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7. Martin Kordic „Jahre mit Martha“
8. Inge Morath „Hommage“
9. Sandra Kegel (Hrsg.) „Prosaische Passionen“
10. Guido Zingerl „Das Narrenschiff“ & „Das Geheimnis der Griechischen E...
11. Ian McEwan „Lektionen“
12. Andrea Wulf „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindun...
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Mittwoch 22.03.2023
Martin Kordic „Jahre mit Martha“
Željko Kovacevic ist 15, als er sich in die wesentlich ältere Martha Gruber verliebt, bei der seine Mutter putzt. Er lebt mit seinen Eltern und zwei Geschwistern in einer Zweizimmerwohnung in Ludwigshafen. Seine Mutter hat mehrere Putzstellen und sein Vater arbeitet als Hausmeister und Bauarbeiter. In den 1990er Jahren sind seine Eltern aus der Herzegowina nach Deutschland eingewandert. Sie wollen gute Ausländer sein, und sie schuften für die Zukunft ihrer Kinder.
In „Jahre mit Martha“ lässt Martin Kordic den jungen Željko von seinem Leben erzählen. Der Roman ist zugleich eine Liebes-, Migrations- und Aufstiegsgeschichte.
Der Autor hat einen bosnischen Vater und eine deutsche Mutter und ist heute als Verlagslektor in München tätig. Natürlich ist viel eigenes Erleben in den Roman eingeflossen. Gleich zu Beginn benennt er die Motivation für sein Buch: Er glaubt, „dass wir uns mehr Geschichten erzählen sollten über uns in diesem Land“. Es geht also um die Selbstvergewisserung von Einwandererkindern, die in Deutschland ihren Platz und ihre Identität suchen.
Željko, der Icherzähler des Romans, nennt sich Jimmy, weil das cooler klingt. Er ist ein kluger, patenter, wissbegieriger Junge, der einer werden will, den man nicht herumschieben kann. „Ich wollte bestehen in dieser Welt mit viel Luft und viel Glanz.“
Und er ist bereit, alles dafür zu tun.
Martin Kordi? schildert immer wieder präzise beobachtete Situationen, in denen Željko als Ausländer gedemütigt und diskriminiert wird. Trotz seiner hervorragenden Noten darf er zunächst nicht das Gymnasium besuchen, und auf dem Arbeitsamt empfiehlt man ihm, Gärtner zu werden. Eine Schlüsselszene ist ein Gespräch mit seinem Bruder Kruno. Željko erzählt ihm von seinem Traum, zu studieren. „Das ist nichts für Kinder wie uns“ antwortet Kruno. Die Tatsache, dass die Vorurteile der Gesellschaft auch von seiner Familie übernommen werden, und dass die eigene Herkunft als Makel erlebt wird, steigert Željkos Wut. Diese Wut ist sein Antrieb, zu lesen und zu lernen wie ein Besessener. Er angelt Zeitschriften aus Papiercontainern, legt Karteikarten mit unbekannten Wörtern an und ist häufig Gast in der Stadtbücherei. Denn Bildung ist für ihn der Schlüssel zum Erfolg.
Frau Gruber, bei der seine Mutter sauber macht, verkörpert alles, wonach Željko sich sehnt. Sie ist schön und selbstsicher, und vor allem ist sie gebildet. Martha, wie er sie bald nennt, lebt als Professorin in Heidelberg, und sie stellt ihn als Hausmeister ein. Sie nimmt ihn mit in die Oper, zeigt ihm die richtige Kleidung und interessiert sich für sein Leben. Und er liebt es, sie „beim Denken, beim Schreiben, beim Klugsein zu beobachten“.
Kordic schildert die heimliche Liebesgeschichte zwischen dem ungleichen Paar dezent und mit Humor, ohne jede Peinlichkeit und mit großer Wärme für die Figuren. Martha unterstützt Željko über viele Jahre auch finanziell und gibt ihm Halt. Doch bleibt das große Gefälle zwischen beiden immer bestehen. Martha ist zugleich Geliebte und sorgende Mutter, sie bestimmt die Häufigkeit und die Art ihrer Begegnungen. So bleibt in der Schwebe, ob die Liebe zu ihr nicht auch eine subtile Abhängigkeit bedeutet und Željkos Selbstfindung behindert.
