, auch aufgrund etlicher persönlicher Zweifel, Unsicherheiten und Aufgabenbereiche, in keine berufliche, oder sonst wie geartete Karriere einfließen lassen.
Es wird beschrieben, wie Roland Baines in seinem Leben als alleinerziehender Vater mit entscheidenden gesellschaftlichen Themen konfrontiert wird - oder diese flüchtig streift - so dass anfangs immer der Anschein entsteht, der Handlung fehle es an klärender Tiefe, an mitreißender Spannung. Alles bleibt, trotz gewisser Ereignisse und Vorfälle, an der Oberfläche emotionaler Verarbeitungen.
Hinzu kommen Zeitsprünge, die ebenso dazu beitragen, keine wirklich fesselnde Stimmung in Form von dramaturgisch mitreißenden Atmosphären aufkommen zu lassen. Es gibt Bezüge zum 2. Weltkrieg, zum Widerstandskampf der Weißen Rose, zur Stationierung von Atomraketen auf Kuba, zur Teilung Deutschlands und dem Fall der Mauer, zur Aufarbeitung der Stasidiktatur und der RAF-Historie, zur Tschernobyl-Katastrophe, der Zunahme von demenziellen Krankheiten, die Klimakatastrophe, natürlich zum Brexit, bis hin zu den gesellschaftlichen Verwerfungen in Bezug auf die Coronapandemie und den dazugehörigen Lockdowns. Man möchte ausrufen: Weniger wäre wahrscheinlich mehr.
Doch dann gelingt es McEwan, nach gut der Hälfte des Buches, die unterschiedlichen, meist kurz gewebten und wieder fallengelassenen Maschen aufzuheben, sie zu bündeln und alles untereinander wieder neu zu verknüpfen. Plötzlich bietet das Buch zwischen Rückblicken und Horizonten Ereignisse, bekommen die Gesichter deutlichere Charaktere, scheint das Trauma des frühen kindlichen Missbrauchs der Hauptfigur in der Folge eine konkretere Rolle zu spielen. Konflikte werden real spürbarer, deren Bearbeitungen fesseln ungemein. Baines erlernt, erkennt und verarbeitet letztendlich die Lektionen seines Lebens.
Behauptet man, dieses Buch handele vom Altern, so ist dies genauso richtig, wie die Geschichte auch als ein Beleuchten und Aufarbeiten des eigenen Lebens verstanden werden kann. Denn mit den steten Rückblicken und wiederum deren Verknüpfung mit der Gegenwart, kann man „Lektionen“ auch als eine Art Lebensanalyse lesen - in emotionaler Offenheit geschrieben und durch wohltuendes Fehlen jedes moralischen Anspruchs brillant in der Wirkung.
Doch „Lektionen“ ist auch ein Buch über Beziehungen, die sich innerhalb und außerhalb der eigenen Familie abspielen und von bestimmten gesellschaftlich determinierten Zeiten und politischen Geschehnissen abhängig zu sein scheinen. Jedes Miteinander wird auf harte Proben gestellt, Differenzen korrigiert oder ausgelebt. Bleiben sie ungeahnt, verändern sich Beziehungen für den Rest des Lebens. Die Familie als Herausforderung und Chance zugleich.
Jörg Konrad

Ian McEwan
„Lektionen“
Diogenes
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Dienstag 17.01.2023
Andrea Wulf „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“
Die deutsch-englische Kulturhistorikerin Andrea Wulf hat mit ihrem Buch über Alexander von Humboldt, das vor einigen Jahren erschienen ist, einen internationalen Bestseller geschrieben. Nun hat sie sich einer Gruppe von Dichtern und Philosophen zugewendet, zu denen Alexander von Humboldt immer wieder engen Kontakt hatte. In „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ erzählt sie von dem sogenannten Jenaer Kreis, der in wenigen Jahren das deutsche Geistesleben revolutioniert hat.
Andrea Wulf versteht es fabelhaft, Philosophie- und Literaturgeschichte lebendig zu machen. Mit ihrem erzählerischen Ansatz fühlt sie sich in die Zeit ein, schildert anschaulich, detailreich und empathisch die Kleinstadt Jena um 1800 und die jungen visionären Denker, die sich hier versammelten, die diskutierten und schrieben, sich liebten und stritten, und die alle den Wunsch hatten, die Welt zu verändern. Es war, wie Wulf sagt, „der turbulenteste Freundeskreis der Geistesgeschichte“.
