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Donnerstag 11.01.2024
ORCA
Ab 11. Januar 2024 im Kino
Elham, eine junge geschiedene iranische Frau, sucht nach sich selbst, nachdem sie von ihrem Ehemann fast zu Tode geprügelt wurde. Sie findet Trost und Erlösung im Schwimmen und macht sich bald - ermutigt von ihrem Vater, einen Namen als herausragende Langstreckenschwimmerin. Im Kampf um ihr Ziel zu erreichen: den Guinness-Rekord für das Erreichen der längsten Schwimmstrecke mit gefesselten Händen, muss sie politische, religiöse und persönliche Hindernisse überwinden. Denn die unnachgiebige Leiterin der Frauen-Leichtathletik im Iran, hält es für unmöglich, dass Frauen bei Wettkämpfen schwimmen und sich gleichzeitig so verhalten und kleiden, wie es der Islam verlangt. Aber schließlich findet sie einen Trainer, der bereit ist, ihr trotz der möglichen Folgen zu helfen.
Dieses Politikdrama von Regisseurin Sahar Mosayebi basiert auf einer wahren Geschichte und erzählt auf beeindruckende Weise von Elham (Taraneh Alidoosti )einer jungen iranischen Frau, die beschließt, den Guinness-Rekord für das Langstreckenschwimmen mit gefesselten Händen zu brechen. Im Meer findet Elham Frieden und versucht, ihren Ex-Mann zu vergessen, der sie fast zu Tode geprügelt hat. Doch ihr Vorhaben erweist sich als schwieriger als erwartet, nachdem ihr politische und religiöse Hindernisse in den Weg gelegt werden.
Das iranische Filmdrama folgt einer Frau, die einen entsetzlichen Angriff ihres geschiedenen Mannes überlebt und als Ausdauerschwimmerin Trost findet. Sie überwindet alle politischen und religiösen Hürden, um mit gefesselten Händen so weit zu schwimmen, wie es noch niemand getan hat.
Ein Film von Sahar Mosayebi
Mit Taraneh Alidoosti, Mahtab Keramati, Ayoub Afshar, Arash Aghabeik, u.a.
Sahar Mosayebi
Sahar Mosayebi (geboren 1975 in Teheran) begann in den frühen achtziger Jahren im Filmbusiness zu arbeiten - zuerst als Regieassistentin. Der Film Orca ist die Fortsetzung ihres Dokumentarfilms Platform (2020), der die Geschichte dreier iranischer Schwestern erzählt, die sich in der Welt des internationalen Kampfsports messen.
Bei den Filmen „Men at Work“ aus dem Jahr 2006 und „The Old Road“ (2018) arbeitete sie noch als Regieassistentin.
"Alle Vorfälle in dem Film sind wahr, sie sind real und Elham hat das alles durchgemacht. Mit diesem Film stellen wir Fakten dar und kritisieren oder verurteilen niemanden", sagte Mosayyebi auf einer Pressekonferenz bei der Ajyal-Veranstaltung.
Sie merkte auch an, dass "Orcas wie Menschen sind; sie sind sehr familienorientiert und nah beieinander, gefühlvoll und empfindsam. Daher war es naheliegend, den Film nach ihnen zu benennen."
„ Beharrlichkeit steht im Mittelpunkt des bewegenden Dramas Orca von Sahar Mosayebi, das auf der wahren Geschichte von Elham Asghari basiert. Die iranische Freiwasserschwimmerin trotzte den rechtlichen und kulturellen Beschränkungen, die Frauen im Iran auferlegt werden, und stellte Weltrekorde auf. Damit hat sie dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auf die Herausforderungen zu lenken, mit denen die iranischen Sportlerinnen konfrontiert sind, die sich danach sehnen, in allen Sportarten antreten zu können, nicht nur in den offiziell sanktionierten…“
Wie jeder typische Sportfilm ist auch Orca eine spannende Geschichte über einen Athleten, der nach Höchstleistungen strebt. Aber die Reise von Elham Asghari (Taraneh Alidoosti) als Ausdauerschwimmerin im Iran hat nichts Typisches an sich. Als Überlebende häuslicher Gewalt findet sie im Wasser zu sich selbst zurück - wie ihr Vater bemerkt, schwamm sie schon im Alter von zwei Jahren, ohne dass ihr jemand Unterricht gab.
Sie verfügt über die nötige Kraft, um in starken Strömungen und über lange Strecken zu schwimmen. Doch als sie den iranischen Sportverband um seinen Segen bittet, verweigert man ihr diesen. (Immerhin handelt es sich hier um eine Regierungsbehörde, die Frauen nicht erlaubt, Kickboxen oder Muay Thai zu betreiben, weil dies ihre Fortpflanzungsorgane schädigen könnte - wie bitte?)
Sie widersetzt sich der Weigerung der Behörde und setzt sich zum Ziel, einen Guinness-Weltrekord aufzustellen, indem sie das Kaspische Meer in Handschellen durchschwimmt. Selbst dann stößt sie auf eine Reihe von Hindernissen: die Föderation, die fehlende Zusammenarbeit der Regierung mit Guinness oder die fehlende Anerkennung durch die Regierung und zufällige Gruppen sehr wütender Männer, die bereit sind, Gewalt anzuwenden, um Elham dafür zu bestrafen, dass sie aus der traditionellen Rolle einer Frau herausgetreten ist. Jeder Vorschlag, den sie macht, einschließlich ihrer Bereitschaft, in einem vollen Tschador zu schwimmen, der sie im Wasser beschwert, stößt auf Ablehnung.
Aber nachdem sie sich entschlossen hat, braucht es mehr als eine autoritäre Regierung und toxische Männer, um sie aufzuhalten, denn sie nimmt sich ein Beispiel an dem titelgebenden Meeressäuger, der in diesem spritzigen, auf Fakten basierenden Drama frei schwimmt…“
(Pam Grady/AWFJ -Alliance of Women Film Journalists)
“.. Regisseurin Sahar Mosayebi ("Platform") gibt dieser Geschichte, deren Drehbuch von Tala Motazedi stammt, ein stattliches Tempo, das Raum für Elhams Unterwasserträume lässt. Das Drehbuch gibt uns anschauliche Gegenspieler - die Revolutionsgarden versuchen, Elham zu ertränken, als sie weit vor der Küste schwimmt - sie unternimmt ihre Versuche im Kaspischen Meer und im Persischen Golf - und hartnäckige, mutige Verbündete.
Wir sehen Elham zwar nicht als fromme, religiöse Frau, aber der Film liefert überwältigende Beweise dafür, dass sie immer vernünftig war, nach Erlaubnis suchte, Kompromisse und Lösungen anbot, höflich war, bis sie schließlich genug hatte.
Die Figur und Alidoostis bewegende Darstellung machen Elham zu einer Metapher für den Kampf jeder Frau in einem Land, das darauf versessen ist, Frauen zu kontrollieren und zu unterdrücken, wo selbst ein Moment des Triumphs von einer anderen Frau verweigert werden kann, die die Kontrolle über Elham nutzt, um die Macht des fanatischen, allmächtigen Staates auszudrücken.
"Orca" mag eine Variation des klassischen Sportdramas "Erfolg gegen alle Widrigkeiten" sein. Aber Alidoosti, Keramati, Mosayebi und Motazedi lassen keinen Zweifel daran, was hier auf dem Spiel steht, um zu "gewinnen". Sie sollten ihr "Verbot im Iran"-Abzeichen mit Stolz tragen…..” (Liz Whittemore/ AWFJ -Alliance of Women Film Journalists)
Autor: Siehe Artikel
Donnerstag 04.01.2024
DIE UNENDLICHE ERINNERUNGEN
Seit 28. Dezember 2023 im Kino
Sie sind seit mehr als 20 Jahren ein sich innig liebendes Paar: Augusto Góngora, chilenischer Journalist und prominenter Chronist der Verbrechen des Pinochet-Regimes, und Paulina Urrutia, renommierte Schauspielerin und Politikerin, Kulturministerin in der ersten Regierung von Michelle Bachelet. Vor acht Jahren wurde bei Augusto Alzheimer diagnostiziert, nun müssen beide mit dem unaufhaltsamen Niedergang seiner körperlichen und geistigen Kräfte umgehen. Die Geschichte von Augustos leidenschaftlichem Kampf, seine Identität zu bewahren, und Paulinas warmherziger und hartnäckiger Hingabe ist ein zutiefst berührendes Zeugnis ihrer Liebe – herzzerreißend, inspirierend und ermutigend.