Als Željko es tatsächlich schafft, einen Studienplatz in München zu ergattern, tritt als dunkles Gegenbild zu Martha sein Dozent Alex Donelli in sein Leben, ein Blender, der Željko als wissenschaftliche Hilfskraft für sich arbeiten lässt. Željko sucht sich in Martha und Donelli Ersatzeltern und Vorbilder, die seine eigenen Eltern nicht sein konnten. Der Aufstieg in die akademische Welt bedeutet gleichzeitig seinen Abstieg in die Depression. Er gerät ganz und gar in den Bann seines Lehrers, lässt sich manipulieren und ausnützen und wird schließlich brutal von Donelli fallen gelassen. In dem unbedingten Wunsch, in der Gesellschaft Erfolg zu haben, hat er seine eigene Herkunft verraten und sich selbst verloren.
Seine Einsamkeit und Verzweiflung fühlt er in den Gedichten der österreichischen Lyrikerin Hertha Kräftner ausgedrückt, die ihn schon lange begleiten. Sie hat sich mit 23 Jahren das Leben genommen. Doch Željkos Geschichte steuert auf ein versöhnliches Ende zu, wie er es schon am Anfang des Buches angekündigt hat. In all seiner Verwirrung und seiner Suche danach, was ihn ausmacht als Bosnier und als Deutscher, findet er zurück zu seinen Ursprüngen und seiner Familie. „Heute weiß ich, dass mir in Deutschland die Vorbilder gefehlt hatten,…die mir hätten zeigen können, wie mit all dem gut umzugehen wäre. Es war an uns, zu versuchen, diese Vorbilder selbst zu sein für die, die nach uns kommen.“
Martin Kordic hat ein schönes, berührendes Buch geschrieben über ein Migrantenkind zwischen Bildungsaufstieg und Selbstaufgabe; ein Buch, das zugleich melancholisch, wütend und auch ein wenig hoffnungsvoll ist.
Lilly Munzinger, Gauting

Martin Kordic
„Jahre mit Martha“
S. Fischer
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Freitag 10.03.2023
Inge Morath „Hommage“
Sie hat Marilyn Monroe fotografiert, Jean Cocteau, Igor Stravinsky, Picasso, Simon Signoret, Alberto Giacometti, Arthur Miller - auch als er noch nicht ihr Ehemann war - und viele andere bekannte Persönlichkeiten ihrer Zeit. Trotzdem gehört das Lama, das im Auto über den New Yorker Times Square chauffiert wird, vielleicht zu ihren bekanntesten „Porträts“. Inge Morath, geboren 1923 in Graz, war aber weit mehr als eine gefragte Adresse für die Prominenz, wenn es sich um Porträt-Aufnahmen handelte. Als erste Frau, die als Vollmitglied für die Fotoagentur Magnum arbeitete wurde sie durch ihre Reisefotografien bekannt und geachtet, die sie von Expeditionen aus Afrika, dem Nahen und Mittleren Osten, der Sowjetunion oder China mitbrachte. Arthur Miller befand, sie öffne mit der Kamera „die Seele eines Motivs“. Sie selbst schätzte ihre Arbeit einmal wie folgt ein: „Man traut seinem Auge und entblößt seine Seele“
In Berlin hat die Österreicherin Romanistik mit den Sprachen Französisch, Englisch und Rumänisch studiert, wurde 1944/45 zur Arbeit in einer Rüstungsfabrik in Tempelhof zwangsverpflichtet und flieht während eines Bombenangriffs nach Salzburg. Hier arbeitete sie als Übersetzerin und Journalistin für die Salzburger Nachrichten und einem US-amerikanisch kontrollierten Radiosender.