Im 18. Jahrhundert wurden die Länder Europas absolutistisch regiert. Deutschland zerfiel in mehr als 1500 Einzelstaaten, in denen die Macht von Fürsten, Herzögen und Bischöfen ausgeübt wurde. In diese durch Kirche und Staat reglementierte Ordnung, die von ihren Untertanen absoluten Gehorsam verlangte, brachen Ende des Jahrhunderts die Ideale der Französischen Revolution ein. Die Idee der Freiheit kam in die westliche Welt.
In den 1790-er Jahren übte Jena auf junge Dichter und Denker eine besondere Anziehungskraft aus. Die Universität galt als die liberalste in ganz Deutschland. In Jena lebte Schiller, und der von allen bewunderte Goethe kam aus dem benachbarten Weimar häufig zu Besuch. Er war es auch, der eine Professur von Johann Gottlieb Fichte in Jena befürwortete. Vor begeisterten Studenten entfaltete Fichte nun seine Gedanken. Er bezeichnete die Französische Revolution als „hereinbrechende Morgenröthe“ eines neuen Zeitalters. Der Philosoph erklärte das Ich zum Ausgangspunkt aller Erkenntnis.
Die geistige Elite Deutschlands folgte Fichte nach Jena. Alle stellten sie die Freiheit des schöpferischen, selbstbestimmten Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens, Schaffens und Lebens. Zu den jungen Rebellen gehörten Wilhelm und Caroline von Humboldt, der Sprachwissenschaftler Wilhelm August Schlegel, seine Frau Caroline und sein Bruder Friedrich, die Schriftstellerin Dorothea Veit, der Dichter Novalis und die Philosophen Schelling und Hegel. Caroline Schlegel nannte Jena „das Königreich der Philosophie“, und das Haus, das sie zusammen mit ihrem Mann bewohnte, war das Zentrum des Kreises.
Andrea Wulf hat für ihre Recherche unzählige Briefe und Zeitdokumente ausgewertet. Alle Äußerungen sind belegt, und doch liest sich ihr Buch nie trocken. Im Gegenteil, der Autorin ist ein mitreißendes Bild von Carolines Salon gelungen und von dem Enthusiasmus, der alle beflügelte.
Die frühen Romantiker beklagten die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung. Der einseitigen Betonung von Vernunft und Nützlichkeit setzten sie Phantasie, Gefühl und Spiritualität entgegen, und sie postulierten die Einheit von Kunst und Wissenschaft, von Mensch und Natur.
Zum Jenaer Kreis gehörten einige hochgebildete Frauen, die sich häufig über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzten. Caroline Schlegel, später verheiratete Schelling, ist für Andrea Wulf die „Inkarnation des ermächtigten freien Ich“. Als junge Witwe wurde sie, schwanger von einem französischen Soldaten, wegen ihrer Sympathien für die Französische Revolution für einige Monate inhaftiert. Vor der gesellschaftlichen Ächtung bewahrte sie die Ehe mit August Wilhelm Schlegel, mit dem sie Shakespeares Dramen ins Deutsche übersetzte. Als der wesentlich jüngere Philosoph Friedrich Schelling nach Jena zog, lebte sie mit ihm in einer offenen Beziehung, die von ihrem Mann geduldet wurde. Skandale, offene Ehen, erotische Libertinage waren überhaupt kennzeichnend für die Frühromantiker. Der Dichter Ludwig Tieck nannte den Haushalt der Schlegels einmal „eine einzige Schweinewirtschaft“.
Natürlich konnte das Zusammenleben der jungen Individualisten keinen Bestand haben. Neid, Eifersucht, heftige Streitereien entzweiten die Gruppe. Doch ihre Ideen wirkten weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Französische, englische, amerikanische, russische Dichter und Künstler wurden von ihnen beeinflusst, wie Andrea Wulf darlegt. Sie ließen sich von Schellings Gedanken der Einheit von Geist und Materie oder von Alexander von Humboldts Vorstellung von der Natur als lebendigem Organismus inspirieren. Die Idee vom selbstbestimmten Ich und dem freien Willen, wie Fichte sie formuliert hat, prägt unser Selbstverständnis bis heute.
