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1. Alba de Céspedes „Das verbotene Notizbuch“
2. Karl Alfred Loeser „Requiem“
3. Anders Petersen „Café Lehmitz“
4. Claire Keegan „Das dritte Licht“
5. Klaus Doldinger „Made in Germany – Mein Leben und meine Musik“
6. Knut Hamsun „Hunger“
Bilder
Dienstag 06.06.2023
Alba de Céspedes „Das verbotene Notizbuch“
Ein Zimmer für sich allein forderte Virginia Woolf vor fast 100 Jahren für jede Frau. Ihr Text wurde zu einem Klassiker der Frauenbewegung, und das vielzitierte Schlagwort zu einer Metapher für den Wunsch nach Privatsphäre und der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. Die Protagonistin von Alba de Céspedes´ Roman „Das verbotene Notizbuch“ hat kein Zimmer für sich allein; es gibt nicht einmal eine Nische in ihrer Wohnung, in der sie ungestört ihr Tagebuch führen kann. Meist schreibt sie nachts, wenn alle schlafen.
„Das verbotene Notizbuch“ ist 1952 zum ersten Mal erschienen und war lange in Vergessenheit geraten. Im Zuge der Wiederentdeckung von bedeutenden weiblichen Stimmen der Literaturgeschichte wurden in den letzten Jahren auch die Bücher der italienisch- kubanischen Autorin Alba de Céspedes wieder aufgelegt und neu übersetzt. Ihre Werke, die aus explizit weiblicher Sicht geschrieben sind, waren Vorbilder und Inspiration für Autorinnen wie Annie Ernaux und Elena Ferrante.
Alba de Céspedes, Kosmopolitin, Antifaschistin und Feministin, war eine der wichtigsten Autorinnen Italiens des 20. Jahrhunderts. 1911 wurde sie in Rom geboren,1997 starb sie in Paris. Ihren ersten Roman versuchten die italienischen Faschisten vergeblich zu verbieten, da ihnen die Heldin der Geschichte zu selbstbewusst und emanzipiert erschien.
In „Das verbotene Notizbuch“ lesen wir dagegen die Aufzeichnungen einer unauffälligen, bescheidenen Frau. Die Autorin wollte hier eine typische Italienerin der 1940-er und 50-er Jahre porträtieren. Valeria Cossati ist 43 Jahre alt und seit über 20 Jahren mit Michele, einem Bankangestellten, verheiratet. Das Paar lebt scheinbar zufrieden mit seinen beiden fast erwachsenen Kindern in Rom. Um das Gehalt ihres Mannes aufzubessern, arbeitet Valeria nebenbei als Büroangestellte. Eines Tages kauft sie sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, ein schwarzes Heft, in das sie nun minutiös ein halbes Jahr lang ihre Gedanken, Gefühle und Alltagserlebnisse einträgt. Das tut sie heimlich und mit heftigen Schuldgefühlen. Denn das Schreiben über ihr Leben, von dem sie nicht lassen kann, setzt eine Bewusstwerdung in Gang. Zunehmend erkennt sie, dass sie mit ihrem eingeengten Dasein unzufrieden ist. Sie fühlt sich aufgerieben zwischen ihren Verpflichtungen als Hausfrau, Ehefrau und Mutter. Sie hat keinen Raum und keine Zeit für sich, und sogar ihren Namen Valeria hat sie verloren. Seit einigen Jahren nennt auch ihr Mann sie nur noch Mama. Ist sie denn nicht immer noch eine hübsche Frau und nicht zu alt für Romantik? Sie sucht sich kleine Fluchten, kauft ihrem Mann und ihren Kindern Fußballkarten, um allein in der Wohnung sein und schreiben zu können und fängt an, ihre Familie zu belügen. Ihrem Tagebuch vertraut sie an, wie sie und ihr Chef sich immer näher kommen. Samstags täuscht sie Arbeit vor, um sich mit ihm im Büro zu treffen, und schließlich planen beide einen gemeinsamen heimlichen Urlaub in Venedig.