Ab März 1948 erscheinen in der Illustrierten HEUTE Reportagen von ihr, gemeinsam mit dem österreichischen Fotografen Ernst Haas. Robert Capa wurde auf eine hier veröffentlichte Reportage über Kriegsheimkehrer aufmerksam und lud Haas und Ingeborg Mörath, wie die Autorin des Beitrags damals mit bürgerlichem Namen hieß, nach Paris ein. Beide wurden in der zwei Jahre zuvor gegründeten unabhängigen Fotografen-Agentur Magnum als Mitarbeiter eingestellt.
Inge Morath wurde kurze Zeit darauf als Autorin und Büromitarbeiterin nach London versetzt.
Mit dem Fotografieren begann sie mit knapp dreißig Jahren. Während einer Venedig-Reise kaufte sie sich eine gebrauchte Leica und durchstreifte begeistert die Lagunenstadt. Sie hospitierte bei Simon Guttmann und Henri Cartier-Bresson und wurde ab 1955 von Magnum für weltweite Reportagefotos, die in Magazinen wie „Life“ oder „Paris Match“ erschienen, beschäftigt.
Bis kurz vor ihrem Tod, 2002 in New York, hat Inge Morath an Aufträgen gearbeitet. So galt eines ihrer letzten Projekte den Opfern des Terroranschlags auf New York am 11. September 2001.

Der nun vorliegende prachtvolle Bildband „Hommage“ gibt einen fotografischen Einblick in die Seele einer Künstlerin, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das für sie Unaussprechliche sichtbar zu machen. „Ich hatte nach dem Krieg oft unter der Tatsache gelitten, dass Deutsch meine Muttersprache, für den Großteil der Welt die Sprache des Feindes war. Obwohl ich Artikel auch auf Englisch und Französisch schreiben konnte, trafen sie nicht den Kern. So war die Zuwendung zum Bild eine Notwendigkeit und eine Erleichterung.“ (Inge Morath, Das Leben einer Photographin, Wien 1999)
Jörg Konrad

Inge Morath
„Hommage“
Schirmer-Mosel


Derzeit ist im Kunstfoyer der Versicherungskammer Kulturstiftung (Warngauer Str. 30, 81539 München-Giesing) zum 100. Geburtstag der berühmten Magnum-Fotografin die Ausstellung „INGE MORATH HOMAGE“ zu sehen. Sie entstand in Zusammenarbeit mit dem Inge Morath Estate, kuratiert von Anna-Patricia Kahn und Isabel Siben.
(https://www.versicherungskammer-kulturstiftung.de/)

Abbildungen:

- Inge Morath, Selbstportrait, 1960
© Inge Morath/Magnum Photos/ courtesy CLAIRbyKahn, Schirmer/Mosel Verlag
- Pablo Picasso bei der Einweihung eines seiner Wandbilder im UNESCO-Gebäude. Paris, 1958
© Inge Morath/Magnum Photos/ courtesy CLAIRbyKahn, Schirmer/Mosel Verlag
- Ein Lama am Times Square. New York, 1957
© Inge Morath/Magnum Photos/ courtesy CLAIRbyKahn, Schirmer/Mosel Verlag

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Dienstag 28.02.2023
Sandra Kegel (Hrsg.) „Prosaische Passionen“
Besonders deutlich zeigt sich die öffentliche männliche Dominanz innerhalb der Literatur, ruft man die Nobelpreisträger dieser Sparte der letzten sechs Jahrzehnte ab: Von den insgesamt 62 Gewinnern sind nur 12 Frauen. Das wären nur ein Fünftel weibliche Autoren! Nun geht es ganz sicher nicht darum, anhand von Quotenregulungen dieses Missverhältnis zu egalisieren. Doch es dürfte allen Literaturinteressierten klar sein, dass der Anteil schreibender Frauen weitaus größer ist. Von der Qualität der Texte einmal ganz zu schweigen. Denn die literarische Moderne ist nun wirklich keine exklusive Männerdomäne!
