Die deutsch-englische Kulturhistorikerin Andrea Wulf hat mit ihrem Buch über Alexander von Humboldt, das vor einigen Jahren erschienen ist, einen internationalen Bestseller geschrieben. Nun hat sie sich einer Gruppe von Dichtern und Philosophen zugewendet, zu denen Alexander von Humboldt immer wieder engen Kontakt hatte. In „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ erzählt sie von dem sogenannten Jenaer Kreis, der in wenigen Jahren das deutsche Geistesleben revolutioniert hat.
Andrea Wulf versteht es fabelhaft, Philosophie- und Literaturgeschichte lebendig zu machen. Mit ihrem erzählerischen Ansatz fühlt sie sich in die Zeit ein, schildert anschaulich, detailreich und empathisch die Kleinstadt Jena um 1800 und die jungen visionären Denker, die sich hier versammelten, die diskutierten und schrieben, sich liebten und stritten, und die alle den Wunsch hatten, die Welt zu verändern. Es war, wie Wulf sagt, „der turbulenteste Freundeskreis der Geistesgeschichte“.
Im 18. Jahrhundert wurden die Länder Europas absolutistisch regiert. Deutschland zerfiel in mehr als 1500 Einzelstaaten, in denen die Macht von Fürsten, Herzögen und Bischöfen ausgeübt wurde. In diese durch Kirche und Staat reglementierte Ordnung, die von ihren Untertanen absoluten Gehorsam verlangte, brachen Ende des Jahrhunderts die Ideale der Französischen Revolution ein. Die Idee der Freiheit kam in die westliche Welt.
In den 1790-er Jahren übte Jena auf junge Dichter und Denker eine besondere Anziehungskraft aus. Die Universität galt als die liberalste in ganz Deutschland. In Jena lebte Schiller, und der von allen bewunderte Goethe kam aus dem benachbarten Weimar häufig zu Besuch. Er war es auch, der eine Professur von Johann Gottlieb Fichte in Jena befürwortete. Vor begeisterten Studenten entfaltete Fichte nun seine Gedanken. Er bezeichnete die Französische Revolution als „hereinbrechende Morgenröthe“ eines neuen Zeitalters. Der Philosoph erklärte das Ich zum Ausgangspunkt aller Erkenntnis.
Die geistige Elite Deutschlands folgte Fichte nach Jena. Alle stellten sie die Freiheit des schöpferischen, selbstbestimmten Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens, Schaffens und Lebens. Zu den jungen Rebellen gehörten Wilhelm und Caroline von Humboldt, der Sprachwissenschaftler Wilhelm August Schlegel, seine Frau Caroline und sein Bruder Friedrich, die Schriftstellerin Dorothea Veit, der Dichter Novalis und die Philosophen Schelling und Hegel. Caroline Schlegel nannte Jena „das Königreich der Philosophie“, und das Haus, das sie zusammen mit ihrem Mann bewohnte, war das Zentrum des Kreises.
Andrea Wulf hat für ihre Recherche unzählige Briefe und Zeitdokumente ausgewertet. Alle Äußerungen sind belegt, und doch liest sich ihr Buch nie trocken. Im Gegenteil, der Autorin ist ein mitreißendes Bild von Carolines Salon gelungen und von dem Enthusiasmus, der alle beflügelte.
Die frühen Romantiker beklagten die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung. Der einseitigen Betonung von Vernunft und Nützlichkeit setzten sie Phantasie, Gefühl und Spiritualität entgegen, und sie postulierten die Einheit von Kunst und Wissenschaft, von Mensch und Natur.
Zum Jenaer Kreis gehörten einige hochgebildete Frauen, die sich häufig über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzten. Caroline Schlegel, später verheiratete Schelling, ist für Andrea Wulf die „Inkarnation des ermächtigten freien Ich“. Als junge Witwe wurde sie, schwanger von einem französischen Soldaten, wegen ihrer Sympathien für die Französische Revolution für einige Monate inhaftiert. Vor der gesellschaftlichen Ächtung bewahrte sie die Ehe mit August Wilhelm Schlegel, mit dem sie Shakespeares Dramen ins Deutsche übersetzte. Als der wesentlich jüngere Philosoph Friedrich Schelling nach Jena zog, lebte sie mit ihm in einer offenen Beziehung, die von ihrem Mann geduldet wurde. Skandale, offene Ehen, erotische Libertinage waren überhaupt kennzeichnend für die Frühromantiker. Der Dichter Ludwig Tieck nannte den Haushalt der Schlegels einmal „eine einzige Schweinewirtschaft“.
Natürlich konnte das Zusammenleben der jungen Individualisten keinen Bestand haben. Neid, Eifersucht, heftige Streitereien entzweiten die Gruppe. Doch ihre Ideen wirkten weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Französische, englische, amerikanische, russische Dichter und Künstler wurden von ihnen beeinflusst, wie Andrea Wulf darlegt. Sie ließen sich von Schellings Gedanken der Einheit von Geist und Materie oder von Alexander von Humboldts Vorstellung von der Natur als lebendigem Organismus inspirieren. Die Idee vom selbstbestimmten Ich und dem freien Willen, wie Fichte sie formuliert hat, prägt unser Selbstverständnis bis heute.
Lilly Munzinger, Gauting
Andrea Wulf
„Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“
C. Bertelsmann