Ein Film von MAITE ALBERDI
Der neue Film der Oscar-nominierten Regisseurin Maite Alberdi, ausgezeichnet u.a. mit dem Grand Jury Prize in Sundance, ist das warmherzige und respektvolle Porträt zweier charismatischer, unbeugsamer Menschen und ihrer Liebe in schwierigen Umständen. Meisterhaft montiert aus dem von Alberdi und – während der durch die Pandemie erzwungenen Isolation – von Paulina Urrutia selbst gedrehtem Material, aus den vielen Zeugnissen des Schaffens und Wirkens von Augusto Góngora und Paulina Urrutia und aus privaten Videos, erzählt Die unendliche Erinnerung von einem lebenslangen Kampf für die Menschlichkeit, gegen die Verbrechen der Diktatur, gegen die Straflosigkeit, gegen das Vergessen.
In der Verschränkung von Augustos mit seinem ausdrücklichen Einverständnis filmisch porträtierten Kampfs gegen die Alzheimer-Erkrankung mit den politischen Dimensionen der Gedächtnisses, macht der Film die komplexen Mechanismen individuellen und kollektiven Erinnerns zum Thema: An was und an wen erinnern wir uns? Warum vergessen oder verdrängen wir bestimmte Erinnerungen? Wie wirkt sich das aus, auf den einzelnen Menschen ebenso wie auf ein ganzes Land?
„Erinnerung ist Identität“, sagt Augusto Góngora einmal im Film. Und auf wunderbare Weise erzählt Die unendliche Erinnerung von dem, was zur Essenz von Erinnerung und Identität gehört, der Liebe. Die unendliche Erinnerung, produziert von Alberdis Micromundi und Fabula von Pablo und Juan de Dios Larraín, wurde in Chile zum erfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten und verdrängte in der Startwoche Barbie von Platz 1 der Kinocharts.
INTERVIEW MAITE ALBERDI
Wie sind Sie Augusto und Paulina und ihrer Geschichte begegnet?
Sie sind beide bekannte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Chile, seit langer Zeit. Eines Tages war ich für einen Vortrag an der Universität eingeladen, an der Paulina Direktorin der Theaterfakultät war. Während sie die Präsentation machte, bemerkte ich Augusto im Saal. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits an Alzheimer erkrankt, und ich erlebte, wie sie das in ihre Arbeit und ihr Leben integrierte, er saß nicht nur zu Hause herum. Er begleitete sie bei ihrer Arbeit, sie ließ ihn teilhaben, sogar unterbrechen, es war ihr nicht peinlich. Sie freute sich, dass er mit dabei war. Ich hatte das zuvor noch nie erlebt, dass jemand mit einer Demenzerkrankung so in das Leben seiner Bezugsperson integriert war. Sie schien wirklich Freude daran zu haben, dass er da war.
Wie haben sich die Dreharbeiten entwickelt, auch während der Beschränkungen der Pandemie? Wie sind gerade die intimeren Momente zwischen Ihnen entstanden?
Das war der erste Film, den ich gedreht habe, bei dem mich jeder Moment berührt hat. Augusto und Pauli so lange mit der Kamera zu begleiten, war ein großes Glück für mich. Wir waren ein kleines Team aus drei Leuten, ich, der Kameramann und der Tonmann, die mit Augusto schon bei seinen Fernsehsendungen zusammengearbeitet hatten und sich schon seit Jahren kannten. Das war eine bewusste Entscheidung, wir mussten ein kleines Team sein, um ihre Privatsphäre zu respektieren und nicht aufdringlich zu sein.
In der Zeit, in der wir sie begleiteten, filmte Paulina manchmal auch selbst mir ihrer eigenen Kamera. Dabei hat sie sehr intime Momente festgehalten, zu denen ich niemals Zugang gehabt hätte, wie zum Beispiel ihre Auseinandersetzungen in der Nacht. Auch als wir wegen Covid nicht dort sein konnten, hat sie selbst gefilmt und uns das Material zur Verfügung gestellt.
Die große chilenische Dichterin Gabriela Mistral hat einmal gesagt: „Nur das, worauf wir achten, um seine Einzigartigkeit zu erkennen, ist das, was uns verpflichtet und dazu bringt zu reagieren.“
Wenn Paulina die Kamera nimmt, lädt sie uns ein, aufmerksam zu sein und uns die Zeit zu lassen, an ihrem Leben teilzuhaben – wir können nur das lieben, dem wir unsere Aufmerksamkeit schenken. Weil auch Augusto in der Vergangenheit immer sein Familienleben gefilmt hat, kreuzen und vermischen sich die Materialien und lassen uns zu Zeugen von 25 Jahren bedingungsloser Liebe werden. Wir hatten das große Glück, sie nicht nur filmen zu dürfen, sondern auch Zugriff auf das über viele Jahre hinweg entstandene Filmmaterial zu haben, das sie voneinander gedreht hatten.
Der Film zeigt Augusto in einigen Situationen, in denen er sich nicht bewusst zu sein scheint, was um ihn herum geschieht. Wie verlief der Prozess zur Einholung der Zustimmung zum Drehen? Was war tabu?
Augusto war es, der Paulina letztlich davon überzeugt hat, diesen Film zu machen. Als ich mit den beiden über die Idee eines Dokumentarfilms sprach, hatte sie Zweifel, aber er sagte uns: „Ich habe kein Problem damit, meine Zerbrechlichkeit zu zeigen. Ich habe selbst so viele Dokumentarfilme gemacht, warum sollte ich in dieser Situation nicht gefilmt werden wollen?“ Er war sich der Anwesenheit der Kamera immer bewusst, und es war ihre gemeinsame Entscheidung, weiter zu filmen, als wir das aufgrund von Covid nicht mehr konnten.
Es waren Paulina, Augustos Kinder und Augusto selbst, die beschlossen, diese Aufnahmen zu machen, und sie sind alle sehr glücklich und stolz auf den Film, so wie er geworden ist. Er ist fast wie ein lebendiges, atmendes Fotoalbum von Augusto.
Ähnlich wie in Ihrem vorherigen Film El agente topo geht es auch in Die unendliche Erinnerung um das Altwerden. Was interessiert Sie an diesem Thema?
Ich denke, dass es mich interessiert, die Veränderung eines Körpers und des Alterns, die Endlichkeit und den Tod als etwas Normales zu akzeptieren und die Schönheit in der Zerbrechlichkeit zu entdecken. Es ist der Lauf der Zeit. Niemand hat uns beigebracht, alt zu werden und zu sterben, und es interessiert mich, das zu beobachten und als etwas Normales zu betrachten. Vielleicht kann es Menschen, die mit dieser Angst zu kämpfen haben, Trost bringen.
Aber Die unendliche Erinnerung ist vor allem eine Liebesgeschichte, es geht darum, wie Liebe in einer Situation der Zerbrechlichkeit gelebt wird, wie es ist, ein Paar zu sein, wenn es keine komplette Erinnerung mehr gibt. Es hat mir große Freude gemacht, diese Geschichte zu filmen, weil ich das nicht aus dem Gedanken heraus erlebt habe, jemanden zu verlieren oder dass jemand das Gedächtnis verliert. Ich habe es genossen, bei den beiden zu sein, ich habe bewundert, was sie gemeinsam hatten, eine Beziehung, die ich selbst so noch nicht erlebt hatte, auch nicht in meinem Umfeld. Eine Liebe, bei der das Entscheidende nicht ist, was sie waren, sondern das, was sie heute sind, dass sie einander haben.
Was war die größte Herausforderung für Sie?
Das Komplizierteste war, glaube ich, die Ungewissheit. Nicht zu wissen, bis zu welchem Punkt und wie lange wir drehen würden, ob wir weitermachen würden, was wir während der Pandemie tun sollten... Es war ein Film, bei dem ich mir beim Drehen nicht sicher war, wann wir aufhören würden, wie er enden würde oder wie wir ihn beenden könnten. Das Schwierigste war die Montage: Zu verstehen, wie man dieses Puzzle zusammensetzt, wie in der Montage auch unser Verständnis von Erinnerung zum Ausdruck kommt, wie viel wir von ihrer Vergangenheit zeigen, wie wir ihre Identität als Einzelmenschen und als Paar bauen, in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, wie eine „unendliche Erinnerung“ dargestellt werden sollte. Dieses Erinnerungspuzzle, bei dem sich die Teile überschneiden, in Verbindung zueinander stehen und einen von einer Seite zur anderen bewegen, ohne konventionelle Erzählung, sondern eher sinnlich und emotional – das war am schwierigsten zu realisieren.