Dies ist mit Sicherheit auch einer der Gründe, weshalb Sandra Kegel mit ihrem umfangreichen Werk „Prosaische Passionen“ ein erstes weibliches Weltpanorama der Literatur vorlegt. Auf fast tausend Seiten stellt die in Aix-en-Provence, Wien und Frankfurt am Main studierte Literaturwissenschaftlerin und heutige Leiterin des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 101 Autorinnen anhand von Kurzgeschichten vor. Sämtliche Arbeiten entstanden nach 1900, von zum Teil bekannten, dem Klassikerkanon zugehörigen Autorinnen, aber auch von Schriftstellerinnen, die es erst noch zu entdecken gilt. Einige der Texte sind Erstübersetzungen, aus dem Arabischen, Chinesischen, Koreanischen, Norwegischen, Spanischen, Russischen oder Hebräischen.
Es ist eine breite motivische und stilistische Vielfalt, die hier an Beispielen von Anna Seghers, Carson McCullers, Patricia Highsmith, Maria Luisa Bombal, Rashid Jahan, Sigrid Undset, Gertrude Stein, Ricarda Huch u.v.a. präsentiert werden.
„Prosaische Passionen“ kann als ein fulminantes Fest weiblichen Schreibens gelesen werden. Diese über 50 Short Stories aus fünf Kontinenten sind ein literarisches Ereignis, das jedes Entdeckerfieber mit Lesevergnügen belohnt. Einem Kompass ähnlich und hilfreich ist das Quellenverzeichnis sowie kurze biographische Notizen der Autorinnen. Ein Buch für jede Tages-, Nacht- und Jahreszeit.
Jörg Konrad

Sandra Kegel (Hrsg.)
„Prosaische Passionen“
Die weibliche Moderne in 101 Short Stories
Manesse Verlag
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Samstag 25.02.2023
Guido Zingerl „Das Narrenschiff“ & „Das Geheimnis der Griechischen Eule“
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Am Donnerstag starb 90jährig der Maler und Zeichner Guido Zingerl

Altersmilde? Aber nicht Guido Zingerl. Schließlich ist die Welt zu sehr aus den Fugen, gibt es zu viel Ungerechtigkeit als auch Aufklärungsbedarf. Solange der 1933 in Regensburg Geborene als Maler, Zeichner, Karikaturist tätig ist, hat er gegen jede Form der sozialen Benachteiligung und politischen Willkür öffentlich angekämpft. Und, das versteht sich von selbst, dabei Haltung bewahrt. Selbst auf die Gefahr hin, mit seiner Arbeit eher zu provozieren als Probleme solidarisch weichzuzeichnen.
Dafür hat er die Finger zu tief in den offenen Wunden der Gesellschaft und sind die Schwachstellen in Politik und Gesellschaft für ihn zu spürbar. Sein Gerechtigkeitssinn macht's möglich.
Erst im letzten Jahr hat der seit über vier Jahrzehnten in Fürstenfeldbruck lebende Künstler einen umfangreichen Bilderzyklus unter dem Titel „Das Narrenschiff“ vorgelegt. Dabei handelt es sich um „40 gemalte und gezeichnete Parabeln auf die Unbelehrbarkeit des Menschen“. Wer sich nur ein wenig in der Geschichte der Menschheit auskennt, wird wissen: Ein unendliches Thema.
Zingerl, der mit bürgerlichem Namen Heinrich Scholz heißt, bezieht sich in dieser umfangreichen Arbeit auf die moralische Klageschrift gleichen Namens von Sebastian Brandt aus dem Jahr 1494, dem erfolgreichsten deutschsprachigen Buch vor der Reformation, mit Holzschnitten von Albrecht Dürer.
Der Mensch hat bis heute nichts von seinen dunklen amoralischen Eigenschaften, die man unter den Begriffen Macht, Habgier und Egoismus zusammenfassen kann, verloren. Vielleicht sind manche dieser Eigenschaften glatt geschliffen, sind heutzutage verfeinert, sind einer postmodernen wie auch demokratisch motivierten Frischenzellenkur durchlaufen. Doch die Kritik daran ist bis heute gleich geblieben. Dank Menschen wie Guido Zingerl, der Kunst auch immer als Waffe der Aufklärung versteht.
