Peter Brötzmann, Conrad Bauer, William Parker, Paul Lovens im November 2002 in Dachau
Dachau. Sein Ton erschüttert den Raum, klingt wie ein Triumph der Sinne über jeden Gedanken konservativer Kunst. Sein Sound Ist Höllenfahrt und Genesis zugleich, nichts für schwache Nerven. Peter Brötzmann, der Saxophonist, spielte am Donnerstagabend beim jazz e.V. in Dachau. Und er hat eine tiefe und breite Fährte hinterlassen, die noch lange spürbar sein wird.
Was der zwischen Wuppertal und Chicago pendelnde Provokateur des Mainstream spielt, hat schon lange nichts mehr mit dem zu tun,was vor einigen Jahren als die Phase des Kaputtspielens bezeichnet wurde. Brötzmann betreibt an seinem Instrument eine Art musikalischer Anatomie. Er zergliedert und anlysiert ein an sich schon imaginäres Material, sucht als ein ständig Forschender nach immer neuen Herausforderungen und lässt in diesem Prozess das für den Jazz wohl Entscheidende entstehen: Improvisationen, die weit in die Tiefe zielen und jede oberflächliche Maniriertheit vermeiden. In seiner Band Die Like A Dog hat Brötzmann Gleichgesinnte um sich geschart, die dem eigenen Credo, Befreiung von verkrusteten Musikstrukturen, absolut entsprechen.
Conrad Bauer, der sensible und wenn nötig doch so derb zupackende Berliner Posaunist, gehört zu den wichtigsten Stimmen im Chor der freien Improvisation. Er nutzt die Zirkularatmung, spielt polyphon und mehrstimmig, kontrapunktiert die Einlagen des Leaders und kommt, trotz ungestümer Vehemenz, auch als ein traditionell angehauchter Bohémien zum Zug. Bassist (und Flötist!) William Parker aus New York spielt in beinahe stoischer Gelassenheit gegen diese gewaltigen Klangwellen an. Nichts scheint ihn aus der Ruhe zu bringen. Er bleibt während des gesamten Auftritts auf dem Boden spiritueller Gelassenheit. Mal zupft er rau den Blues, dann streicht er zarte Flagoletts.
Sprunghafte Bewegung
Paul Lovens drangsaliert und streichelt hingegen sein Drumset. In sprunghaften Bewegungen bricht der Berliner den Rhythmus an seiner verwundbarsten Stelle. Es ist ein Stolpern und Schweben, nirgends scheint man sicher vor seinen Ideen. Immer wieder wendet er das rhythmische Blatt und schlägt dem Erwartungshorizont ein Schnippchen.
Dann kommt wieder Brötzmann ins Spiel, der dem Set eine gewaltige Körperlichkeit verleiht, der sich wie in einem Fahrstuhl bis in die obersten Sphären der freien Improvisation schraubt. Man glaubt kaum, dass dieser Mann noch vor gut einem Jahr während eines Interviews gesagt hat: „Ich tue nichts lieber, als mir heute diese alten Art Blakey-LPs anzuhören, das ist wunderschöne Musik.“ Aber auch das gehört zum Jazz: Der bekennende Respekt vor jeder Form der Kreativität, selbst dann, wenn das eigene Oevre ein ganz anderes ist. Daran zeigt sich wahre Größe und das ist Beispiel für die Offenheit des Jazz, der in Dachau spätestens seit diesem grandiosen Konzert etwas Legendäres hinterlassen hat.
Jörg Konrad
(SZ Dachau, 09.11.2002)
Peter Brötzmann, William Parker, Hamid Drake im November 2004 in Dachau
Dachau. Brötzmann zum Dritten! Nachdem der Holzbläser schon während der Herbstsaison 2002 und 2003 beim Dachauer jazz e.V. die musikalischen Höhepunkte setzte waren die Erwartungen auch heuer entsprechend hoch. 120 zahlende Gäste lockte das Konzert an. „ ... das hat es im Teufelhart noch nie gegeben ...“, resümierte die Vorsitzende des Vereins, Marese Hoffmann, schon in ihrer Ansage – ohne das die Musiker auch nur einen Ton gespielt hätten. Dann kamen Peter Brötzmann, William Parker und Hamid Drake, spielten göttlich auf ganzer Linie und hinterließen als Sieg ein Publikum, welches, fast ebenso erschöpft wie die Band, von einer Zugabe aus Verständnis für die Solisten absah. Schließlich hatten die drei musikalisch alles gegeben, was menschenmöglich schien.
Dieses Trio gehört zum Besten, zum Wagemutigsten und zum Wichtigsten was der zeitgenössische Jazz zu bieten hat. Sicher spielt die Tagesform der Musiker, die Aura des Auftrittsortes, die Bereitschaft des Publikums, sich auf ein derartiges Ereigniss einzulassen, eine entscheidende Rolle. Denn nur wenn diese Dreifaltigkeit des Jazz-Live-Geschehens stimmt, dann stimmt zumindest der Ausgangspunkt für eine der couragiertesten musikalischen reisen überhaupt: Der freien Improvisation. Und diese Ausgangspunkte waren am Samstag günstig.