Augusto spricht im Film über die Bedeutung der Erinnerung für die Aufarbeitung der Pinochet-Ära in Chile. Formt die Erinnerung an diese Ära die chilenische Gesellschaft weiter?
In diesem Jahr jährt sich der Pinochet-Putsch in Chile zum 50. Mal. Die Geschichte vergisst historische Fakten nicht, und wir leben heute in einer Gesellschaft, für die das Gedenken, das Erinnern wichtig ist, damit sich das nicht wiederholt. Die Frage ist, was mit der psychischen Wahrheit geschieht, in der Auseinandersetzung mit der historischen Wahrheit. Augusto hat Alzheimer, aber es gibt bestimmte Ereignisse in der Geschichte seines Landes, schmerzhafte Ereignisse, die er nie vergisst, die sein Körper nie vergisst. Der Schmerz bleibt bestehen, und oft ist es schwer, mit diesem Schmerz weiterzuleben. Man lernt, mit dem Schmerz im Körper zu leben, und von dort aus erinnert man sich. Wie Nietzsche sagte: „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.“ Es kann nicht aufhören, weh zu tun, also können wir weiter erinnern. Was mit Augusto geschieht, denke ich, ist bestimmend dafür, wie Geschichte mit der Psyche einhergeht, so wie er es selbst im Film sagt: „Es ist sehr wichtig, die Erinnerung zu rekonstruieren, nicht um in der Vergangenheit verankert zu bleiben, sondern weil wir denken, dass die Rekonstruktion der Erinnerung immer ein Akt mit einem Sinn für die Zukunft ist. Es ist immer ein Versuch, sich selbst zu sehen, die Probleme zu erkennen, unsere Schwächen zu kennen, um sie zu überwinden und offen in die Zukunft blicken zu können. Es erscheint uns wichtig festzustellen, dass die Wiederherstellung der Erinnerung als rein rationaler Akt nicht ausreichend ist. Zahlen oder Statistiken allein reichen nicht aus, ich glaube, dass wir Chilenen auch unser emotionales Gedächtnis wiederherstellen müssen, gerade weil diese Jahre so hart, so traumatisch, so schmerzvoll waren. Wir müssen auch unsere Emotionen wiederfinden, den Schmerz annehmen, unsere Kämpfe ausfechten.“
Sie zeigen altes Videomaterial von Augusto, in denen er die Erinnerung als mächtige Waffe gegen den Autoritarismus bezeichnet. Wie kann sie das heute sein, eine mächtige Waffe?
Das Konzept der Erinnerung ist komplex. Ich denke, dieser Film zeigt, was bleibt, wenn alles vergessen ist. Die Identität von jemandem, der nie verschwunden ist, der bis zum Schluss einen eigenen, charakteristischen Ton hat, der niemals bestimmte schmerzhafte historische Ereignisse
vergisst. Jemand, der liebt, auch wenn er sich nicht mehr zu erinnern scheint. Der Körper erinnert sich. Es ist ein Film über die Erinnerung, der von dem ausgeht, woran man sich erinnert, nicht von dem, was man vergisst. Es ist ein Film über das, was bleibt.
Autor: Siehe Artikel
Donnerstag 28.12.2023
JOAN BAEZ – I AM A NOISE
Ab 28. Dezember 2023 im Kino
Seit mehr als 60 Jahren ist Joan Baez eine der bekanntesten Stimmen der populären Kultur, hat mit ihren Liedern, aber auch ihrer aufrechten, kämpferischen Haltung Generationen von maßgeblichen Künstlern sowie Menschen auf der ganzen Welt beeinflusst. Nun blickt die wichgste amerikanische Folksängerin zurück auf ihre Karriere und ihr Leben: von ihren lebenslangen emotionalen Problemen, über ihr Engagement in der Bürgerrechtsbewegung mit Martin Luther King, bis hin zu der schmerzlichen Beziehung mit dem jungen Bob Dylan. In offenen, ungeschminkt ehrlichen Gesprächen, die ungeahnte persönliche Kämpfe und innere Dämonen zu Tage fördern, gewährt sie einen tiefen Blick in ihre Seele. Das Ergebnis ist ein filmisches Dokument von mitreißender Power, das einer außergewöhnlichen Frau ein würdiges Denkmal setzt.
Ein Film von aren O’Connor, Miri Navasky & Maeve O’Boyle
„Jeder hat drei Leben.
Das öffentliche, das private und das geheime…“
Gabriel García Márquez
JOAN BAEZ I Am A Noise ist weder konventionelles Biopic noch traditioneller Konzertilm.
Mehrere Jahre folgten die Regisseurinnen Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle der ikonischen Künstlerin. Im Laufe des Films zieht Baez schonungslos Bilanz und enthüllt auf bemerkenswert in?me Weise ihr Leben auf und abseits der Bühne. So entstand eine immersive
Dokumentation, die fließend durch die Zeit gleitet, die legendäre Musikerin auf ihrer letzten Tour begleitet und auf bis heute nie gesehene Archivaufnahmen zurückgreift: Aus Home-Movies, Tagebucheinträgen, Kunst, Therapie-Bändern und anderen Audio-Aufnahmen formt sich das Bild einer einzigartigen Frau, die nur mit einer Gitarre bewaffnet und ihrer unverwechselbaren, glasklaren Stimme, Musik- und Weltgeschichte geschrieben hat. Ihre umjubelte Deutschlandpremiere feierte JOAN BAEZ I Am A Noise in Anwesenheit des Weltstars auf der diesjährigen BERLINALE.
REGIE-STATEMENT
Seit mehr als 20 Jahren mache ich zusammen mit meinen Mit-Regisseurinnen Miri Navasky und Maeve O’Boyle Dokumentarfilme, die sich mit komplexen gesellschaftlichen Themen auseinandersetzen: von Transgender-Kids und psychisch kranken Gefängnisinsassen zu Erderwärmung und Abtreibungsrechten. Mit JOAN BAEZ I Am A Noise haben wir uns erstmals an eine Filmbiografie gewagt. Das Vorhaben erwies sich als respekteinflößende, aber aufregende filmemacherische Herausforderung, zumal es um eine lebende Legende geht.
Dokumentationen über berühmte Menschen sind von Natur aus knifflig. Vieles über sie ist weithin bekannt, und was erzählt wird, ist in der Regel sorgfältig kuratiert und kontrolliert. Aber Joan Baez, mit der ich seit 1989 gut befreundet bin, war bereit wie nie zuvor, einen ungeschminkten Blick auf ihr eigenes Leben zu werfen. Sie war nicht interessiert an einer Hagiografie oder verklärter Nostalgie. Obwohl Joan immer bewusst war, dass sie keine Kontrolle über den Film haben würde, gab es keinen Moment, an dem sie etwas zurückgehalten oder vielleicht gezögert hätte, noch öfter nach den härteren, dunkleren Wahrheiten ihres Lebens zu graben. Was uns die seltene Gelegenheit gab, einen Film über Joan Baez zu machen, der so ehrlich, kompliziert, pfiffig und vielschichtig ist wie sie selbst.
Mit 18 war sie bereits eine Berühmtheit, mit 21 auf dem Titel des Time Magazine, bekannt als „Queen of Folk“. Joan Baez war viel größer, als es irgendein Folksänger vor ihr jemals gewesen war. Sie war ein Phänomen. Die Sängerin mit einem Sopran wie aus einer anderen Welt, die
ätherische Schönheit: Niemand hatte jemals jemanden gesehen oder gehört wie sie. Die Männer lagen ihr zu Füßen, die Frauen wollten sein wie sie. Sie wurde zur Ikone einer neuen Generation von Musiker:innen, von Bob Dylan und Leonard Cohen hin zu Joni Mitchell und Pati Smith. Ihre politische Leidenschaft trug indes in ebenso großem Maße wie ihr erstaunliches Talent dazu bei, dass sie zur Legende wurde. Lange bevor „celebrity activism“ als cool erachtet wurde, setzte Joan ihren Einfluss und ihr bedingungsloses Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit ein, um Leid zu lindern und Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Für Baez war das Persönliche immer politisch.