Zingerl hat keine Berührungsängste, beschäftigt sich in seinen neuen Arbeiten kritisch mit Kirche und Klimawandel, mit der Nazizeit und deren Erben, die besonders in den heutigen Tagen wieder aktiv sind, mit der Flüchtlingskrise, den Weltverschwörungsmythen der Gegenwart, als auch mit den furchtbaren Auswirkungen des Kapitalismus in den sogenannten Entwicklungsländern. Er zeigt die Welt ungeschönt und real und klagt mit seinen Bildern konsequent jene an, die für diesen Zustand verantwortlich sind: Uns Menschen.
Egal ob Zingerl mit Acryl malt, ob er zeichnet oder Karikaturen entwirft – er arbeitet mit scharfen Schnitten, nutzt grelle Farben, fordert mit Inhalten massiv heraus. Er ist schonungslos in seiner Analyse und trotzdem kommt der Humor nicht zu kurz. Auch wenn manches Lachen bei genauerer Betrachtung im Halse stecken bleibt. Er kreuzigt Marx, verballhornt die Bürokratie, zeigt Narren als Narren (US-Präsident D. Trump). Immer wieder lassen sich auf seinen Bildern neue Details entdecken, erkennt man Hintergründiges, wird Widersprüchliches deutlich.
In einem anderen jetzt erschienenen Band spannt Guido Zingerl unter dem Titel „Das Geheimnis der Griechischen Eule – Asam, Apollon, Amper“ einen Bogen von der antiken Mythologie bis in unsere Gegenwart. Grund für seinen überwältigenden Historienblick ist das zehnjährige Jubiläum der Wiedereröffnung des Churfürstensaales im Kloster Fürstenfeld. Zingerl hat keine Mühe, vom Maler und Bildhauer Hans Georg Asam über seine Figur des griechischen Helden Herakles, den weiblichen Gottheiten des Olymp und dem Gott des Lichts, der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung Appolon einen gewaltigen Bogen bis in die Neuzeit zu spannen. Da wird Sisyphos als Zwangsarbeiter beim Bau der Klosterkirche Fürstenfeld ins Spiel gebracht, ebenso wie die Vergangenheitsbewältigung der Polizeischule im Kloster. Da kreisen Kampf-Drohnen neben dem geflügelten Pegasus am Himmel über dem Fliegerhorst und Kassandra mahnt zeitig vor dem Trojanischen Pferd, Nationalismus und Krieg. Zingerl entwirft mit spitzem Stift die Szenen, erläutert in kurzen Texten die verdichtete Historie, mit all ihren Paradoxen und Entsetzen. Im Grunde ist alles ganz einfach und fix auf einen Nenner gebracht: Ohne Auseinandersetzung keinen Frieden. Und genau aus diesem Grund sind beide Bücher zu empfehlen. Gerade zum Weihnachtsfest!!!
Jörg Konrad
(Artikel vom 20. Dezember 2020, erschienen in KultKomplott)
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Freitag 10.02.2023
Ian McEwan „Lektionen“
Das Besondere an Ian McEwans neuem Roman ist, dass er im Grunde wenig Neues erzählt. Die Rahmenhandlung in „Lektionen“ besteht aus europäischen Streifzügen durch die letzten Jahrzehnte. McEwan stellt das Leben seiner Hauptperson, wie das seiner eigenen Generation, in die Abfolge von geschichtlichen und politischen Ereignissen. Roland Baines, anfangs verheiratet und Vater eines Sohnes, gehört eher zu den entscheidungsarmen Zeitgenossen, die zwar einiges Talent in sich tragen (Barpianist, Tennisspieler und Gelegenheitsautor), doch letztendlich diese Anlagen, auch aufgrund etlicher persönlicher Zweifel, Unsicherheiten und Aufgabenbereiche, in keine berufliche, oder sonst wie geartete Karriere einfließen lassen.
Es wird beschrieben, wie Roland Baines in seinem Leben als alleinerziehender Vater mit entscheidenden gesellschaftlichen Themen konfrontiert wird - oder diese flüchtig streift - so dass anfangs immer der Anschein entsteht, der Handlung fehle es an klärender Tiefe, an mitreißender Spannung. Alles bleibt, trotz gewisser Ereignisse und Vorfälle, an der Oberfläche emotionaler Verarbeitungen.