Brötzmann setzte gleich zu Beginn die Tarogato an und spielte vom ersten Ton mit Energie und einer nur ihm eigenen Abstraktion, die für das gesamte Konzert richtungsweisend war. Auch als er später zum Tenor wechselte oder die Altklarinette benutzte, fast durchgehend blies er am physischen Limit, ließ er keinen Zweifel daran, dass das, was er schon seit so vielen Jahren hingebungsvoll tut, eine „gottverdammte haste Arbeit“ ist, wie er es in einem Interview ausdrückte. Reife, Neugier, Poesie, provozierende Freiheit, ungeahnte Abgründigkeiten, die an einer langen Perlenkette aufgereihten Herausforderungen spielt Brötzmann wie ein einziges Mantra.
Parker hingegen untermlte kühn, hielt rhythmisch den Kurs, brach genussvoll aus, war ein Bassist minimalistischer Virtuosität. Und ein Visionär sozialer Befindlichkeiten und Rückblicke, wenn er etwas mit afrikanischem Saiteninstrumentarium und Hamid Drake an der handgeschlagenen Rahmentrommel die Wurzeln ihrer Musik in hörbare Erinnerung rief. Überhaupt Drake: Der trommelte einen einzigen rituellen Spagat zwischen den Kulturen dieser Welt.
Und das Publikum? Das tanzte, jubilierte, klatschte begeistert und war am Ende völlig hingerissen. Vielleicht schon in der stillen Vorfreude, das es hoffentlich im kommenden Jahr heißen wird: Brötzmann die Vierte!
Jörg Konrad
(SZ Dachau, 30. November 2004)
Peter Brötzmann
„I Surrender Dear“
Peter Brötzmann, Saxophonist und Maler, gehört zu den Free-Jazz-Pionieren in Europa, hat aber in einem Interview mit dem Jazzpodium schon 1968 die Wichtigkeit der Tradition betont: „Ich beziehe mich durchaus auf die Dinge, die King Oliver vor 50 Jahren gemacht hat“.
Das war über die Jahrzehnte sicher nicht immer und für jeden akustisch nachvollziehbar. Denn Brötzmann spielte laut und intensiv, hat dabei die Musik aus engen Strukturen befreit, ihre Grenzen erweitert und ist damit zu neuen Klang-Ufern vorgestoßen. Neben revolutionären Alben wie „For Adolphe Sax“ oder „Machine Gun“ hat der heute 78jährige im Laufe seiner langen Karriere auch immer wieder Soloalben vorgelegt. Saxophon-Solo-Aufnahmen? „Man wird - ob Du magst oder nicht – durch all die verschiedenen Arten von Aktivitäten gezwungen, jedenfalls geht es mir so, sich auf sich selbst zu besinnen und herauszufinden, was ist mit Dir los? Und dazu benutze ich ganz gerne, alle paar Jahre, eine Soloproduktion“, erzählte er in einem Interview 1997.
Gut zwei Jahrzehnte später war der aus Wuppertal stammende Künstler in Wien und hat in der österreichischen Metropole die Titel für sein jetzt erschienenes Album „I Surrender Dear“ aufgenommen. Doch anders als in der Vergangenheit besteht das Repertoire nur aus wenigen freien Improvisationen. Brötzmann hat sich überwiegend Kompositionen seiner Favoriten vorgeknöpft und diese dann auf seine ganz individuelle Art interpretiert. Mit dabei sind unter anderem „Lady Sings The Blues“ von Herbie Nichols und Billie Holiday, „Con Alma“ von Dizzy Gillespie, „Sumphin'“ von Sonny Rollins und das augenzwinkernde „Brozziman“ seines liebsten Pianisten der „Neuzeit“, von Misha Mengelberg. Und natürlich das Titelstück, der unsterbliche Standard „I Surrender Dear“, einst gesungen von Bing Crosby und Ray Charles, gespielt von Django Reinhardt, Harry James oder Count Basie.
Auch wenn Peter Brötzmann noch heute davon spricht, wie stark ihn einst Coleman Hawkins und Ben Webster beeindruckt haben, klingt das vorliegende Album mehr nach einem gezügelten Brötzmann. Und der hat dann immer noch genügend Ecken und Kanten, er formuliert mit rauchigem Sound gradlinig, zeigt sich als ein gebremstes Energiebündel, das seine Erfahrungen und Einflüsse mit dem Alter wohl etwas anders ordnet als bisher. Die Melodien bleiben bei ihm einzelne Fetzen, die sich jedoch gegenseitig ergänzen und ein gegenständlicheres Klangbild entwerfen. Hier geht es nicht allein um Intensität, sondern, ja, man glaubt es kaum, um die Schönheit und die Ästhetik des individuellen Klanges, um Sensibilität und Innerlichkeit.
