Es sollte schon mit dem Teufel zugehen, wenn James Kestrel nicht zumindest einen Teil der Romane James Ellroys gelesen hat. Denn Kestrel öffnet zum einen die doch manchmal arg engen Handlungsebenen provinzialischer Kriminalhandlungen und bringt sie in einen großen geschichtlichen und politischen Zusammenhang. Er entwirft mit leichter Hand ein umfangreiches Tableaux von handelnden Personen, die in Abhängigkeiten zu- und voneinander stehen. Von ihren persönlichen Obsessionen einmal ganz zu schweigen. Und drittens spielt das gesellschaftliche Milieu, in dem die Geschehnisse angelegt sind, für die Handlung eine entscheidende Rolle. Das alles erinnert eben an jenen oben erwähnten Autor und so sprengt „Fünf Winter“ das Genre des Kriminalromans nachhaltig. Über die Abgründe der Menschen, bei Einbeziehung ihrer sozialen Stellung und Herkunft, entwirft Kestrel das Sittenbild einer bestimmten Region zu einer bestimmten Zeit.
Die Handlung des Romans beginnt im Jahr 1941 auf Hawai, mit einem bestialischen Mord an einem weißen Amerikaner und dessen japanischer Freundin. Joe McGrady, Detektiv beim Honolulu Polizeidepartment, soll den Fall lösen. Schnell erkennt er, dass das Ziel des Anschlags nicht der Lieblingsneffe des Oberbefehlshabers der Pazifikflotte ist, sondern dessen vorerst noch unscheinbare Freundin.
Die Spur führt McBrady dann mitten im 2. Weltkrieg nach Hongkong. Am selben Tag, als er dort ankommt, findet der Überfall auf die Pazifikflotte der USA in Pearl Harbor statt. Hongkong wird von den Japanern besetzt und McBrady als Amerikaner festgenommen und als Spion nach Tokio verschleppt. Er entgeht durch die Hilfe eines hochrangigen Diplomaten knapp der eigenen Hinrichtung. Der Regierungsvertreter Takahashi Kansei verhilft ihm zur Flucht und versteckt McBrady in sein Haus. Hier lernt der in seiner Heimat als vermisst geltende Detektiv in den nächsten „Fünf Wintern“ das japanische Leben, die Mentalität der dortigen Menschen und vor allem deren faszinierende Kultur kennen, worauf sich sein Feindbild völlig ändert.
Nach der Kapitulation Japans kommt McBrady frei und wieder nach Hawaii, wo er als privater Ermittler den noch immer ungelösten Fall sofort neu aufrollt und ihn in typischer Hard-Boiled-Manier letztendlich auch löst.
Mit „Fünf Winter“ hat James Kestrel, der mit bürgerlichem Namen Jonathan Moores heißt und als Anwalt, Englischlehrer, Wildwasser-Rafting-Führer und Krimi-Autor tätig war und ist, einen bemerkenswerten Roman geschrieben, der sich als Thriller im harten Krimi-Genre bewegt und zugleich als Kriegsroman, Liebesgeschichte und Historiendrama gelesen werden kann.
Sicher hat Kestrel, was die Zutaten seiner Geschichte betrifft, nicht mit den für dieses Genre ganz untypischen Klischees gespart. Aber der Fluss seiner Erzählung überzeugt, die Dialoge sind knapp, präzise und die Atmosphäre unterstützend. Das Leben in seiner Vielfalt und Unerbittlichkeit, in seinen unabwegbaren Wendungen und auch der nie versiegenden Hoffnung hält den Leser über die 500 Seiten durchweg in bester Stimmung. Zu recht wurde das Buch mit dem Edgar Award für den besten Kriminalroman und dem Barry Award für den besten Thriller des Jahres 2022 ausgezeichnet!
Jörg Konrad
James Kestrel
„Fünf Winter“
Suhrkamp