Hinzu kommen Zeitsprünge, die ebenso dazu beitragen, keine wirklich fesselnde Stimmung in Form von dramaturgisch mitreißenden Atmosphären aufkommen zu lassen. Es gibt Bezüge zum 2. Weltkrieg, zum Widerstandskampf der Weißen Rose, zur Stationierung von Atomraketen auf Kuba, zur Teilung Deutschlands und dem Fall der Mauer, zur Aufarbeitung der Stasidiktatur und der RAF-Historie, zur Tschernobyl-Katastrophe, der Zunahme von demenziellen Krankheiten, die Klimakatastrophe, natürlich zum Brexit, bis hin zu den gesellschaftlichen Verwerfungen in Bezug auf die Coronapandemie und den dazugehörigen Lockdowns. Man möchte ausrufen: Weniger wäre wahrscheinlich mehr.
Doch dann gelingt es McEwan, nach gut der Hälfte des Buches, die unterschiedlichen, meist kurz gewebten und wieder fallengelassenen Maschen aufzuheben, sie zu bündeln und alles untereinander wieder neu zu verknüpfen. Plötzlich bietet das Buch zwischen Rückblicken und Horizonten Ereignisse, bekommen die Gesichter deutlichere Charaktere, scheint das Trauma des frühen kindlichen Missbrauchs der Hauptfigur in der Folge eine konkretere Rolle zu spielen. Konflikte werden real spürbarer, deren Bearbeitungen fesseln ungemein. Baines erlernt, erkennt und verarbeitet letztendlich die Lektionen seines Lebens.
Behauptet man, dieses Buch handele vom Altern, so ist dies genauso richtig, wie die Geschichte auch als ein Beleuchten und Aufarbeiten des eigenen Lebens verstanden werden kann. Denn mit den steten Rückblicken und wiederum deren Verknüpfung mit der Gegenwart, kann man „Lektionen“ auch als eine Art Lebensanalyse lesen - in emotionaler Offenheit geschrieben und durch wohltuendes Fehlen jedes moralischen Anspruchs brillant in der Wirkung.
Doch „Lektionen“ ist auch ein Buch über Beziehungen, die sich innerhalb und außerhalb der eigenen Familie abspielen und von bestimmten gesellschaftlich determinierten Zeiten und politischen Geschehnissen abhängig zu sein scheinen. Jedes Miteinander wird auf harte Proben gestellt, Differenzen korrigiert oder ausgelebt. Bleiben sie ungeahnt, verändern sich Beziehungen für den Rest des Lebens. Die Familie als Herausforderung und Chance zugleich.
Jörg Konrad

Ian McEwan
„Lektionen“
Diogenes
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Dienstag 17.01.2023
Andrea Wulf „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“
Die deutsch-englische Kulturhistorikerin Andrea Wulf hat mit ihrem Buch über Alexander von Humboldt, das vor einigen Jahren erschienen ist, einen internationalen Bestseller geschrieben. Nun hat sie sich einer Gruppe von Dichtern und Philosophen zugewendet, zu denen Alexander von Humboldt immer wieder engen Kontakt hatte. In „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ erzählt sie von dem sogenannten Jenaer Kreis, der in wenigen Jahren das deutsche Geistesleben revolutioniert hat.
Andrea Wulf versteht es fabelhaft, Philosophie- und Literaturgeschichte lebendig zu machen. Mit ihrem erzählerischen Ansatz fühlt sie sich in die Zeit ein, schildert anschaulich, detailreich und empathisch die Kleinstadt Jena um 1800 und die jungen visionären Denker, die sich hier versammelten, die diskutierten und schrieben, sich liebten und stritten, und die alle den Wunsch hatten, die Welt zu verändern. Es war, wie Wulf sagt, „der turbulenteste Freundeskreis der Geistesgeschichte“.
Im 18. Jahrhundert wurden die Länder Europas absolutistisch regiert. Deutschland zerfiel in mehr als 1500 Einzelstaaten, in denen die Macht von Fürsten, Herzögen und Bischöfen ausgeübt wurde. In diese durch Kirche und Staat reglementierte Ordnung, die von ihren Untertanen absoluten Gehorsam verlangte, brachen Ende des Jahrhunderts die Ideale der Französischen Revolution ein. Die Idee der Freiheit kam in die westliche Welt.
