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1. Patricia Görg „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“
2. Ulrich Woelk „Mittsommertage“
3. Marianne Schneider / Lothar Schirmer „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...
4. „Woodstock am Karpfenteich II“ 50 Jahre Jazzwerkstatt Peitz
5. John Irving „Der letzte Sessellift“
6. Alois Berger „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“
Dienstag 19.09.2023
Patricia Görg „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“
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Sie nähert sich den Menschen, egal ob Jean Fautrier oder Utagawa Hiroshige, mit Bedacht von außen, taucht über ihre Werke ein in ihre Seelen. Sie verortet diese voller Sensibilität und Respekt entsprechend ihrer Kunst und aus der eigenen Betrachtung heraus.
Patricia Görg spaziert in „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“ mit Wilhelm Busch fiktiv durch die Umgebung von Wiedensahl, einem winzigen Dorf, südwestlich des Steinhuder Meeres. Sie folgt seinen Gedanken und beobachtet sein Tun.
„Keiner hat ihn je malen sehen“, beginnt Patricia Görg ihren Text über Jean Siméon Chardin, den großen französischen Maler. Sie beschreibt die Modelle seiner Stilleben – nicht die Bilder. „Was sehen wir, wenn wir sehen?“, lautet ihre zentrale Frage. In seinen Bildern zumindest altern die Zellen nicht.
In „Die ersten Menschen“ begleitet Patricia Görg in den 1920er Jahren einen Trupp Kopistinnen nach Südrhodesien, kriecht mit ihnen gedanklich durch dunklen Höhlenschlamm und entdeckt Scharen von Silhouetten, die an die riesigen Granitwände gemalt sind. Blasse, bizarre, kantige Figuren. Menschen, die tanzen, laufen, fliegen, Antilopen, Flusspferde, ein Löwe ohne Kopf. Der Reigen hat keinen Anfang und nimmt kein Ende.
In elf wunderbaren, wie entrückt wirkenden Texten bringt Patricia Görg Kunst und Literatur zusammen. Man weiß nicht was mehr fasziniert: Die beschriebenen Personen, oder die Konzentration und Poesie des sich Näherns. Sie entwickelt mit ihren Formulierungen Spannungsbögen, die wie geheimnisvolle Botschaften klingen. „Dieses Buch bewegt sich durch meine Lieblingsgegend: den Raum zurückhaltender Kunst“, sagt sie selbst über „Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“.
1960 in Frankfurt geboren, studierte Patricia Görg Theaterwissenschaft, Soziologie und Psychologie. Sie erhielt für ihre Bücher unter anderem den Hörspielpreis „Lautsprecher“(1994), den Schubart-Literaturförderpreis der Stadt Aalen (2013), Italo-Svevo-Preis (2019). 2007 wurde sie für den Alfred-Döblin-Preis nominiert.
Jörg Konrad

Patricia Görg
„Der Sturz aus dem Schneckenhaus - Bilder und Rätsel“
Schirmer/Mosel

Abbildungen:

- Jean Fautrier, Les boîtes de conserve, 1947

- Gislebertus, Der Traum der Magier, um 1130/40

- Vincent van Gogh, Vogelnester, 1885
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Freitag 08.09.2023
Ulrich Woelk „Mittsommertage“
Es beginnt mit einem Hundebiss. Ruth Lember, Mitte 50, Philosophieprofessorin an der Berliner Humboldt- Universität, erwacht früh und voller Tatendrang. Der Junitag wird schön und noch nicht zu heiß werden. Ruth freut sich auf die vor ihr liegende Woche, in der sie der Höhepunkt ihrer steilen Karriere erwartet: sie soll in den Deutschen Ethikrat berufen werden. Und auch ihr Mann Ben steht kurz vor einem großen beruflichen Erfolg. Er hat gute Chancen, einen wichtigen Architekturwettbewerb zu gewinnen.
Auf ihrer morgendlichen Joggingrunde um den Lietzensee kommt es zu einem unangenehmen Vorfall. Ruth wird von einem freilaufenden Hund angefallen und ins Bein gebissen. Dies ist der Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die innerhalb einer Woche Ruths Karriere, ihre Ehe und all ihre Gewissheiten ins Wanken bringen.
Der Schriftsteller Ulrich Woelk lebt in Berlin. Er hat Physik und Philosophie studiert. Sein hochaktueller Roman „Mittsommertage“ spielt im Berlin des Jahres 2022. Die Coronawelle ist gerade erst abgeflaut, der Krieg in der Ukraine ist als Bedrohung hinzugekommen, und die Klimakleber erhitzen die Gemüter. Die politische und gesellschaftliche Lage verknüpft der Autor in seinem Buch geschickt mit der Geschichte einer Frau, die von ihrer Vergangenheit eingeholt wird und in eine tiefe Lebenskrise gerät.
Der Hundebiss als Einleitung dieser Krise ist vom Autor natürlich ganz bewusst gewählt. Ein zentrales Thema des Romans ist das Verhältnis vom Menschen zu Tier und Umwelt, und der Biss ist ein gutes Bild dafür, dass die Natur beginnt, sich gegen den zerstörerischen Menschen zu wehren. In ihrem Ethikseminar erlebt Ruth, wie leidenschaftlich ihre Studenten an Tierwohl und Umweltproblematik interessiert sind. Woelk fächert in Gesprächen, die er Ruth über das Engagement vor allem junger Leute und über Organisationen wie „Extinction“ oder die“ Letzte Generation“ führen lässt, die Bandbreite der Argumente auf. „Vielleicht sind diese Kinder die Wegbereiter der nächsten Diktatur: der ökologischen“ sagt ein Freund. Ruth selbst bezieht keine eindeutige Stellung, äußert aber Verständnis. „Und wenn sie einfach nur verzweifelt sind? Wenn das alles, der Klimawandel, der Krieg, ihnen Angst macht?“
Dafür, dass die Diskussionen nicht nur theoretisch bleiben, sondern für Ruth existentiell werden, sorgt ein Mann, der Anfang dieser fatalen Woche plötzlich in ihrem Seminar auftaucht. Stav ist ein Freund und Geliebter aus ihren Studententagen. Er konfrontiert sie mit Tatsachen, die sie längst verdrängt und von denen sie nie jemandem erzählt hat. Er hat einen Umschlag dabei mit Bekennerschreiben, die Ruth als junge Frau verfasst hat. „Das heißt, du warst jemand…wie die?“ fragt ihr Mann mit Blick auf die Klimakleber entsetzt, als er von ihrer Vergangenheit erfährt. Aber in Wahrheit ging der Anschlag auf einen Strommasten, den Ruth und Stav in einem romantischen Bonnie- und Clyde- Gefühl gemeinsam planten und durchführten, weit über eine Verkehrsblockade hinaus. Als die alte Geschichte durch eine Indiskretion ins Internet gelangt, ist Ruths berufliche Laufbahn erst einmal beendet.
Vor fast 30 Jahren war das Paar in der Antiatomkraftbewegung aktiv. Bei militanten Kernkraftgegnern galt das Absägen eines Strommastes als legitimes Mittel im Kampf für eine bessere Welt. Ruth und Stav waren überzeugt davon, dass es durch die atomare Bedrohung eine akute Notlage gab, die Sachbeschädigung rechtfertigte und sogar moralisch geboten machte. Doch der Schmerzensschrei eines getöteten Rehs verfolgt Ruth seither in ihren Träumen.
Ulrich Woelk stellt in seinem Buch drängende Fragen. Wenn es ein Recht auf Notwehr gibt, wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen? Wie hoch ist der Wert des Rechtsstaats einzuschätzen? Was ist ethisch vertretbar, wenn der Staat versagt und man vor dem Zwiespalt steht, Gesetze zu brechen, um auf ökologische Bedrohungen aufmerksam zu machen?
„Mittsommertage“ ist ein spannender, kluger Roman, der zum Nachdenken anregt.
Lilly Munzinger, Gauting