Jörg Konrad
Peter Brötzmann
„I Surrender Dear“
Trost Records
„I Surrender Dear“
Trost Records
BRÖTZMANN PLUS ….. VOLLE KRAFT VORAUS
Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach, Toshinori Kondo, Joe McPhee, Heather Leigh, Marino Pliakas, Han Bennink Dezember 2020 im Münchner Haus der Kunst
München. Es gab Zeiten, in denen alles Neue aus den USA kam. Die Freizeit- und Fernsehkulturkultur, sagenhafte Essgewohnheiten, der Beginn der Raumfahrtentwicklung, die Sprache – in Form von Anglizismen. All dies hatte seinen Ursprung in der Neuen Welt. So auch der Jazz. Zwar spielte man ihn ebenfalls in Europa, doch alle blickten stets erwartungsvoll über den großen Teich, um zu hören, welche Veränderungen es in der Musik als nächstes gäbe. Eine Sichtweise, die auch den Beginn der Karrieren von Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach vor über fünf Jahrzehnten deutlich prägten. Doch sie und ihre Mitstreiter sollten diese scheinbare Abhängigkeit zugunsten einer europäischen Entwicklung im Jazz bald selber ändern.
Gestern Abend waren der in Remscheid gebürtige Saxophonist Brötzmann und der aus Berlin stammende Pianist Schlippenbach zu Gast im Münchner Haus der Kunst. Und an ihrer Seite eine illustre Schar von Gleichgesinnten. Musiker, die in der freien Improvisation zu Hause sind, Instrumentalisten, die sich von den Verlockungen des Musikmarktes nicht beeindrucken lassen, Solisten, die mit Energie und Zielstrebigkeit den eigenen Ideen folgen.
Zwar etwas in die Jahre gekommen haben sich die Alten, in ihren frühen Schaffensjahren oft von außen angefeindeten Kämpen, mit ihren Idealen gehalten und unter der Überschrift „Brötzmann plus …..“ mit der nächsten Generation zeitgenössischer Instrumentalisten zusammengetan. Auf der Bühne standen und saßen am Freitag Toshinori Kondo (Japan), Joe McPhee und Heather Leigh (USA), Marino Pliakas (Griechenland) und Han Bennink (Niederlande) und präsentierten in unterschiedlichen Besetzungen ein berauschendes Fest der freien Improvisation. Es wurden Strukturen aufgelöst, neue Verbindungen unter den Gruppenmitgliedern geschaffen, Ideensplitter verdichtet, risikobewusst agiert. Es war ein ständiger Wechsel von Formen und Farben, von abrupter Spontanität und sich entwickelnder Ganzheitlichkeit.
Gleich im ersten Set standen mit Brötzmann, Schlippenbach, Kondo (Trompete) und Bennink (Schlagzeug) vier miteinander längst vertraute Freigeister auf der Bühne. Ungeschliffen und rauh, manchmal fast wuchtig und radikal trafen ihre instrumentalen Stimmen aufeinander und entwickelten immer wieder aus diesen aufschäumenden Gemeinschaftsimprovisationen Momente filigraner Poesie. Irgendwo am Horizont glaubte man eine ferne Blueskapelle zu vernehmen, die vom trommelnden Han Bennink ausging und in den Akkorden des Pianisten eine Entsprechung fand. Dann wieder der Bruch und die Hinwendung zur leidenschaftlichen Dramaturgie der Freiheit. Kreative Explosionen und wohltuende Subversivität als brillanter Spannungsbogen.
Brötzmann arbeitet schon eine Weile mit der amerikanischen Pedal-Steel-Gitarristin Heather Leigh im Duo. Und es ist erstaunlich und faszinierend zugleich, zu welchen Klangerlebnissen selbst so unterschiedliche instrumentale Herangehensweisen führen. Nichts da, mit der heilen Country-Welt. Heather Leigh versteht es, mit sich überlagernden Klangkaskaden eine völlig neue Sichtweise auf ihrem Instrument zu entwerfen. Mit Brötzmann an der Seite wird aus der Pate stehenden Folklore ein pulsierendes Spiel von Distanz und Nähe, ein klangliches Umwerben, ein leidenschaftlicher Dialog zwei freier Radikale. Voller Kraft und Lust.
Den Rahmen für die beiden Konzerte am gestrigen Freitagabend und heutigen Samstag bildet die Ausstellung „Free Music Production / FMP: The Living Music“, die noch bis zum 20. August im Haus der Kunst zu sehen sein wird. In ihr widmen sich die Macher dem wichtigsten europäischen Plattenlabel (FMP), das von 1968 an unter der Leitung von Jost Gebers und der Beteiligung von Peter Brötzmann und Alexander von Schlippenbach europäischen Free Jazz veröffentlichte und damit eigenständig wie unabhängig den Musikern die Verantwortung für ihr Produkt übertrug.
Jörg Konrad
(KultKomplott, Dezember 2020)