Lilly Munzinger, Gauting

Andrea Wulf
„Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“
C. Bertelsmann
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Montag 02.01.2023
Pier Paolo Pasolini „Land der Arbeit“
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Pier Paolo Pasolini war als Filmemacher Autodidakt. Ebenso als Lyriker. Als Poet von Haus aus Zweifler – aber auch Kämpfer.
Der leidenschaftliche Lehrer wurde aus dem amtlichen Schuldienst entfernt, als praktizierender Kommunist schloss ihn die KPI aus ihren Reihen aus. Sein Leben spielte sich ab zwischen intellektueller Poesie und sozialkritischem Engagement, zwischen dem Leben auf dunklen Hinterhöfen und Latrinen und dem gleißenden Licht öffentlicher Scheinwerfer, zwischen Politik und Religion. Er war als Künstler zutiefst gespalten, ebenso als Mensch - jedoch kompromisslos in seinem Tun. Bei aller Tragik der Zerrissenheit ideale Voraussetzungen um als Dichter zu leben und zu sterben.
Wolf Wondratscheck und Christian Reimer haben für das vorliegende Projekt etliche unterschiedliche Pasolini-Texte ausgewählt. Diese zeigen zumeist die Unerbittlichkeit seiner geistigen Freiheit, aber auch den sinnlichen Zweifel seiner Gedanken und deren beinahe greifbare Melancholie. In ihnen ist ein unbefriedigtes Verlangen, eine Sehnsucht nach innerem Frieden und Kompensation von Ungerechtigkeit und Skepsis zu spüren. Die ihm die Realität jedoch nicht zu bieten versteht. Zugleich weiß Pasolini aber auch, dass diese Gegensätze der Motor seines gesamten Tuns sind
1963 bittet er in einem Brief den russischen Schriftsteller Jewgeni Jewtuschenko die Rolle des Christus in dem Film „Das 1. Evangelium – Matthäus“ anzunehmen. Es ist ein fast zärtliches Werben um den Dichter und Kommunisten Jewtuschenko, dieses Engagement anzunehmen. Dahinter steht Pasolinis damalige Überzeugung, Jesus verkörpere in seiner sozialen und menschlichen Gerechtigkeit den Gedanken des Kommunismus. Später wusste er es besser.
Aber in diesem beinahe flehentlichen Bitten, dem die eigene Grundüberzeugung eines Gedankens zugrunde liegt, an dem er jedoch schon damals beginnend zweifelte, zeigt sich seine obessive Unbeirrbarkeit, die ihm das Leben oft erschwerte.
In Christian Reiner haben sich Wondratscheck als auch Manfred Eicher für einen Sprecher entschieden, der all diese Gegensätze und Überzeugungen, die Leidenschaftlichkeiten und die Sehnsüchte, die Brüche und die Visionen stimmlich ergreifend ausdrückt. Und dass man sich bei der Produktion eines Musiklabel, wie in diesem Fall gegen jeden gespielten klanglich eingebrachten Ton entschieden hat, macht die Aufnahme um so bemerkenswerter. Pasolini pur.
Jörg Konrad

Pier Paolo Pasolini
„Land der Arbeit“
Christian Reiner
ECM
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Dienstag 13.12.2022
Claire Keegan "Kleine Dinge wie diese"
Claire Keegan
"Kleine Dinge wie diese"

Im Jahr 1993 machte man auf dem ehemaligen Grundstück eines irischen Nonnenklosters eine grausige Entdeckung: Man fand ein Massengrab, in dem die Leichen von fast 800 Babys verscharrt worden waren. Dadurch wurden Gerüchte bestätigt, die es schon lange über die sogenannten Magdalenenwäschereien gegeben hatte. Das waren kirchliche Besserungsanstalten, die vor allem in Irland entstanden waren. Hier sollten „gefallene“ Mädchen und ledige Mütter nach dem Vorbild der reuigen Sünderin Maria Magdalena auf den rechten Weg geführt werden. Die jungen Frauen wurden von den Nonnen wie Sklavinnen gehalten. Sie mussten in Wäschereien ohne Lohn schuften, waren unterernährt und verwahrlost. Ihre Babys wurden ihnen weggenommen. Viele Kinder gab man zur Adoption frei, tausende starben in den Klöstern an Hunger und Krankheiten. Die letzte Magdalenenwäscherei wurde erst 1996 geschlossen. Bis heute ist das Ausmaß des ungeheuerlichen Skandals noch nicht vollständig aufgeklärt.