Der Umriss von Baez‘ gewaltig großem, geschichtsträchtigem Leben ist bestens bekannt und dokumentiert. Wir aber wollten mit diesem Film Joans Vergangenheit zum Leben erwecken. Nicht mit Gimmicks oder „talking heads“, sondern mit einer Fülle von originalem Ausgangsmaterial von Joan selbst und ihrer Familie, auf das wir zugreifen konnten: neu entdeckte Home-Movies, Joans unglaubliche Kunstwerke und Zeichnungen, Tagebücher und Briefe, Fotos, Bandaufnahmen ihrer Therapiesitzungen und ein Goldschatz von auf Kassette eingesprochenen Briefen, die Baez von unterwegs an ihre Familie geschickt hatte – all diese Quellen fangen in Realzeit ein, was sie damals empfunden hat, anstatt eine Erinnerung aus weitem Abstand zu sein. Zu jedem Moment wollten wir, dass der Film eine immersive und unmittelbare Erfahrung ist, mehr eine Zeitreise als eine Biografie.
Weil Joan und ich uns gut kannten, war unser Team in der Lage, sie hautnah zu begleiten und direkt mit dabei zu sein, auf ihrer Tour, bei ihr Zuhause. So gelang uns ein intensiver, intimer Film voller unerwarteter Einblicke, herzzerreißender Momente und viel Humor. Ein biografischer Strang fängt Joans frühe Jahre und ihren meteorhaften Aufstieg ein; ein dunklerer psychologischer Strang befasst sich mit ihren inneren „Dämonen“, und ein aktueller Strang folgt Joan am Ende einer musikalischen Karriere, die mehr als 60 Jahre umfasst. Obwohl wir wussten, dass Baez’ Abschiedstournee der Geschichte aus der Gegenwart einen adäquaten Rahmen geben würde, wollten wir niemals einen Konzertfilm machen.
Um die Geschichte von Joan so unmittelbar und direkt wie möglich erzählen zu können, grenzten wir die Anzahl an Interviews ganz bewusst ein. Viele berühmte Menschen waren bereit, über Joans Einfluss zu sprechen. Wir aber wollten kein Biopic machen mit Berühmtheiten, die über andere Berühmtheiten reden. Also inkludierten wir nur die Menschen aus Joans innerem Kreis, deren Erinnerungen und Einblicke sich so intim und authentisch anfühlen würden wie der Rest des Films. Auch arbeiteten wir eng mit unseren Kameraleuten zusammen, um einen informellen visuellen Stil zu entwickeln, sehr „verité“, der für die aktuellen Aufnahmen ebenso funktionieren würde wie für die Archivstränge. Bei all unseren Interviews kam stets nur natürliches Licht zum Einsatz. Die Konzert- und Tour-Sequenzen wurden alle behind-the-scenes gedreht, um dem „Look and Feel“ des restlichen Films zu entsprechen. Alle kreativen Elemente in diesem Film – Bild und Ton, Grafiken und Animation, Musik und Score – tragen in der Summe dazu bei, Baez’ beachtliche Geschichte noch präziser zu zeichnen und zu vertiefen.
Joans Bereitschaft, sich auch an die unbequemen und schmerzhaften Stellen ihres Lebens zu begeben, verleiht dem Film seine Kraft, seine Wucht. Und weil sie es so bereitwillig tut, öffnet Joan eine Tür für andere, den Mut aufzubringen, es ihr gleichzutun. Andere wiederum finden sich vielleicht wieder in den Ideen, die in unserem Film angesprochen werden: es geht um Ruhm und Idendität, Kreativität und psychische Erkrankung, Altern und Trauer, Erinnerung und Vergebung – allesamt zutiefst menschliche und universale Themen, die weit über die Besonderheiten von Joan Baez’ Geschichte hinausreichen. Wie ein roter Faden zieht sich eine echte Gravitas durch den Film, während wir dieser kompromisslos krea?ven und engagierten Künstlerin folgen und sie dabei erleben, wie sie sich ihrer Vergangenheit stellt und doch immer weiter nach vorne blickt, in eine neu ausgemalte Zukunft.
- Karen O’Connor
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Donnerstag 21.12.2023
PERFECT DAYS
Ab 21. Dezember 2023 im Kino
Hirayama reinigt öffentliche Toiletten in Tokio. Er scheint mit seinem einfachen, zurückgezogenen Leben vollauf zufrieden zu sein und widmet sich abseits seines äußerst strukturierten Alltags seiner Leidenschaft für Musik, die er von Audiokassetten hört, und für Literatur, die er allabendlich in gebrauchten Taschenbüchern liest. Durch eine Reihe unerwarteter Begegnungen kommt nach und nach eine Vergangenheit ans Licht, die er längst hinter sich gelassen hat.
PERFECT DAYS ist eine tief berührende und poetische Betrachtung über die Schönheit der alltäglichen Welt und die Einzigartigkeit eines jeden Menschen.
Ein Film von Wim Wenders
Mit Koji Yakusho, Tokio Emoto, Arisa Nakano, Aoi Yamada u.a.
INTERVIEW MIT WIM WENDERS
Mit PERFECT DAYS kehren Sie nach vielen Jahren nach Japan zurück. Wie kam das Projekt zustande und wovon handelt es im Kern?
Anfang 2022 erhielt ich einen Brief aus Tokio: „Hätten Sie Interesse, nach Tokio zu kommen und sich ein höchst interessantes soziales Projekt anzuschauen? Es handelt sich um ein gutes Dutzend öffentlicher Toiletten, die allesamt von großen Architekten gebaut wurden. Wir könnten uns
vorstellen, dass Sie das inspirieren könnte, vielleicht zu einem Fotobuch, vielleicht zu einer Reihe von Kurzfilmen, was auch immer. Sie hätten jede künstlerische Freiheit und wenn Sie sich darauf einlassen würden, würden wir Ihnen bestmögliche Bedingungen garantieren.“ So ungefähr. Klang höchst verlockend. Gerade noch hatte ich meiner Frau erzählt, was für ein Heimweh ich nach Tokio hätte, und wie schade es sei, dass man wegen der Pandemie noch immer nicht einreisen könne. Diese offene Einladung war mit einem Arbeitsvisum verbunden!
Der Brief enthielt Fotos von diesen Toiletten, die wirklich erstaunlich aussahen und alle in Parks eingebettet waren. Es gehe im Prinzip um das Wesen der japanischen Willkommenskultur, hieß es weiter, in der Toiletten einen völlig anderen Stellenwert hätten als im Westen. Da sind in der
Tat die „stillen Örtchen“ nicht Teil unserer Kultur, sondern verkörpern eher deren Abwesenheit. Mir gefielen diese architektonischen Meisterwerke in Miniatur, die eher Tempeln glichen als Toiletten, und der künstlerische Aspekt, der das Projekt umgab.
Ich antwortete also: „Ihr Vorschlag interessiert mich. Aber zunächst müsste ich mir ein Bild vor Ort machen. Ich kann mir weder ein Buchprojekt noch Geschichten ausdenken, ohne die Schauplätze zu kennen. Außerdem stecke ich mitten in einem anderen Film. Ich kann Ihnen lediglich eine Woche im Mai anbieten, um mir ein Bild zu machen, und das Projekt dann erst im Oktober realisieren, wenn mein jetziger Film mir ein Zeitfenster während der Postproduktionsphase gibt.“ (Es ging um ANSELM, der sich im zweiten Produktionsjahr und seit über einem Jahr im Schnitt befand.)
Im Mai flog ich nach Tokio. Das war eine wunderbare Jahreszeit, um nach langer Zeit endlich wieder dorthin zu kommen. Meine Erkundungsreise fiel außerdem genau in die Zeit, in der die Tokioter nach einer gefühlten Ewigkeit im Lockdown wieder in die Stadt, in die Straßen und Parks
konnten. Es war einfach glorreich, zu sehen, mit welcher Begeisterung und Freude dies geschah, umso mehr, als diese Wiederinbesitznahme mit einer unfassbaren Vorsicht, fast mit Ehrfurcht geschah. Wenn in Berlin, wo ich lebe, öffentliche Plätze unter der Rückkehr zur Normalität enorm
gelitten hatten, manche Parks davon nahezu verwüstet worden waren, war es in Tokio umgekehrt der Fall. Die Menschen feierten auch hier, aber im Anschluss daran wurden alle Flaschen, Tüten, Essensüberreste usw. säuberlich eingesammelt (öffentliche Mülleimer gibt es praktisch nicht) und von allen dann zuhause entsorgt. In europäischen Städten konnte man als Hauptopfer der Pandemie durchaus den Sinn für das Allgemeinwohl ausmachen. In vieler Hinsicht ließ man danach jedenfalls alles, was Allgemeinbesitz war, deutlich mehr verkommen als vorher. Hier in Tokio war es umgekehrt.
