Željko Kovacevic ist 15, als er sich in die wesentlich ältere Martha Gruber verliebt, bei der seine Mutter putzt. Er lebt mit seinen Eltern und zwei Geschwistern in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Seine Mutter hat mehrere Putzstellen und sein Vater arbeitet als Hausmeister und Bauarbeiter. In den 1990er Jahren sind seine Eltern aus der Herzegowina nach Deutschland eingewandert. Sie wollen gute Ausländer sein, und sie schuften für die Zukunft ihrer Kinder.
In „Jahre mit Martha“ lässt Martin Kordic den jungen Željko von seinem Leben erzählen. Der Roman ist zugleich eine Liebes-, Migrations- und Aufstiegsgeschichte.
Der Autor hat einen bosnischen Vater und eine deutsche Mutter und ist heute als Verlagslektor in München tätig. Natürlich ist viel eigenes Erleben in den Roman eingeflossen. Gleich zu Beginn benennt er die Motivation für sein Buch: Er glaubt, „dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land“. Es geht also um die Selbstvergewisserung von Einwandererkindern, die in Deutschland ihren Platz und ihre Identität suchen.
Željko, der Icherzähler des Romans, nennt sich Jimmy, weil das cooler klingt. Er ist ein kluger, patenter, wissbegieriger Junge, der einer werden will, den man nicht herumschieben kann. „Ich wollte bestehen in dieser Welt mit viel Luft und viel Glanz.“
Und er ist bereit, alles dafür zu tun.
Martin Kordi? schildert immer wieder präzise beobachtete Situationen, in denen Željko als Ausländer gedemütigt und diskriminiert wird. Trotz seiner hervorragenden Noten darf er zunächst nicht das Gymnasium besuchen, und auf dem Arbeitsamt empfiehlt man ihm, Gärtner zu werden. Eine Schlüsselszene ist ein Gespräch mit seinem Bruder Kruno. Željko erzählt ihm von seinem Traum, zu studieren. „Das ist nichts für Kinder wie uns“ antwortet Kruno. Die Tatsache, dass die Vorurteile der Gesellschaft auch von seiner Familie übernommen werden, und dass die eigene Herkunft als Makel erlebt wird, steigert Željkos Wut. Diese Wut ist sein Antrieb, zu lesen und zu lernen wie ein Besessener. Er angelt Zeitschriften aus Papiercontainern, legt Karteikarten mit unbekannten Wörtern an und ist häufig Gast in der Stadtbücherei. Denn Bildung ist für ihn der Schlüssel zum Erfolg.
Frau Gruber, bei der seine Mutter sauber macht, verkörpert alles, wonach Željko sich sehnt. Sie ist schön und selbstsicher, und vor allem ist sie gebildet. Martha, wie er sie bald nennt, lebt als Professorin in Heidelberg, und sie stellt ihn als Hausmeister ein. Sie nimmt ihn mit in die Oper, zeigt ihm die richtige Kleidung und interessiert sich für sein Leben. Und er liebt es, sie „beim Denken, beim Schreiben, beim Klugsein zu beobachten“.
Kordic schildert die heimliche Liebesgeschichte zwischen dem ungleichen Paar dezent und mit Humor, ohne jede Peinlichkeit und mit großer Wärme für die Figuren. Martha unterstützt Željko über viele Jahre auch finanziell und gibt ihm Halt. Doch bleibt das große Gefälle zwischen beiden immer bestehen. Martha ist zugleich Geliebte und sorgende Mutter, sie bestimmt die Häufigkeit und die Art ihrer Begegnungen. So bleibt in der Schwebe, ob die Liebe zu ihr nicht auch eine subtile Abhängigkeit bedeutet und Željkos Selbstfindung behindert.
Als Željko es tatsächlich schafft, einen Studienplatz in München zu ergattern, tritt als dunkles Gegenbild zu Martha sein Dozent Alex Donelli in sein Leben, ein Blender, der Željko als wissenschaftliche Hilfskraft für sich arbeiten lässt. Željko sucht sich in Martha und Donelli Ersatzeltern und Vorbilder, die seine eigenen Eltern nicht sein konnten. Der Aufstieg in die akademische Welt bedeutet gleichzeitig seinen Abstieg in die Depression. Er gerät ganz und gar in den Bann seines Lehrers, lässt sich manipulieren und ausnützen und wird schließlich brutal von Donelli fallen gelassen. In dem unbedingten Wunsch, in der Gesellschaft Erfolg zu haben, hat er seine eigene Herkunft verraten und sich selbst verloren.
Seine Einsamkeit und Verzweiflung fühlt er in den Gedichten der österreichischen Lyrikerin Hertha Kräftner ausgedrückt, die ihn schon lange begleiten. Sie hat sich mit 23 Jahren das Leben genommen. Doch Željkos Geschichte steuert auf ein versöhnliches Ende zu, wie er es schon am Anfang des Buches angekündigt hat. In all seiner Verwirrung und seiner Suche danach, was ihn ausmacht als Bosnier und als Deutscher, findet er zurück zu seinen Ursprüngen und seiner Familie. „Heute weiß ich, dass mir in Deutschland die Vorbilder gefehlt hatten,…die mir hätten zeigen können, wie mit all dem gut umzugehen wäre. Es war an uns, zu versuchen, diese Vorbilder selbst zu sein für die, die nach uns kommen.“
Martin Kordic hat ein schönes, berührendes Buch geschrieben über ein Migrantenkind zwischen Bildungsaufstieg und Selbstaufgabe; ein Buch, das zugleich melancholisch, wütend und auch ein wenig hoffnungsvoll ist.
Lilly Munzinger, Gauting
Martin Kordic
„Jahre mit Martha“
S. Fischer