Dieses dunkle Kapitel der katholischen Kirche in Irland bildet den Hintergrund für Claire Keegans Roman „Kleine Dinge wie diese“. Die Autorin wurde 1968 in Irland geboren und zählt heute zu den wichtigsten Schriftstellerinnen ihres Landes.
„Kleine Dinge wie diese“ ist ein schmales und dennoch überwältigendes Buch, das zentrale Lebensthemen anspricht. Die Autorin stellt die dramatischen und grausamen Ereignisse nicht aus; sie macht Bill Furlong zum Mittelpunkt ihres Buches, einen Kohlenhändler Ende dreißig, der mit seiner Frau und fünf wohlgeratenen Töchtern in einer irischen Kleinstadt lebt. Aus seiner Perspektive erzählt sie die Geschichte, einfühlsam und differenziert schreibt sie von seinen Fragen an das Leben. Es kommt Keegan nicht in erster Linie darauf an, seelische Grausamkeit und menschliches Leid zu schildern, sondern darauf, wie Menschen reagieren, die Zeugen des Unrechts werden. Schauen sie weg, oder finden sie zu Mut und Hilfsbereitschaft?
Furlong wurde als uneheliches Kind eines erst 16-jährigen Mädchens geboren. Doch die Arbeitgeberin seiner Mutter, eine wohlhabende protestantische Witwe, beschäftigte die junge Frau weiter und kümmerte sich um ihr Kind. Ihr hat es Furlong zu verdanken, dass er sich hocharbeiten und in Zeiten wirtschaftlicher Rezession zu bescheidenem Wohlstand gelangen konnte. Er ist ein gutherziger, arbeitsamer Mann, dessen Hauptsorge seiner Familie gilt und der weiß, wie zerbrechlich sein Glück ist. Als er kurz vor Weihnachten des Jahres 1985 Kohlen in das Nonnenkloster liefern will, das als gewaltiges Gebäude hoch über der Stadt thront, hat er ein verstörendes Erlebnis. Im Kohlenschuppen entdeckt er eine völlig verängstigte junge Frau, die offenbar seit Tagen dort eingesperrt ist und ihn nach ihrem Baby fragt. Er bringt sie zu den Nonnen vom Guten Hirten zurück, aber sein Gewissen lässt ihn nicht los. In präzisen, knappen Beobachtungen erzählt Keegan von der Krise, in die Furlong gerät, und die ihn nach dem Sinn seiner ganzen Existenz fragen lässt. Die Natur wird zum Spiegel seines Seelenlebens und der düsteren Ereignisse, schwarze Saatkrähen und der dunkle Fluss sind häufig wiederkehrende Motive. Soll Furlong auf seine Frau hören und nicht weiter nachgrübeln? Wie alle anderen in seiner Umgebung aus Angst die Tatsachen verdrängen? Das Kloster ist ein wichtiger Arbeitgeber, und seine Töchter besuchen die Nonnenschule. Sich gegen die mächtige, einflussreiche Kirche zu stellen, könnte seine wirtschaftliche Sicherheit und gesellschaftliche Stellung in der Stadt gefährden. Doch was wäre aus ihm geworden, wenn ihn einst die Witwe nicht unterstützt hätte? Wären seine Mutter und er nicht auch in der Klosterwäscherei gelandet? Hatte es einen Sinn zu leben, wenn man einander nicht half? Furlong muss sich entscheiden. Ein alter Mann, den er am Straßenrand nach dem richtigen Weg fragt, antwortet ihm: “Diese Straße, mein Sohn, führt dich, wohin du nur willst“.
Claire Keegan stellt sich in ihrem Buch ganz bewusst in die Tradition von Charles Dickens. Als Kind hat Furlong die „Weihnachtsgeschichte“ gelesen. Wie bei Dickens geht es in „Kleine Dinge wie diese“ um Gut und Böse und um die Frage, welchen Weg man einschlägt.
Die Autorin schildert in ihrem Roman einen Menschen, der die Verbrechen in seinem Umfeld nicht mehr ignorieren kann und der die Kraft hat, seinem Gewissen zu folgen. Es ist eine ergreifende, völlig unsentimentale Weihnachtsgeschichte, die Mut macht, weil sie daran glaubt, dass sich der Mensch trotz allem für das Richtige entscheiden kann.
Lilly Munzinger, Gauting
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Autor: Siehe Artikel
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