Ulrich Woelk
„Mittsommertage“
C.H.Beck
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Dienstag 29.08.2023
Marianne Schneider / Lothar Schirmer „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“
Gedichte – sie haben auch heute noch eine enorme Wirkung und hinterlassen sowohl sprachliche als auch inhaltliche Spuren. Egal ob man sie Lyrik oder Poetry Slam nennt, ob sie über spirituelle Welten Aufschluss geben, oder reale Konflikte beschreiben, ob sie Wortneuschöpfungen kreieren oder mutig auf den Reim verzichten, ob sie im Mittelalter entstanden sind, oder die Zukunft beschreiben. Gedichte sind gegenwärtiger, als viele annehmen.
Marianne Schneider war viele Jahre als Mentorin, Lektorin und Übersetzerin für den Schirmer/Mosel-Verlag tätig. Nachdem sie im Februar dieses Jahres gestorben ist, hat sich der Verlag entschieden, einige ihrer Bücher neu zu editieren. Als erstes erscheint von ihr die Anthologie „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“, deren erstes Erscheinen auf das Jahr 2001 datiert. Auf über 180 Seiten hat Marianne Schneider hier deutsche Lyrik aus über fünf Jahrhunderten, vom Mittelalter bis in unsere Tage, zusammengetragen. Bei allen Texten handelt es sich um Blumengedichte, wobei die einzelnen Pflanzen benannt und beschrieben, ihre Ästhetik individuell nahe gebracht oder ihre sinnliche Wirkung veranschaulicht wird. Es handelt sich um Gedichte von Walther von der Vogelweide, Clemens Brentano, Novalis, Benn und Rilke, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Peter Rühmkorf und Friederike Mayröcker. Allen gemein ist die Schönheit und die Kraft der Sprache, mit der sie die einzelnen Schöpfungen und persönlichen Empfindungen dem Leser nahe bringen.
Und um diese lyrischen Spaziergänge durch die Welt der Botanik visuell zu unterstützen, haben Marianne Schneider und Lothar Schirmer aus dem reichen Fundus der Kunstgeschichte etliche Arbeiten ausgewählt, die jeweils eines der Gedichte augenscheinlich begleiten. Es handelt sich um verschiedene originelle Arbeiten internationaler Künstler und handkolorierte Stiche von Botanikern, von van Gogh bis Cy Twombly, von Basilius Besler bis Albrecht Dürer.
Man darf dieses wunderschöne und vorzüglich gestaltete Buch nicht nur als einen Klassiker des Verlags-Programm bezeichnen. „O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“ darf zu recht auch als ein bedeutsames Buch bezeichnet werden.
Jörg Konrad

Marianne Schneider / Lothar Schirmer
„O Stern und Blume, Geist und Kleid ...“
Schirmer/Mosel

Abbildungen:

- Albrecht Dürer, Schlüsselblumen, 1526 (?)
Aquarell- und Deckfarben

- Basilius Besler, Tulpen, 1613
Handkolorierter Kupferstich

- Cy Twombly, Ohne Titel, 1990,
Acrylzeichnung
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Dienstag 22.08.2023
„Woodstock am Karpfenteich II“ 50 Jahre Jazzwerkstatt Peitz
Es ist fünfzig Jahre her dass im brandenburgischen Peitz, einem Ort mit knapp viereinhalbtausend Einwohnern, 1973 das erste Konzert freier Musik unter dem Namen „Jazzwerkstatt“ über die Bühne ging. Ein Politikum in der DDR, vom ersten Tag an. Denn hier hatten keine Kulturfunktionäre, sondern einige vom Virus des Jazz leidenschaftlich Infizierte eine internationale Konzertreihe aus dem Boden gestampft. Zwar wurde von offizieller Seite dem (freien) Jazz seit Anfang der 1970er Jahre von der Kulturbürokratie das Existenzrecht zugebilligt, doch waren sowohl deren Ost- wie West-Protagonisten, als auch das Publikum in Peitz eine kunterbunte Gemeinschaft, denen die verordneten Ideale des Sozialismus völlig egal schienen. Und so gelang es den Organisatoren Peter „Jimi“ Metag und Ulli Blobel über neun Jahre hinweg diese Konzertreihe mit einem dazugehörigen Festival durchzuführen, zu dem teilweise bis zu 5000 Besucher aus allen Teilen des Landes strömten.
Dann zog sich die Schlinge zu. Die „Jazzwerkstatt“ Peitz wurde von staatlicher Seite verboten. Zugleich drängten die Behörden Ulli Blobel zur Ausreise aus der DDR. Er ging 1984 in den „Westen“, organisierte hier weiterhin Konzerte und gründete ein eigenes Plattenlabel.
2011 reaktivierte Blobel die Konzertreihe „Jazzwerkstatt“ am selben Ort. Seitdem finden hier, zwischen den Peitzer Karpfenteichen, wieder kontinuierliche Workshops freier Musik statt, die die Tradition mit großem Erfolg fortsetzen.
Anlässlich des 50. Jubiläums der „Jazzwerkstatt“ hat nun Blobel den zweiten Teil des Buches „Woodstock am Karpfenteich“ herausgegeben. Auch hier finden sich, wie bei dem Vorgängerband aus dem Jahr 2011, unterschiedliche Autoren, die aus verschiedenen Perspektiven Details und Anekdoten aus den Jahren und dem Umfeld der Jazzwerkstatt berichten. Zu ihnen gehören Christoph Dieckmann (Journalist und Autor), Günter „Baby“ Sommer (Schlagzeuger), Bert Noglik (Journalist, Autor), Helge Leiberg (Maler), Peter Ehwald (Musiker) und natürlich Blobel selbst. Zudem ist als „Archiv“ auf Plakaten und Fotos ein Überblick der Jazzwerkstatt-Konzerte der Jahre 2006 bis 2023 gegeben. Ein Buch das deutlich macht, dass der Jazz pulsiert und noch immer eine vitale Musik ist, die aufgrund ihrer Kraft und kreativen Unruhe lebt und Menschen weltweit vorurteilsfrei zusammenbringt.
Jörg Konrad