Von Anfang an wird Valeria von der fast panischen Angst verfolgt, dass jemand aus der Familie ihr Tagebuch lesen und sie entlarven könnte. Denn so sehr sie unter ihrer Rolle als aufopferungsvolle Hausfrau und hingebungsvolle Mutter ohne eigene Wünsche leidet, so sehr braucht sie das Bild, das die Gesellschaft und ihre Familie von ihr haben. „Wie oft beklage ich mich, zu viel zu tun zu haben, im Joch der Familie und des Haushalts zu stehen, nie ein Buch lesen zu können. All das ist wahr, doch ist dieses Joch gleichsam zu meiner Stärke geworden, zum Heiligenschein meines Martyriums.“ Mit einem schonungslosen Blick auf sich selbst bekennt sie in ihrem Tagebuch, dass sie in Wirklichkeit durch ihre Aufopferung ein Kapital aufhäufen will, das ihr die Menschen ihrer Umgebung durch Bewunderung und Dankbarkeit zurückzahlen müssen. Alba de Céspedes zeigt, wie die unterdrückten, nicht ausgelebten Bedürfnisse einer Frau in Härte und Groll umschlagen.
Die Autorin hat mit großem Scharfblick eine sehr ambivalente Frauenfigur geschaffen. Es ist eine Stärke des Romans, dass es kein Schwarz-Weiß gibt. Valeria wird einerseits als Opfer von Erwartungen und Normen ihrer Zeit gezeichnet; und doch hat sie das Frauenbild und die engen moralischen Vorstellungen, die sie unglücklich machen, selbst verinnerlicht, und sie bleibt ihnen verhaftet. Das zeigt sich vor allem in ihrer Beziehung zu ihrer Tochter. Als sie entdeckt, dass Mirella ein Verhältnis mit einem verheirateten Anwalt hat und mit ihm zusammen eine Karriere als Juristin plant, schreckt Valeria aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung weder vor hemmungsloser Überwachung noch vor körperlicher Bestrafung zurück. Ihrer Tochter gönnt sie den Aufbruch nicht, den sie sich selbst wünscht und zu dem sie nicht den Mut aufbringt.
Dem Roman „Das verbotene Notizbuch“ gelingt ein eindrucksvolles Gesellschaftsbild der Nachkriegszeit in Italien und zugleich das Porträt einer Frau, die zerrissen ist zwischen den Traditionen ihrer Elterngeneration und dem Ruf nach Veränderung, der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Lilly Munzinger, Gauting

Alba de Céspedes
„Das verbotene Notizbuch“
Insel
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Montag 22.05.2023
Karl Alfred Loeser „Requiem“
Nachdem in Deutschland 1933 aufgrund des Gesetzes zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ jüdische Musiker aus staatlichen und städtischen Orchestergräben diskreditiert wurden, gab es schon zwei Jahre später so gut wie keine jüdischen Künstler mehr in offiziellen Musikbetrieben. Diese Entwicklung bringt Loeser in seinem packenden, mahnenden und anklagenden Roman „Requiem“ eindrucksvoll zum Ausdruck.
Die Geschichte ist in den 1930er Jahren in einer westfälischen Kleinstadt angelegt. Im dortigen Symphonieorchester spielt der jüdische Cellist Erich Krakau. Der 22-jährige Sohn des ortsansässigen Bäckers, Fritz Eberle, selbst Mitglied der SA, spielt ebenfalls Cello, und will, mehr oder weniger freiwillig, in die musikalischen Fußstapfen seines Onkels treten, dem Leiter der Musikschule vor Ort.
Auch wenn sein musikalisches Talent überschaubar bleibt, will Eberle die Stelle Krakaus einnehmen. Getrieben von Hass und Missgunst und unterstützt von der schon deutlich spürbaren antijüdischen Propaganda, beginnt die öffentliche Denunziation und Hetzjagd Erich Krakaus, der sich letztendlich entschließt zu emigrieren.
Die von Ohnmacht und Machtmissbrauch gekennzeichneten Verhaltensweisen der handelnden Personen, die tagtäglichen Intrigen und der Opportunismus, denen speziell Erich Krakau ausgesetzt ist, bestimmen das zwischenmenschliche Klima dieses Romans. Loeser beschreibt diese Situation mit psychologischem Feingefühl, aber auch mit der beklemmenden Klarheit, für die sich verändernden Machtverhältnisse.
