Miles (Davis) Live-Auftritte waren in dieser Zeit gekennzeichnet von einer großen improvisatorischen Leidenschaft. Es wurde pro Konzert häufig nur ein Stück gespielt, das allein von einer Bass-Figur zusammengehalten wurde, um die herum sich die anderen Bandmitglieder gruppierten. Alles war somit abhängig von den instrumentalen Fähigkeiten, einer funktionierenden Gruppendynamik und dem Soundverständnis seiner Mitmusiker.
Mit „
Big Fun“ kam Ende 1972 ein Doppelalbum auf den Markt, das genau diese Herangehensweise im Studiokontext dokumentierte. Vier Plattenseiten – vier Titel. Trotz mancher Ähnlichkeiten ist diese Veröffentlichung nicht mit der
Bitches Brew-Session zu vergleichen, die ein in sich geschlossenes Werk darstellt, wo hingegen diese Aufnahmen in einem Zeitraum von drei Jahren eingespielt wurden.
Trotzdem ist „Big Fun“ ein großartiges musikalisches Experiment, das bis heute nichts von seiner Faszination verloren hat und allein schon in der Lage ist, die damalige Musikwelt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Auf „Great Expectation“ von 1969 wird eine schwebende, fernöstlich angehauchte und nur aus wenigen Tönen bestehende Melodie von Miles fast endlos repetiert. Diese permanenten Wiederholungen schaffen eine meditative Atmosphäre und bringen ein völlig andersartiges Verständnis von Raum und Zeit in den Jazz. Unterlegt wird dieses Dreiklangmotiv von einem brodelndem, sich ständig leicht veränderndem perkussiven Klanggewebe, in das sich
John McLaughlin mit rhythmischen Wah-Wah-Kürzeln einbringt. Durch
Khalil Balakrishnas elektrisch verstärkte Sitarklänge erhält die Aufnahme eine indirekte Nähe zu Raga-Ritualen, wie sie für die westliche Musik jener Zeit sehr typisch waren. Zum Ende geht das Stück dann in den luftig leichten Samba "Mulher Laranja" von
Joe Zawinul über, der erst viele Jahre später auf dem Cover auch benannt wurde.
Ähnlich ist auch „Loneley Fire“ aufgebaut. Ein Dreiklangmotiv, das in seiner formalen Struktur stark an „Sketches Of Spain“ erinnert. Ein Verdienst
Chick Coreas, der hier deutlich seine Spuren hinterließ und in jener Zeit auch seinen Klassiker „Spain“ komponierte.
„If“ besteht aus einem Zweitakt-Baßriff, das von den beiden Schlagzeugern
Billy Hart und
Al Foster kunstvoll umgarnt wird. „Al Foster war bei den Aufnahmen zu Big Fun das erste Mal dabei. Er legte das Fundament, auf dem jeder aufbauen konnte, und dann hielt er den Groove bis in alle Ewigkeiten durch“, schrieb Miles später in seiner Autobiographie. Der Groove erreicht fast rauschhafte Dimensionen, verliert sich in dem breit ausgewalzten Keyboardflächen, taucht wie ein Phönix aus der Asche wieder empor und wird mit widerspenstigen und feurigen Trompetenstößen von Miles immer weiter angeheizt. Eine Endlosschleife, die während der gesamten fast zweiundzwanzig Minuten nichts von ihrer Spannung einbüßt.
Das längst Stück auf „Big Fun“ ist „Go Ahead John“, eine weitere Reverenz an den von Miles überaus geschätzten Gitarristen John Mclaughlin. Hier ist
Jack DeJohnette der tonangebende Schlagzeuger. Er webt auf Hi Hat und Snare ein dichtes wie strahlendes Netz rockbetonter Rhythmen, die zwischen linkem und rechtem Tonkanal ständig wechseln. Es klingt, als spiele DeJohnette gegen sich selbst an, als fordere er sein Ego zum Zweikampf heraus, wobei er sich in eine regelrecht rhythmische Tachykardie zu steigern droht.
Steve Grosman und Miles brillieren in ihren Beiträgen und bereiten den Boden für John McLaughlin, der dann eines seiner längsten und rüdesten Solos in Miles Band spielt.
Eine ganz eigenartige Stimmung entsteht dadurch, daß es technische Probleme mit dem Tonabnehmer des Gitarristen gab, wodurch die Aufnahme trotz ihrer kraftvollen Präsenz an Fragilität gewinnt und etwas eminent verletzliches ausstrahlt.