Und die kleinen Toilettentempel gefielen mir ungemein, aber gleich vom ersten Eindruck her nicht als Mittelpunkte kurzer Dokumentarfilme. Ich hatte vielmehr große Lust, sie in einen fiktionalen Kontext zu setzen. Ich finde, ‚Orte‘ sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten. DER HIMMEL ÜBER BERLIN fing ja auch mit der Lust an, diese Stadt mit all ihren Facetten zu zeigen. Aber wenn ich damals einen Dokumentarfilm über Berlin gemacht hätte, wären die Orte des Films nicht so ‚erhalten‘ geblieben, wie es durch die Erzählung der Engelsgeschichte geschehen ist.
Aus dem ursprünglichen Vorschlag standen 4 Kurzfilme mit jeweils 4 Drehtagen im Raum. In diesen 16 Tagen könnte man stattdessen auch einen richtigen Film drehen! In dem würden diese schönen architektonischen Juwelen natürlich vorkommen, aber sie müssten eben nicht die ganze
Sache tragen. Das könnte eine Geschichte viel besser. Zu Beispiel mit einer Hauptfigur, die etwas von dem japanischen Sinn für das Gemeinwohl verkörpern würde. Ich hatte am ersten Tag schon die Männer kennengelernt, die sich um die Hygiene der Toiletten kümmerten. So einen könnte
ich mir gut vorstellen, einer, der sich verantwortlich dafür fühlen würde, dass diese Orte schön, einladend und sauber blieben...
Meine Idee fand sofort Anklang. Aber war sie umsetzbar? Ich war der festen Überzeugung, dass dies möglich war, wenn wir die übrigen Handlungsorte reduzieren und uns auf eine Hauptfigur beschränken würden. Den Schauspieler dafür galt es zu finden und ein Drehbuch zu schreiben.
Den Autor gab es schon. Seine Augen leuchteten, als ich meinen Plan vorschlug. Es war der Mann, der die Idee ausgeheckt hatte, mich nach Tokio einzuladen. In dem Schriftsteller und kreativen Kopf Takuma Takasaki hatte ich einen großartigen Sparring-Partner und Co-Autoren.
Bevor ich mich versah, gab es auch den Schauspieler. Was hielte ich von Koji Yakusho? Was? DER Koji Yakusho, den ich mehrfach in SHALL WE DANCE oder in BABEL gesehen und bewundert hatte? Ja, genau der. Der würde mitmachen, wenn es zu so einem Film mit mir käme. Das schien zu schön, um wahr zu sein. Am nächsten Tag standen wir uns schon gegenüber, etwas schüchtern noch, und sahen uns in die Augen; einen besseren für diese Rolle gäbe es nicht!
Nach einer Woche war ich zurück in Berlin. Bald darauf kam Takuma nach Berlin. Zwei Wochen später hatten wir die Grundzüge einer Geschichte mit einem Mann namens Hirayama. Der Rest der Arbeit am Drehbuch, an den Drehvorbereitungen und dem Casting ging über die nächsten Wochen und Monate per Mails und Zooms. Und den ganzen Oktober lang war ich dann in Tokio, nach einer Woche intensiver Vorbereitung mit meinem Kameramann Franz Lustig haben wir angefangen, zu drehen. Genau 16 Tage lang. Mehr Zeit hatte Kojo Yakusho auch nicht. Der fing
direkt im Anschluss an PERFECT DAYS einen großen Samurai-Film an.
Der Film beschreibt auf beinah poetische Weise die Schönheit des Alltags anhand der Geschichte eines Mannes, der ein bescheidenes, aber sehr zufriedenes Leben in Tokio führt.
Das ist alles aus der Figur Hirayama entstanden, und aus meinem nahezu utopischen ersten Eindruck von Tokio nach der Pandemie. Takuma und ich, wir haben uns jemanden vorgestellt, der einmal privilegiert und wohlhabend war, dann aber von diesem Leben immer weniger erfüllt ist und schließlich voll abstürzt. Eines Tages, am Tiefpunkt seines Lebens, an dem er schon bereit ist, diesem ein Ende zu bereiten, hat er eine Erleuchtung. Als er morgens in einem schäbigen Hotelzimmer aufwacht, ohne sich zu erinnern, wie er da gelandet ist, starrt er auf die kahle Wand ihm gegenüber. Er empfindet nichts mehr, weder für sich noch für die Welt. Und auf einmal erscheint auf dieser leeren Fläche vor ihm ein Schattenspiel, das von den Sonnenstrahlen hervorgezaubert wird, die irgendwie durch einen Baum bis in sein düsteres Zimmer fallen. Und wie er ungläubig auf diese Erscheinung schaut, diesen Tanz der Blätter im Wind oder besser, die Reflektion dieses flüchtigen Vorgangs, da wird ihm bewusst, dass dies nur für ihn sichtbar ist, für ihn allein, erschaffen von nichts als Blättern, Wind und einer Lichtquelle aus weiter Ferne, aus dem All, von der Sonne. Er hält den Atem an, wie er in sich eine große Wärme aufsteigen fühlt, weil ihm plötzlich bewusst wird, wie einzigartig er selbst und sein Leben ist. Und er murmelt das Wort vor sich hin, dass es in der japanischen Sprache für dieses Lichtspiel der Blätter im Wind
gibt: „Komorebi.“
Die Erscheinung rettet Hirayama und er beschließt, von jetzt an ein von Einfachheit und Bescheidenheit geprägtes Leben zu führen. Er wird zu einem Gärtner und schließlich zu dem ,Toilettenputzer‘, von dem unsere Geschichte erzählt: hingebungsvoll und zufrieden mit den Dingen, die er besitzt, darunter eine Pocket-Kamera (mit der er nur Bilder von Bäumen und Komorebis macht), die Taschenbücher, die er sich einmal in der Woche gebraucht kauft und sein alter Kassettenrecorder mit der Kassettensammlung, die er aus seiner Jugendzeit hinübergerettet hat. Sein Musikgeschmack inspirierte uns auch zu dem Titel des Films, als nämlich Hirayama eines Tages Lou Reeds Song Perfect Days anhört.
Hirayamas Alltag dient unserer Erzählung als Rückgrat. Das Schöne an diesem monotonen Rhythmus des ‚ewig Gleichen‘ ist, dass man plötzlich beginnt, auf all die kleinen Dinge zu achten, die eben nicht gleichbleiben, sondern sich jedes Mal verändern. Wenn man wie Hirayama tatsächlich lernt, vollkommen im HIER UND JETZT zu leben, gibt es keine Routine mehr. An ihre Stelle tritt die kontinuierliche Aufeinanderfolge einmaliger Ereignisse, einmaliger Begegnungen und einmaliger Momente. Hirayama nimmt uns mit in dieses Reich zufriedener Gegenwart. Und da wir die Welt durch seine Augen sehen, nehmen auch wir die Menschen, denen er begegnet, mit Offenheit wahr: seinen faulen Mitarbeiter Takashi und dessen Freundin Aya, den Obdachlosen, der in dem Park lebt, in dem Hirayama täglich arbeitet, seine Nichte Niko, die bei ihrem Onkel unterschlüpft, seine Schwester Keiko, die dann doch erscheint, um ihre Tochter wieder nach Hause zu holen, ‚Mama‘, die Besitzerin eines klitzekleinen einfachen Restaurants, das Hirayama an seinen freien Tagen aufsucht, deren Ex-Mann und viele mehr.
Wie kommt es, dass Japan und seine Kultur eine solche Faszination auf Sie ausüben, und welche Aspekte der japanischen Kultur spielten im Rahmen dieses Films eine besondere Rolle?