Loeser hat den heraufziehenden Nationalsozialismus in seiner ganzen menschenverachtenden Ideologie früh erkannt. Er zog für sich und seine Familie die Konsequenzen und emigrierte 1934 über Amsterdam nach Sao Paulo, wo er in dem erst jetzt posthum erschienen Roman die Gründe seiner Flucht mit diesem eindrucksvollen und anklagenden Text literarisch verarbeitete. Seine Familie fand dieses Manuskript erst nach seinem Tod 1999. Vielleicht lag seine Zurückhaltung auch daran, dass er sich in Südamerika nie wirklich frei und sicher fühlte. Denn obwohl im Laufe der Zeit Tausende jüdische Emigranten aus Mitteleuropa hier eintrafen, gab es eine restriktive Einwanderungspolitik in Bezug auf die brasilianische Industriealisierung bzw. sollte diese dem dortigen Wirtschaftswachstum zuträglich sein. Zudem sympathisierten die brasilianischen Machthaber während des Dritten Reiches offen mit Nazi-Deutschland.
So arbeitete Loeser notgedrungen in einer niederländischen Bank, spielte in seiner Freizeit im Amateur-Sinfonieorchester von Sao Paulo Geige und schrieb nebenher Romane, Erzählungen und Dramen. Dank der Entdeckerleidenschaft des Lektors, Verlegers und Buchhändlers Peter Graf für „vergessene“ Bücher wurde dieser literarische Schatz jetzt erstmals veröffentlicht.
Jörg Konrad

Karl Alfred Loeser
„Requiem“
Klett Cotta
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Freitag 12.05.2023
Anders Petersen „Café Lehmitz“
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Wer wenn nicht Tom Waits ist für das Vorwort zu Anders Petersens Photobuch-Klassiker „Café Lehmitz“ geeigneter? Immerhin hatte der kalifornische Sänger und Komponist schon 1985(!) auf seinem Album „Rain Dogs“ ein Foto aus diesem Zyklus für sein Cover gewählt. Zudem passt Waits Musik wohl wie kaum eine andere zu diesen bizarren wie empathischen Schnappschüssen aus der Reeperbahner Stehbierhalle. „Anders Petersen hat das Auge eines Poeten“, schreibt Waits in seiner Einleitung. „Wie wäre es sonst möglich, beim Anblick seiner Bilder Lili Marleen aus einer verbeulten Klarinette zu hören oder Bockwurst mit Tiparillo-Rauch und kaputtem Klo zu riechen?“
Anders Petersen stammt aus Schweden und studierte in Stockholm Fotografie. Auf seinen Reisen und für seine Projekte lichtete er fast immer eine Art Parallelgemeinschaft ab, bestehend aus Außenstehenden und Originalen einer scheinbar „anderen Welt“ - weit draußen. Doch die Sonderlinge und Eigenbrötler, die Verlierer und Hallodris waren und sind auch immer ein Teil der gesellschaftlichen Realität.
Petersen fotografierte in Gefängnissen, Altenheimen, in psychiatrischen Kliniken und eben in Etablissements wie dem Café Lehmitz. „Im Himmel gibt es kein Bier, darum trinken wir es hier“ war auf einem der Schilder an der Wand zu lesen. Hier, am Ende der Reeperbahn, hatten sie ihre Kontakte, feierten, tanzten, tranken. Sie nannten sich Korn-Uschi, Blumen-Paul oder Jägermeister-Karin, waren Sexarbeiterinnen, Stricher, Zuhälter, Kleinkriminelle, Alkoholiker und fanden im Lehmitz eine Nische, in der sie akzeptiert wurden und sich nicht ständigen Schikanen und Drangsalierungen ausgesetzt sahen - wie das auf den Straßen zu ihrem Alltag gehörte.
Das besondere an Petersens Arbeiten ist die Offenheit und Authentizität der Bilder, auch wenn ihre schonungslose Direktheit manchmal erschlagend wirkt. Doch nie bedienen diese Bilder eine Sensationslust oder gar Voyeurismus. Es sind Dokumente vom Rande einer gesellschaftlichen Norm, in der die, die nicht zu den Gewinnern und Champions dieses Lebens gehören ihren Platz finden, die Freuden ihres Seins ausleben können und von den meist spießigen Ansprüchen der Gesellschaft nicht verschluckt werden.
Petersen betrachtet sie mit einem solidarischen, fast liebevollen Blick und hat mit diesen Klassikern der Millieufotografie ein beeindruckendes Werk hinterlegt. „Er hält lebendige Momente fest, die uns anstarren“, schreibt Waits. „Er zog einen Hut aus dem Kaninchen, mit dem Foto eines frisch gebrochenen Herzens, oder würde es gleich brechen?“
Die im vorliegenden Band veröffentlichten Arbeiten sind in den Jahren 1968 bis 1970 entstanden und erschienenen 1978 erstmals in Buchform. Anders Petersen, der 2008 mit dem Dr.-Erich-Salomon-Preis ausgezeichnet wurde, lebt und arbeitet heute in Stockholm.