„Woodstock am Karpfenteich II“
50 Jahre Jazzwerkstatt Peitz
Jazzwerkstatt
Herausgegeben von Ulli Blobel
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Dienstag 15.08.2023
John Irving „Der letzte Sessellift“
Nach knapp 1000 Seiten findet sich in John Irvings neuem Roman „Der letzte Sessellift“ ein Schlüsselsatz, der im Grund exemplarisch den Zugang zum gesamten literarischen Werk des Amerikaners ermöglicht. Auf Seite 979 lässt Irving einen seiner Hauptfiguren, Mr. Barlow, auch die Schneeläuferin oder die Englischlehrerin genannt (wer bis hierher gelesen hat, weiß um die Verschiedenartigkeit der Namen und Figuren) sagen: „Es ist auch nicht das Anliegen eines Romans, niemanden zu nahe zu treten.“.
Irving selbst tritt in seinen Romanen allen und jedem zu nahe. Selten unbewusst und nie aus Bosheit, alles im Sinne der Story und seines Anliegens. Auch in „Der letzte Sessellift“, dieser Orgie an bizarren wie liebenswerten Personen, ist er an allen Figuren, gleich welchen Geschlechts und welcher Beziehung „ganz nah dran“. Es geht ihm einzig um die handelnden Individuen, ihr Verhalten untereinander und ihre Entscheidungen für den Plott. Ihn halten sie am Leben und bringen uns Lesern zugleich sein schier unerschöpfliches Reservoir an Menschlichkeit auf unnachahmliche Weise nahe. Was jedoch nicht bedeutet, das Irving nicht auch Haltung zeigt und wenn nötig auch amerikanischen Präsidenten gehörig die Leviten liest. Allen voran Donald Trump und Ronald Reagan, die der 81jährige Schriftsteller in seinem 15. Roman regelrecht zu einem Feindbild aufbaut. Mit Nachdruck und zu Recht!
Wir wollen an dieser Stelle nicht die ganze Handlung des Romans erzählen. Zu vielschichtig und zu komplex gestalten sich die fast 1200 Seiten. Außerdem würden wir uns mit Sicherheit im launischen Dickicht eigenwilliger Sexualität verlaufen. Man taucht in Irvings Geschichten Hals über Kopf ein und es kann schon sein, dass man zwischenzeitlich auftauchen muss, um Luft zu schöpfen, um sich verwundert die Augen zu reiben. Und vielleicht besteht auch kurzzeitig die Gefahr den Faden zu verlieren – obwohl Irving-Lesern starke Charakter nachgesagt werden, die sich in solchen Situationen zu verhalten wissen.
Ansonsten ist „Der letzte Sessellift“ ein in vieler Hinsicht vertrauter Irving-Roman, bei dem bekannte Situationen in die Abläufe eingearbeitet sind und der Wechsel zwischen urkomischen, provozierenden und kuriosen Geschehnissen wieder einmal reibungslos verläuft. Irving präsentiert den Lesern eine pralle, großherzige Geschichte, er unterhält und nimmt gefangen, macht Mut, stabilisiert und bestärkt letztendlich alle Menschen, denen ein freies und unkonventionelles Leben wichtig ist. Dabei entlarvt er lächerliche Konventionen und schafft wahre Heldenfiguren, die den alltäglichen Kampf um Menschlichkeit und Liebe bravourös bestehen.
Jörg Konrad