Der Begriff der ‚Dienstleistung‘ hat in Japan eine völlig andere Bedeutung als bei uns. Am Ende der Dreharbeiten traf ich zufällig einen berühmten amerikanischen Fotografen, der es nicht fassen konnte, dass ich gerade einen Film über einen Mann gedreht hatte, der Toiletten putzt.
„Das ist meine Lebensgeschichte! Als ich als junger Mann nach Japan kam, auf der einen Seite, um der Einziehung nach Vietnam zu entgehen, auf der anderen, um asiatischen Kampfsport zu lernen, sagte der Meister zu mir: ‚Wenn du ein Jahr lang täglich öffentliche Toiletten reinigst, kannst du wiederkommen.’ Das habe ich gemacht, bin jeden Tag um sechs Uhr aufgestanden, um in einem der ärmsten Viertel Tokios die öffentlichen Toiletten zu reinigen. Der Meister hat dies aus der Ferne beobachtet und mich dann als Schüler aufgenommen. Aber ich putze bis heute noch einmal im Jahr eine ganze Woche lang Toiletten.“ (Der Mann ist mittlerweile weit über 60 und ist übrigens nie nach Amerika zurückgekehrt.) Aber das ist nur ein Beispiel von vielen. Es gibt andere Berichte über Führungskräfte großer Unternehmen, die den Respekt ihrer Mitarbeiter erst dadurch erwarben, dass sie vor allen anderen zur Arbeit kamen und die Toiletten putzten. Das ist keine ‚minderwertige‘ Arbeit, sondern vielmehr eine spirituelle Haltung, eine Geste der Gleichheit und Bescheidenheit.
Einmal, während eines langen Aufenthalts in Japan, als ich an den Traumsequenzen von BIS ANS ENDE DER WELT arbeitete, besuchte mich ein amerikanischer Freund, der nie zuvor in Japan gewesen war. Es war Winter, und viele Menschen trugen Masken (Das war 30 Jahre vor der
Pandemie). Mein Freund meinte kopfschüttelnd: „Fürchten die sich denn alle so vor Keimen?”
Ich erklärte ihm: „Im Gegenteil, sie sind alle schon erkältet und wollen ihre Mitmenschen nicht anstecken.” Er sah mich ungläubig an: „Du machst Witze.” Für ihn als Amerikaner war diese hohe Achtung des Allgemeinwohls geradezu unvorstellbar. In Japan ist das selbstverständlich.
Sie sind Tokio und Japan seit vielen Jahren verbunden. Tokio selbst spielt eine große Rolle in PERFECT DAYS, da Ihnen die außerordentliche Chance gewährt wurde, an Orten zu drehen, die normalerweise für Filmarbeiten nicht zugänglich sind. Wie war Ihre Dreherfahrung in Tokio? Und wie hat sich die Stadt seit TOKYO-GA verändert?
Ich liebe Tokio, seit ich mich dort das erste Mal tagelang verlaufen habe. Das war bereits in den späten Siebzigern. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, wie ich stundenlang in dieser gigantischen Stadt herumgeirrt bin, ohne zu wissen, wo ich mich jeweils befand. Abends bin ich
dann immer in die nächstbeste U-Bahn und hab zu meinem Hotel zurückgefunden. Jeden Tag war ich in einer anderen Gegend. Ich war verblüfft, wie chaotisch die Stadt aufgebaut zu sein schien: Viertel mit uralten Holzhäusern inmitten von Wolkenkratzern und stark befahrenden Stadtautobahnen, zwei oder drei Etagen übereinander. Futuristische Gegenden gleich neben beschaulichen Wohnsiedlungen mit Labyrinthen aus winzigen Gassen. Ich war fasziniert von dem friedlichen Miteinander von Zukunft und Vergangenheit, das sich vor mir auftat. Damals kannte ich nur die USA als Ort, an dem man der Zukunft begegnen kann. Hier in Japan bot sich mir eine andere Version, die mir überaus gefiel.
Und dann war ich in meiner Sicht auf Japan sehr durch die Filme von Yasujiro Ozu beeinflusst. Er war (und ist noch immer) mein erklärter Meister, auch wenn ich ihn erst entdeckt habe, als ich bereits selber mehrere Filme gedreht hatte. Er hat uns ein nahezu seismografisches Bild des
kulturellen Wandels in Japan übermittelt, von den Zwanzigern bis zu seinem Tod in den frühen sechziger Jahren. Mit TOKYO-GA habe ich 1982 sozusagen versucht herauszufinden, wie weit Tokio sich seit seinem letzten Film 20 Jahre zuvor verändert hatte.
Sie sind für Ihre Art, Musik in Ihre Filme zu integrieren, bekannt. Für PERFECT DAYS haben Sie sich ein ganz besonderes Musikkonzept überlegt.
Eine eigens komponierte Filmmusik schien mir nicht zu unserer Darstellung des Alltags zu passen. Doch weil Hirayama sich immer wieder seine Kassetten mit Musik aus den Sechzigern bis in die Achtziger anhört, liefert sein Musikgeschmack quasi den Soundtrack zu seinem Leben: von Velvet Underground, Otis Redding, Patti Smith, The Kinks, Lou Reed und anderen bis hin zu japanischer Musik aus derselben Zeit.
Der Film ist Ozu gewidmet. Welche Aspekte seiner Arbeit haben Sie am nachhaltigsten beeinflusst?
Vor allem das Gefühl, das alle seine Filme durchdringt: dass jedes Ding und jeder Mensch einmalig ist, dass jeder Moment nur einmal geschieht und dass die alltäglichen Geschichten die einzigen Geschichten von Dauer sind.
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Donnerstag 14.12.2023
MUNCH
Ab 14. Dezember 2023 im Kino
Maler, Exzentriker, Genie: Edvard Munch, Begründer des Expressionismus, ist einer der bedeutendsten Künstler der Moderne. Sein „Der Schrei“ gehört zu den wichtigsten (und teuersten!) Gemälden des 20. Jahrhunderts. Aber wer war Edvard Munch? In vier Episoden entfaltet MUNCH die einzigartige Biografie eines getriebenen Geistes. Vom aufstrebenden Künstler im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis zum eigenwilligen Greis, der sein Lebenswerk im besetzten Norwegen vor den Nazis schützt. Munchs Leben ist verwoben mit der europäischen Geschichte, geprägt von riesigem Erfolg und katastrophalem Scheitern, euphorischer Ekstase und selbstzerstörerischem Exzess.
MUNCH ist das vielschichtige Porträt eines unergründlichen Künstlers. Zwischen Schwarz-Weiß-Ästhetik und Gegenwartsvisionen entfaltet Regisseur Henrik Martin Dahlsbakken ein intensives Jahrhundert-Porträt, ein Leben als Tour de Force durch die Zeitebenen und Stilwelten und auf der Jagd nach jenem Echo, das dem weltberühmten „Schrei“ bis heute nachhallt.
Ein Film von Henrik M. Dahlsbakken
Henrik M. Dahlsbakken
Henrik M. Dahlsbakken (*1989) gehört zu den produktivsten und angesagtesten Regisseuren Norwegens. Zahlreiche Filmkritiker sagen dem jungen Filmemacher eine große Zukunft voraus. Seit 2015 führte Henrik M. Dahlsbakken Regie und schrieb das Drehbuch für zahlreiche Filme, unter anderem für den Actionthriller CAVE (2016) und die Tragikomödie GOING WEST (2017). Sein Thriller AN AFFAIR (2018) mit Andrea Bræin Hovig und Tarjei Sandvik Moe wurde in Norwegen zum großen Kassenerfolg. Seine Komödie ANOTHER HAPPY CHRISTMAS (2020) lockte über 100.000 Besucher ins Kino.
Für seine Kurzfilme THANKS FOR DANCING und THE DEVIL’S BALLROOM gewann Henrik M. Dahlsbakken zahlreiche Preise auf internationalen Film Festivals. Beiden gelang auch die Aufnahme in die Shortlist für einen Oscar. Ebenso wie sein Langfilmdebüt RETURNING HOME (2015), das auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck als Bester Film ausgezeichnet wurde. Sein Krimidrama LATE SUMMER (2017) gewann den norwegischen Film Critique Award.