Jörg Konrad

Anders Petersen
„Café Lehmitz“
Schirmer/Mosel
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Freitag 28.04.2023
Claire Keegan „Das dritte Licht“
Die Autorin Claire Keegan gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen Irlands. Sie hat zahlreiche Preise erhalten, im deutschsprachigen Raum war sie aber nur wenig bekannt. Das änderte sich erst, als im letzten Jahr ihr schmaler Roman „Kleine Dinge wie diese“ in deutscher Übersetzung erschien. Jetzt liegt ihre Erzählung „Das dritte Licht“ in neuer Überarbeitung vor, und wieder ist man beim Lesen beglückt darüber, was für eine wunderbare Schriftstellerin Claire Keegan ist.
Die Autorin ist auf einer kleinen Farm aufgewachsen. Sie weiß, wie hart das Leben auf dem Land in Irland sein kann. „Das dritte Licht“ spielt Anfang der 80er Jahre in der irischen Grafschaft Wexford unter einfachen, bäuerlichen Menschen. An einem heißen Sonntagmorgen bringt ein Vater seine Tochter mit dem Auto zu entfernten Verwandten. Das kinderlose Ehepaar Kinsella lebt auf einem Hof am Meer. Hier soll das Mädchen auf unbestimmte Zeit bleiben, denn seine Mutter ist wieder schwanger. Die Eltern schaffen es nicht mehr, alle Kinder satt zu kriegen. Die Tochter wird, mit nichts als einem armseligen Kleidchen am Leib, bei ihr völlig fremden Menschen abgeliefert, und der Vater fährt ab, ohne sich von ihr zu verabschieden.
Sie ist die Ich-Erzählerin des Buches, ihr Name wird nicht genannt. Beim Lesen erfährt man nichts, was über ihre kindliche Perspektive hinausgeht. Die Armut, die Verwahrlosung, die Lieblosigkeit, die in ihrer Familie herrschen, werden durch wenige Bemerkungen deutlich. Man liest, dass der Vater eine Kuh beim Kartenspielen verloren hat und dass die Tochter noch lange die stählernen Zinken des Kammes auf ihrer Kopfhaut spürt, mit dem die Mutter ihr am Morgen die Haare gekämmt hatte.
Bei Mr und Mrs Kinsella lernt das Kind ein ganz anderes Zuhause kennen. Das Ehepaar gibt ihm Essen und Kleidung, Stabilität und vor allem Verständnis und Wärme. Das Mädchen hilft der Frau im Haushalt und dem Mann im Stall. Zwischen ihm und dem Kind entwickelt sich eine ganz besondere Zuneigung und Zärtlichkeit, die von seiner Seite nichts Übergriffiges hat. Er unterstützt das Mädchen in vieler Hinsicht, stärkt sein Selbstbewusstsein, und mit seiner Hilfe entdeckt es die Welt der Bücher: „…ich spürte, wie mir Flügel wuchsen, die Freiheit, an Orte zu gelangen, wo ich zuvor nicht hinkonnte…“.
Claire Keegan zeichnet eine ganz eigene, dezente und beeindruckende Erzählkunst aus. Sie setzt ihre Mittel sehr sparsam ein, vieles bleibt nur angedeutet oder erschließt sich erst nach und nach im Laufe der Geschichte. Gerade in der Reduktion entfaltet die Erzählung eine besondere Ausdruckskraft. Scheinbar belanglose Beobachtungen haben einen doppelten Boden und eine symbolische Bedeutung. So versteht man erst beim Weiterlesen, dass der kleine Junge, der auf der Tapete im Zimmer des Mädchens einem fahrenden Zug nachwinkt, ein subtiler Hinweis der Autorin auf ein dunkles Geheimnis ist, das Mrs und Mr Kinsellas Leben überschattet.
Eine sehr poetische, metaphorisch aufgeladene Szene ist ein Nachtspaziergang am Strand, zu dem John Kinsella das Mädchen mitnimmt. Hier erlebt das Kind eine Leichtigkeit im Spiel mit den Wellen und eine väterliche Zuwendung, die es bisher nicht kannte. Über dem Wasser sind zwei flackernde Lichter zu sehen, zwischen denen später ein drittes Licht aufleuchtet. Das kann man als Bild lesen für das kinderlose Ehepaar, zu dem das Mädchen hinzugekommen ist und das ihr Leben heller macht.