Der Mittelteil gehört dann dem Bassisten
Dave Holland und Miles, der dank der technischen Möglichkeiten in einen wunderschönen, melancholisch spirituellen Bluesdialog mit sich tritt. Langsam setzt ein Instrument nach dem anderen wieder ein, bis die Band zum Schluss wieder das treibende Energielevel der ersten Minuten erreicht.
Miles befand sich zweifellos auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Die Musikwelt lag ihm zu Füßen. Doch es gab immer wieder massive Auseinandersetzungen mit Kritikern, von denen er sich falsch interpretiert und nicht verstanden fühlte. Er gab besonders den weißen Journalisten falsche oder gar keine Auskünfte. Er wollte nichts und niemandem Rechenschaft über seine inneren Beweggründe geben – war aber andererseits von der Berichterstattung in der Presse nicht völlig unabhängig. Ein Konflikt, den er zeitweise noch bewußt anheizte und der ihm endgültig die Aura eines unnahbaren Künstlers, gespickt mit den Schrulligkeiten und Allüren eines Stars einbrachte.
Entsprechend stürzten sich die Medien auf seine gesellschaftlichen Fehltritte und schlachteten jede noch so simple und nichtssagende Äußerung des Trompeters schonungslos aus. Ganz dem Motto verpflichtend: Only bad news is good news.
Es war ein nicht ganz ungefährliches Spiel. Spielte Miles mit dem Rücken zum Publikum, weil er meinte, in einem bestimmten Bereich der Bühne den richtigen Sound zu finden, so war dies für manche Kritiker der eindeutige Beweis der Mißachtung gegenüber seines Publikums. Es gab Gerüchte, daß Miles mit seinen wechselhaften Launen seine Mitmusiker drangsalierte. Hingegen sprachen diese von einem Leader, der sensibel war und sich um die meisten Instrumentalisten seiner Band in einer sehr freundlich väterlichen Art bemühte.
Miles machte es wütend, daß das Finanzamt immer neue Forderungen an ihn stellte. Er fühlte sich bald von allen Seiten ausgenutzt und wollte nach eigenem Bekunden nur noch tun, was ihm Spaß machte. Es gab sogar das Gerücht, er wolle ganz aufhören Musik zu spielen – was vorerst noch nicht der Fall sein sollte.
(Aus: Jörg Konrad - Miles Davis: Die Geschichte seiner Musik, Bärenreiter 2008)
Miles Davis
„Big Fun“
Columbia
- Great Expectations/Orange Lady (rec. 1 November 1969 - Columbia Studio E)
* Miles Davis - trumpet
* Steve Grossman - soprano saxophone
* Bennie Maupin - bass clarinet
* John McLaughlin - electric guitar
* Khalil Balakrishna - electric sitar, tamboura
* Bihari Sharima - electric sitar, tamboura
* Herbie Hancock - electric piano
* Chick Corea - electric piano
* Ron Carter - double bass
* Harvey Brooks - Fender bass guitar
* Billy Cobham - drums
* Airto Moreira - percussion
- Ife (rec. 12 June 1972 - Columbia Studio E)
* Miles Davis - trumpet
* Sonny Fortune - soprano saxophone, flute
* Bennie Maupin - clarinet, flute
* Carlos Garnett - soprano saxophone
* Lonnie Liston Smith - piano
* Harold I. Williams, Jr. - piano
* Michael Henderson - double bass
* Al Foster - drums
* Billy Hart - drums
* Badal Roy - tabla
* James Mtume - African percussion
- Go Ahead John (rec. 3 March 1970 - Columbia Studio E)
* Miles Davis - trumpet
* Steve Grossman - soprano saxophone
* John McLaughlin - electric guitar
* Dave Holland - double bass
* Jack DeJohnette - drums
- Lonely Fire (rec. 28 November 1969 - Columbia Studio E)
* Miles Davis - trumpet
* Wayne Shorter - tenor saxophone
* Bennie Maupin - bass clarinet
* Khalil Balakrishna - sitar, Indian instruments
* Chick Corea - electric piano
* Joe Zawinul - electric piano, Farfisa organ
* Dave Holland - double bass
* Harvey Brooks - Fender bass guitar
* Jack DeJohnette - drums
* Billy Cobham - drums
* Airto Moreira - Indian instruments, percussion