Statement des Regisseurs
Ich habe an diesem Film seit Juli 2018 gearbeitet. Nach langer und intensiver Recherche wählte ich vier sehr spezifische Abschnitte aus Edvard Munchs Leben, auf die ich meinen Fokus legte. Danach suchte ich nach passenden Schauspielern für jede der Zeitebenen und arbeitete fast zwei Jahre mit ihnen, bevor wir mit dem Dreh anfingen. Für mich liefern diese vier Lebensabschnitte in ihrem Zusammenwirken einen tiefen und vielschichtigen Einblick in den Menschen Edvard Munch, in seine Entscheidungen, seine Beziehungen und sein künstlerisches Vermächtnis. Außerdem zeigen die Episoden wie sehr er sich im Laufe seines Lebens verändert hat und wie jede Epoche die darauffolgenden beeinflusste. Ich machte mir viele Gedanken darüber, wie ich die doch sehr unterschiedlichen Geschichten auf möglichst subtile Art und Weise miteinander verweben konnte, ohne das Interesse der Zuschauer zu verlieren. Die Lebensabschnitte sind einander Spiegel und Kontrast zugleich. Die audiovisuelle Ebene orientiert sich dabei an Munchs künstlerischer Wandlung während seiner Schaffensphasen. Ich sehe die Struktur des Films wie eine Ausstellung, die mehr und mehr über den Künstler preisgibt, je länger man sie betrachtet.
Die Darsteller
Alfred Ekker Strande – Edvard Munch (20) Alfred Ekker Strande (*1999) studiert Schauspiel an der Norwegian Academy of Theatre. Er stand bereits für mehrere norwegische Filme und Serien vor der Kamera. In MUNCH spielt er den 20-jährigen Edvard, der sich unglücklich in eine verheiratete Frau verliebt. Strande, der wegen seiner unverkennbaren Ähnlichkeit zum jungen Edvard Munch ausgewählt wurde, beschreibt die Rolle als die bisher Herausforderndste seiner Karriere.
Mattis Herman Nyquist – Edvard Munch (29)
Mattis Herman Nyquist (1982) machte 2008 seinen Abschluss an der Norwegian Academy of Theatre. Seitdem spielte er in einer Reihe von Filmen, Serien und Theaterstücken und veröffentlichte 2015 seinen ersten Roman „ Det er jeg som er Torvald“ als Autor. In MUNCH verkörpert er den Maler in seinen späten 20ern zu der Zeit, in der seine avantgardistischen Ideen auf Ablehnung stoßen und seine Ausstellung in Berlin von der alteingesessenen Kunstwelt boykottiert wird. Matti Herman Nyquist schrieb das Drehbuch für diesen Abschnitt des Films selbst.
Ola G. Furuseth – Edvard Munch (45)
Ola G. Furuseth (*1975) studierte Schauspiel in Norwegen und England, wo er seinen Abschluss an der Arts Educational School in London machte. Seitdem spielte er an zahlreichen renommierten norwegischen Theatern und war in vielen Filmen und Serien zu sehen. Ola G. Furuseth übernimmt die Rolle des 45-jährigen Edvard Munch, in seinen dunkelsten Tagen, die er nach einem Zusammenbruch in einer psychiatrischen Klinik in Kopenhagen verbrachte.
Anne Krigsvoll – Edvard Munch (80)
Im Alter von 25 Jahren schloss Anne Krigsvoll (*1957) ihre Schauspielausbildung an der Norwegian Academy of Theatre in Oslo ab. Seit den frühen 1980er-Jahren hat sie sich als eine der bekanntesten norwegischen Theaterdarstellerinnen einen Namen gemacht. Bis heute arbeitet sie
am Nationaltheatret in Norwegen. Unter anderem war sie als „Shui Ta“ in Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“, als „Dorine“ in Molières „Tartuffe“ und als „Martha“ in Edward Albees „Who’s Afraid of Virginia Woolf“ zu sehen. Auch im Kino und TV war sie in ihrer langen Karriere bereits
häufig zu sehen. In MUNCH übernimmt sie die Rolle des greisen Edvard Munch, der kurz vor seinem Lebensende um sein künstlerisches Vermächtnis kämpft: Im von den Nazis besetzten Norwegen versucht er mit letzter Kraft, seine Bilder vor den Invasoren zu schützen.
Munch, Meister der Naturmalerei
Die Kunst Edvard Munchs ist für ihre eindringlichen Darstellungen existenzieller Empfindungen bekannt. Eine ebenso wichtige Rolle spielt in seinen Werken jedoch die Faszination für die Natur. Einerseits verstand Edvard Munch die Natur als sich zyklisch erneuernde Kraft, andererseits sah er sie als Spiegel seiner seelischen Zerrissenheit. Munch entwickelte ein pantheistisches Naturverständnis, das er auf die norwegischen Küsten und Wälder projizierte.
In Edvard Munchs Zeit wandelte sich das Naturverständnis radikal. Unter dem Eindruck neuer Entdeckungen in Biologie, Physik, Medizin und Geologie wurde die Natur nicht mehr als etwas Statisches und Greifbares wahrgenommen, sondern als etwas Dynamisches, das ständig in Bewegung ist. Die Menschen entwickelten ein Bewusstsein für Prozesse, die für das bloße Auge unsichtbar sind – seien es langsame Veränderungen von großer Tragweite wie die Kontinentalverschiebungen und die Entwicklung der Arten oder das nur unter dem Mikroskop sichtbare Gewimmel der Bakterien. Die Grenzen zwischen Mensch und Tier, zwischen Pflanzen und Mineralischem verschoben sich, verschwammen und wurden zum Teil aufgehoben.
In vielen Werken setzte Edvard Munch diese lebendige, dynamische und sich wandelnde Natur ins Bild. Unwetter, Eingriffe des Menschen in die Natur sind ebenso Bildthemen wie sich bewegende Erdmassen mit vermenschlichten Zügen. Ineinander verschlungene Körper vereinigen sich mit der Erde. In einigen Bildern ließ Munch Mann und Frau schwerelos durch den Raum schweben. In einem Text beschrieb er dieses Sujet so: „Die Schicksale der Menschen sind wie die Planeten; sie begegnen sich im Raum, um sogleich wieder zu verschwinden.“ Auf diese Weise brachte der
Künstler die Triebkräfte und Sehnsüchte des Menschen mit zyklischen, universalen Kräften in Zusammenhang.
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Donnerstag 07.12.2023
WIE WILDE TIERE
Ab 07. Dezember 2023 im Kino
Antoine (DENIS MÉNOCHET) und Olga (MARINA FOÏS) haben den Neuanfang gewagt. Das Ehepaar kehrte Frankreich den Rücken zu und fand in einer kleinen Gemeinde im Landesinneren Galiziens eine neue Heimat. Dort arbeiten sie hart, bestellen ihr Fleckchen Land und leben von dem, was sie erwirtschaften. Doch so sehr sich Antoine und Olga auch bemühen, die Einheimischen begegnen ihnen meist mit Argwohn und Ablehnung: Zu tief ist der Graben zwischen den ortsansässigen Bauern, die dem Kreislauf von schwerer Arbeit und Perspektivlosigkeit entkommen wollen, und den beiden Aussteigern, die sich für ein Leben im Einklang mit der Natur einsetzen.
Als Antoine das Vorhaben ihrer Nachbarn, den Anta-Brüdern (LUIS ZAHERA & DIEGO ANIDO), unterwandert, Land für den Bau von Windrädern zu verkaufen, verwandelt sich der schwelende Konflikt in unverhohlene Feindseligkeit. Während sich die Männer in einer zunehmend eskalierenden Spirale der Angst und Gewalt verlieren, ist es schließlich Olga, die mit tiefer Entschlossenheit einsam und stoisch ihren schweren Weg geht, um für Gerechtigkeit zu sorgen.
Inspiriert von einer wahren Geschichte, schickt der spanische Regisseur Rodrigo Sorogoyen („Macht des Geldes“, „Madre“) mit seiner sechsten Regiearbeit seine Charaktere wieder in eine Extremsituation und erzeugt eine daraus resultierende eindringliche psychische Spannung. Durch die intensive Darstellung von Denis Ménochet („Nach dem Urteil“, „Beau is Afraid“) und Marina Foïs („Poliezei“, „In den besten Händen“) wird diese Spannung, eingebettet in der rauen, ursprünglichen Landschaft, geradezu körperlich spürbar.