Doch der lange, sonnige Sommer geht zu Ende, die Schule beginnt, und das Mädchen muss zu seiner Familie zurückgebracht werden. Der aufwühlende, dramatische Schluss des Buches lässt vieles offen.
Wie im Roman „Kleine Dinge wie diese“ geht es Claire Keegan auch in ihrer berührenden Erzählung „Das dritte Licht“ um ihr zentrales Thema, um Empathie und Menschlichkeit in harten Zeiten.
Lilly Munzinger, Gauting

Claire Keegan
„Das dritte Licht“
Steidl Verlag
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Freitag 21.04.2023
Klaus Doldinger „Made in Germany – Mein Leben und meine Musik“
Im Grunde seines Herzens fühlte er sich schon immer als Jazzer. Dabei ist er einer der bekanntesten Musiker Deutschlands. Was wie ein Parodoxon klingt, ist bei Klaus Doldinger gelebte Realität. Denn der 1936 in Berlin Geborene hat sein Leben der Musik gewidmet und damit über die Jahrzehnte ein Millionenpublikum erreicht. Als Saxophonist, Klarinettist, Komponist, Produzent, Bandleader und Funktionär der GEMA entwickelte Doldinger Soundtracks für Kino- und Fernsehfilme, schrieb Werbejingels, war Sideman großer internationaler Besetzungen und spiegelte mit seinen eigenen Projekten Live und im Studio auch immer den gelebten Zeitgeist wieder. Nun, kurz vor seinem 87. Geburtstag, ist die Biographie „Made in Germany – Mein Leben und meine Musik“ von ihm erschienen, man könnte auch sagen die Geschichte der Bundesrepublik – aus dem Blickwinkel eines Musikers.
Klaus' Sohn Nicolas Doldinger und der Journalist Torsten Groß erzählen auf über 300 Seiten von der relativ behüteten Kindheit in Berlin, Köln, Wien und Düsseldorf, den musikalischen Studien am Konservatorium, den ersten künstlerischen Versuchungen des Musikers nach der alles einschnürenden und jede Freiheit brachial unterdrückenden Nazizeit, über die ersten großen und anhaltenden Erfolge in der Musikwelt, bis hin zu den harten Corona-Entbehrungen unserer Tage, die dieses Buch letztendlich erst ermöglichten.
Schaut man sich Doldingers Discographie rückblickend etwas genauer und analytisch an, könnte man meinen, er präsentiere mit seiner Kunst den Soundtrack der Bundesrepublik. Denn mit den Feetwarmers schrieb und spielte(!) er tatsächlich Jazzgeschichte, mit seinem Quartett Modern Jazz, mit Passport, der Formation die noch heute besteht, entwickelte er über fünf Jahrzehnte hinweg den Fusion-Gedanken weiter, bei immer deutlicherer Einbeziehung ethnologischer Musikstile.
In Doldingers Band hat „uns Udo“ (Lindenberg) seine Karriere im Musikbuiseness als sehr talentierter Schlagzeuger begonnen; Siegfried Loch, einst Geschäftsführer von Liberty/United Artists Records, WEA Music und Warner Music Germany und heute Labeleigner von Act Music, war mit seinen Produktionen nicht allein zu Beginn der 1970er Jahre an dem Erfolg Doldingers maßgeblich beteiligt. Etliche Storys und Anekdoten stammen aus den Zeiten, als die Titelmelodie zum „Tatort“ oder „Liebling Kreuzberg“ und die Soundtracks zu „Die unendliche Geschichte“ und „Das Boot“ entstanden. Das alles zeigt: Doldinger war ein Workaholic, ein Kreativer, der immer an seiner Kunst arbeitete und natürlich im Laufe der Jahre auch das Glück hatte, sehr oft zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und die richtigen Menschen zu treffen. Das alles geht jedoch nur, wenn man selbst offen für neue Wege und Herausforderungen ist. Insofern ist sein Leben, ist seine Musik allein sein Verdienst. Der Jazz in Deutschland würde ohne Klaus Doldinger mit Sicherheit anders klingen.