John Irving
„Der letzte Sessellift“
Diogenes
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Dienstag 08.08.2023
Alois Berger „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“
Ein jüdisches Schtetl mitten im Land der Täter? Und das nur wenige Wochen/Monate nach dem Ende eines Genozids? Nach diesem wohl grausamsten Verbrechen an Juden in der Geschichte der Menschheit!
Was so absurd klingt, hat es tatsächlich gegeben. In Föhrenwald, einem Ortsteil im oberbayrischen Wolfratshausen bei München haben nach dem Ende des 2. Weltkriegs 5000 Juden, Überlebende des Holocausts, eine vorläufige Bleibe gefunden. Etwas separiert vom Rest der Bevölkerung gab es hier zwischen 1945 und 1957 eine Siedlung mit Synagogen, Religionsschulen, auch einer kleinen Universität für die Ausbildung von Rabbinern. Der Ort hatte eine jüdische Selbstverwaltung, eine jüdische Zeitung und eine eigene Polizei. Doch woher kamen diese Menschen mit diesem unfassbaren Leid?
Es waren zum Großteil Überlebende des Konzentrationslagers Dachau, die sich zum Teil auf dem sogenannten Todesmarsch in Richtung Alpen befanden, oder die völlig geschwächt und abgemagert, an Typhus und Tuberkulose erkrankt, zwischenzeitlich zur Genesung in die Lungenklinik Gauting verlegt wurden.
Zugleich war Föhrenwald ein Lager für Displaced Persons (DP), Menschen, die nicht in dieser Gegend beheimatet waren. Heimatlose (vornehmlich Juden), die hier eine Unterkunft fanden. Doch es war kein sicherer, von der deutschen Bevölkerung und der Bundes- wie Landesregierung akzeptierter Ort, an dem sich die Überlebenden vorbehaltlos ein neues Leben aufbauen konnten.
Alois Berger, freier Journalist und selbst in Wolfratshausen aufgewachsen, hat in „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ auf über 220 Seiten anhand von Erinnerungen, Interviews mit Zeitzeugen und anderen persönlichen Kontakten, sowie durch Recherche in den Archiven die Geschichte dieses beschämenden deutschen Nachkriegskapitels akribisch wie anschaulich zusammengetragen. Er beleuchtet auf bedrückende Weise die (antisemitische) Stimmung der Nachkriegszeit in Deutschland, die Vorbehalte deutscher Einheimischer gegenüber den eigenen Verbrechen.
1957 wurde das Schtetl Föhrenwald aufgelöst, die bis dahin dort noch lebenden Menschen wurden auf deutsche Großstädte verteilt – sofern sie nicht zwischenzeitlich in die USA und natürlich nach Israel ausgewandert waren. Selbst die Juden, die bleiben wollten, mussten gehen! Die Bayrische Landesregierung hatte das Areal ein Jahr zuvor an die katholische Kirche verkauft, die hier „katholische Heimatvertriebene“ mit ihren Familien ansiedelte.
Die nichtjüdische Gemeinde verdrängte dieses Thema erfolgreich über Jahrzehnte. Kaum jemand in Deutschland kannte Föhrenwald, geschweige denn das Schicksal der „Displaced Persons“. Selbst in Wolfratshausen wurde dieses Thema übergangen. Auch insofern ist Bergers „Föhrenwald, das vergessene Schtetl“ eine wichtige wie notwendige Aufarbeitung deutscher Nachkriegsgeschichte.
Jörg Konrad

Alois Berger
„Föhrenwald, das vergessene Schtetl“
Piper

Derzeit läuft im Münchner Stadtmuseum die Ausstellung „München Displaced. Heimatlos nach 1945“. Bis zum 07. Januar 2024 wird hier auf das vergessene Schicksal von etwa hunderttausend Displaced Persons (DPs), die sich 1945 in der Stadt befanden, verwiesen. „Erstmals wird die Nachkriegsgeschichte von ehemaligen Zwangsarbeiter*innen, Kriegsgefangenen, politischen KZ-Häftlingen sowie Geflüchteten auf Basis einer breit angelegten Forschung für die Stadt und den Landkreis München dargestellt.“
Stadtmuseum München
St.-Jakobs-Platz 1
80331 München
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Autor: Siehe Artikel
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