In den 1790-er Jahren übte Jena auf junge Dichter und Denker eine besondere Anziehungskraft aus. Die Universität galt als die liberalste in ganz Deutschland. In Jena lebte Schiller, und der von allen bewunderte Goethe kam aus dem benachbarten Weimar häufig zu Besuch. Er war es auch, der eine Professur von Johann Gottlieb Fichte in Jena befürwortete. Vor begeisterten Studenten entfaltete Fichte nun seine Gedanken. Er bezeichnete die Französische Revolution als „hereinbrechende Morgenröthe“ eines neuen Zeitalters. Der Philosoph erklärte das Ich zum Ausgangspunkt aller Erkenntnis.
Die geistige Elite Deutschlands folgte Fichte nach Jena. Alle stellten sie die Freiheit des schöpferischen, selbstbestimmten Ich in den Mittelpunkt ihres Denkens, Schaffens und Lebens. Zu den jungen Rebellen gehörten Wilhelm und Caroline von Humboldt, der Sprachwissenschaftler Wilhelm August Schlegel, seine Frau Caroline und sein Bruder Friedrich, die Schriftstellerin Dorothea Veit, der Dichter Novalis und die Philosophen Schelling und Hegel. Caroline Schlegel nannte Jena „das Königreich der Philosophie“, und das Haus, das sie zusammen mit ihrem Mann bewohnte, war das Zentrum des Kreises.
Andrea Wulf hat für ihre Recherche unzählige Briefe und Zeitdokumente ausgewertet. Alle Äußerungen sind belegt, und doch liest sich ihr Buch nie trocken. Im Gegenteil, der Autorin ist ein mitreißendes Bild von Carolines Salon gelungen und von dem Enthusiasmus, der alle beflügelte.
Die frühen Romantiker beklagten die Entzauberung der Welt durch die Aufklärung. Der einseitigen Betonung von Vernunft und Nützlichkeit setzten sie Phantasie, Gefühl und Spiritualität entgegen, und sie postulierten die Einheit von Kunst und Wissenschaft, von Mensch und Natur.
Zum Jenaer Kreis gehörten einige hochgebildete Frauen, die sich häufig über gesellschaftliche Konventionen hinwegsetzten. Caroline Schlegel, später verheiratete Schelling, ist für Andrea Wulf die „Inkarnation des ermächtigten freien Ich“. Als junge Witwe wurde sie, schwanger von einem französischen Soldaten, wegen ihrer Sympathien für die Französische Revolution für einige Monate inhaftiert. Vor der gesellschaftlichen Ächtung bewahrte sie die Ehe mit August Wilhelm Schlegel, mit dem sie Shakespeares Dramen ins Deutsche übersetzte. Als der wesentlich jüngere Philosoph Friedrich Schelling nach Jena zog, lebte sie mit ihm in einer offenen Beziehung, die von ihrem Mann geduldet wurde. Skandale, offene Ehen, erotische Libertinage waren überhaupt kennzeichnend für die Frühromantiker. Der Dichter Ludwig Tieck nannte den Haushalt der Schlegels einmal „eine einzige Schweinewirtschaft“.
Natürlich konnte das Zusammenleben der jungen Individualisten keinen Bestand haben. Neid, Eifersucht, heftige Streitereien entzweiten die Gruppe. Doch ihre Ideen wirkten weit über die Grenzen Deutschlands hinaus. Französische, englische, amerikanische, russische Dichter und Künstler wurden von ihnen beeinflusst, wie Andrea Wulf darlegt. Sie ließen sich von Schellings Gedanken der Einheit von Geist und Materie oder von Alexander von Humboldts Vorstellung von der Natur als lebendigem Organismus inspirieren. Die Idee vom selbstbestimmten Ich und dem freien Willen, wie Fichte sie formuliert hat, prägt unser Selbstverständnis bis heute.
Lilly Munzinger, Gauting

Andrea Wulf
„Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“
C. Bertelsmann
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Autor: Siehe Artikel
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