Jörg Konrad

Klaus Doldinger
„Made in Germany – Mein Leben und meine Musik“
Piper
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Montag 10.04.2023
Knut Hamsun „Hunger“
Es ist weniger die Handlung des Romans, die in „Hunger“ beeindruckt. Denn im Grunde gibt es eine solche gar nicht, oder sagen wir besser, sie existiert nur mehr rudimentär. Denn der Inhalt dieses Textes besteht letztendlich aus einer Art Monolog, einer Betrachtung der eigenen, wechselnden, manchmal auch schwer zu ertragenden Befindlichkeiten eines anonymen Ich-Erzählers. Der Leser streift mit dieser „Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübten“ - Figur Ende des 18. Jahrhunderts die Gassen der damals 130.000 Einwohner zählenden Stadt Kristiania, dem heutigen Oslo.
Die Reflexionen des Protagonisten entstammen einer maßlosen Selbstüberschätzung. Er glaubt an sich als einen genialen Schriftsteller - der in der Realität jedoch nur wenige Zeitungsartikel verfasst, die er, wenn überhaupt, nur mit großer Mühe in einer Lokalredaktion unterbringt. Ansonsten ist er damit beschäftigt, nicht in die Obdachlosigkeit abzurutschen bzw. seinen ständig gegenwärtigen Hunger auf jede nur erdenkliche Weise zu stillen. Wenn es sein muss, auch mit Holzspänen oder Hundeknochen.
Gleichzeitig ist diese Person durchdrungen von lebensfremden Selbstzweifeln, die seine Lage hoffnungsloser erscheinen lassen, als sie tatsächlich ist. Er ringt mit sich und der eigenen Verzweiflung, die ihn fast in den Suicid treibt. Seine wechselhaften Stimmungslagen beinhalten Scham und Wut, Euphorie und Selbstekel, Verzweiflung und Glückseligkeit.
Der Norweger Knut Hamsun hat in diesem 1890 erstmals in Dänemark erschienen Roman (dann in Deutschland und erst dann in Norwegen) eine Art psychologische Selbstreflexion geschrieben, wie sie in dieser Radikalität in der Weltliteratur zu damaliger Zeit noch nicht erschienen war. Auf diese Erstausgabe fußt auch der Text, der von Ulrich Sonnenberg in seiner ganzen erschlagenden Kraft und mitreißenden Verstörtheit beeindruckend neu übersetzt wurde.
Auf der einen Seite bestimmt das destruktive Elend der Hauptperson das Buch, auf der anderen Seite wird das Paradoxon deutlich, in dem sich der Protagonist beinahe lust- wie auch humorvoll in diesem Elend sonnt. Besonders eindrücklich zeigt sich diese Ambivalenz, in dem der Ich-Erzähler seinen religiösen Glauben und den persönlichen Anspruch des Christentums, als das höchste Gut dieser Welt, idealisierend glorifiziert. Dann jedoch lässt er sich, aufgrund der eigenen hoffnungslosen Situation, zu einer flammenden Anklage gegen Gott hinreißen und nennt ihn eine „allwissende Null“ und „gnadenvoller Abschaum“. Der Ich-Erzähler liefert sich den eigenen Lebenssituationen, in die er nicht zuletzt durch sein persönliches Verschulden gerät, oft widerstandslos aus und krönt diese Passivität mit Lamouryanz und oft unerträglichem Selbstmitleid.
Im dem sehr klugen und absolut empfehlenswerten Nachwort von Felicitas Hoppe, fragt diese, wie man Hamsun heute, als Nobelpreisträger aber auch überzeugter Antisemit und Verfechter nationalsozialistischer Ideen und Hitlerverehrer, lesen kann oder sollte. Abgesehen davon, dass große Autoren wie Thomas und Heinrich Mann, Franz Kafka, Samuel Beckett oder Astrid Lindgren von Hamsuns „Hunger“ sich nachhaltig geprägt fühlt, findet Hoppe, dass dieses Buch einen schonungslosen Blick auf das Dasein einer Künstlerexistenz wirft. Sie sieht in „Hunger“ auch einen Schrei nach Liebe, nach Mitmenschlichkeit, nach menschlicher Begegnung. Ohne diese wird es einsam – wobei die Möglichkeit, sich in abstrusen und absonderlichen Gedankenwelten zu verlieren, einfach übermächtig ist.
Jörg Konrad

Knut Hamsun
„Hunger“
Manesse
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Autor: Siehe Artikel
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