Seit der Weltpremiere in Cannes 2022, wo WIE WILDE TIERE als Sensation gefeiert wurde, ist der Erfolg des Films ungebrochen. Bei der Verleihung der Goyas 2023 räumte er neun Preise ab, unter anderem für Bester Film, Beste Regie sowie Bester Hauptdarsteller. Weiterhin wurde er mit dem César als Bester Ausländischer Film ausgezeichnet und konnte u.a. das Dublin International Film Festival, das Miami Film Festival sowie das Tokyo International Film Festival gewinnen. Beim letztjährigen San Sebastián International Film Festival erhielt WIE WILDE TIERE zudem den Publikumspreis für den Besten Europäischen Film. In Spanien zog der existentielle Thriller über den Clash zweier Welten bereits über 1 Mio. Besucher in die Kinos.
Ein Film von Rodrigo Sorogoyen
Mit Marina Foïs, Dénis Menochet, Luis Zahera u. a.
Seit Jahrhunderten wird in Galicien die „Rapa das Bestas“ zelebriert, ein atavistisch und gewaltsam erscheinendes Ritual. Männer aus den Gemeinden, so genannte Aloitadores, treiben verwildert in den Bergen lebende Pferde ins Tal, um sie dort zu scheren und zu markieren. Ein intensives Spektakel, ein Kräftemessen von Menschen und Tier, Zivilisation und Ursprünglichkeit – ein Männlichkeitsritus ebenso wie ein Initiationsritus, der Versuch, dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen, ihn zu brechen…
Der Brauch der „Rapa das Bestas“ ist, als würde man die Lebenssicht der einfachen Menschen dieser ebenso prachtvollen wie armen Gegend unter ein Brennglas legen: So sehen sie das Leben, ein ewiger Kampf, ein ewiges Ringen darum, notfalls auch mit Gewalt die Oberhand zu behalten, sich nicht unterkriegen zu lassen. So führen sie ihr Leben in ihren kleinen Gemeinden, die von Gegenwart und Fortschritt vergessen wurden. Die Alten müssen tatenlos miterleben, wie die Jungen in die Metropolen ziehen, weil sie nur dort eine Perspektive haben, während sich die Dörfer leeren und zusehends verfallen. Die noch da sind, treffen sich in den Dorfkneipen und beklagen ihr Schicksal als Opfer eines Europa, in dem für sie kein Platz mehr ist.
Fünf Jahre sind vergangen, seitdem Antoine (DENIS MENOCHÉT) und Olga (MARINA FOÏS) sich in einem dieser kleinen Dörfchen in Galicien angesiedelt haben, mit dem erklärten Plan, baufällige oder verfallene Hütten und Häuser wieder Instand zu setzen und die Gemeinde zu neuem Leben zu erwecken, ihr eine Zukunft zu geben. Das idealistische Paar aus Frankreich hat sich mit dem Projekt einen lang gehegten Traum erfüllt. Der Hektik und dem Stress der Großstadt endlich entfliehen, wieder ankommen bei sich und dem eigenen Leben, in Einklang leben mit der unberührten, ursprünglichen Natur. Zufrieden sein, ehrlich sein, glücklich sein.
Das bedeutet harte Arbeit, lange Stunden, wenig Freizeit. Ihr Projekt ist ihnen die Mühsal wert. Ihr Herz schlägt für die prachtvolle Gegend. Wenn Antoine durch den Wald zieht und Wildpferde nur wenige Meter entfernt an ihm vorbeilaufen, weiß er, dass er dieses neue Leben für nichts auf der Welt aufgeben würde. Das Paar ernährt sich von dem, was es anbaut, verkauft sein Gemüse auf dem Markt, sucht Anschluss bei den Menschen. Hin und wieder sprechen sie online mit ihrer Tochter, die weiterhin in Frankreich wohnt, und freuen sich, ihren Enkel zu Gesicht zu bekommen.
Antoine und Olga haben aber nur wenige Freunde gefunden. Auch nach so langer Zeit bekommen sie unverändert Vorbehalte zu spüren, Ressentiments, Ablehnung, Misstrauen. Für die Dorfbewohner sind sie immer noch die Anderen, die Fremden, Grund für alle Probleme und nicht Teil der Lösung – wie sich die beiden selbst sehen. Manche geben sich konziliant, andere schneiden sie komplett. Aber stets schwingt mit, dass die beiden Franzosen nicht wirklich willkommen sind, dass sie nie wirklich dazugehören werden, auch wenn sie sich noch so sehr um den Erhalt der Natur und den Wiederaufbau des baufälligen Dörfchens bemühen.
Beim Treff im örtlichen Lokal sind es vor allem ihre unmittelbaren Nachbarn, die Brüder Xan und Loren Anta (LUIS ZAHERA & DIEGO ANIDO), die Bemerkungen fallen lassen, Antoine abfällig mit „der Franzose“ ansprechen. Xan, der ältere der beiden, merkt bissig an, dass Antoine und Olga den darbenden Einwohnern nicht helfen mit ihrer standhaften Weigerung, ihre Einwilligung für den Bau neuer Windräder zu geben: Sie, die Einheimischen, brauchen das Geld, wenn wie nicht untergehen wollen. Was anfangs noch unterschwellig gärte, wächst zu einem unverhohlenen Konflikt heran, als Antoine an einem Morgen leere Schnapsflaschen vor seinem Haus findet und feststellen muss, dass jemand auf die beiden Stühle vor dem Haus uriniert hat. Nachts starren die Brüder dann unverhohlen durch das Schlafzimmerfenster. Die Polizei wiegelt ab. Antoine solle das Gespräch suchen, sagen sie, unter Nachbarn gäbe es nun mal ab und zu Streitigkeiten.
Aber das ist erst der Anfang. Der Brunnen des Ehepaars wird mit Autobatterien vergiftet: Die Ernte können sie abschreiben - sie war ihr einziges Auskommen. Antoine ist außer sich. Er beschließt, sich nichts mehr gefallen zu lassen. Mit seiner Digitalkamera auf die Brüder gerichtet, konfrontiert er sie auf ihrem Grund und Boden. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Aggression liegt in der Luft. In der freien Natur versucht Antoine, wieder zur Ruhe zu kommen. Der Blick über die Wälder und Hügel ist atemberaubend. Wir werden uns verteidigen, sagt er nachts zu Olga. Sie seien nicht gekommen, um zu kämpfen, antwortet sie. Er versichert Olga seine Liebe: Er sei nichts ohne sie.
Antoine beginnt Beweise gegen die Anta Brüder zu sammeln und versucht nochmals eine Aussprache mit Xan.
Als ihr alter Freund und Ziegenhirte Breixa stirbt, verändert sich alles. Sein Neffe aus der Stadt ist der alleinige Erbe. Anders als sein Onkel wird er kein Veto gegen neue Windturbinen einlegen. Er will auch Antoine und Olga überzeugen: Die Menschen aus dem Dorf brauchen das Geld. Und das Ehepaar könnte mit den Einnahmen aus dem Verkauf des Landes ihr Projekt an einem anderen Ort in Galicien fortsetzen. Das Paar ist skeptisch und befürchtet, man wolle sie um ihr Land und ihr Projekt bringen. Nachts werden sie auf dem Nachhauseweg von den Anta-Brüdern gestoppt. Erst nach mehreren Minuten nackten Terrors kann das Ehepaar weiterfahren. Olga ist überzeugt, dass die Brüder Antoine ermordet hätten, wenn sie nicht im Auto gewesen wäre. Sie hat Angst, sagt sie. Um Antoine. Sie will einlenken, nachgeben. Er ist nicht bereit dazu. Und beschwört die Katastrophe damit herauf. Einige Tage später kehrt Antoine nicht nach Hause zurück.
Olga ist allein. Sie gibt nicht auf. Mehr als ein Jahr ist vergangen. Methodisch durchkämmt sie die Gegend, immer in der Hoffnung, ein Lebenszeichen von ihrem spurlos verschwundenen Mann zu finden . Weiter arbeitet sie hart, pflanzt an, erntet, verkauft das Gemüse auf dem Markt, macht die Abrechnungen, kauft Schafe für den Hof. Ihre Tochter kommt zu Besuch. Sie beschwört ihre Mutter, diesen Fleck Erde endlich zu verlassen, ihr Projekt sei gescheitert. Es sei nicht sicher für sie, ihr Leben bedroht. Aber Olga ist nicht bereit aufzugeben. Sie wird niemals einlenken, wird sich dem Druck niemals beugen. Sie will ihre Unabhängigkeit bewahren und ihren und Antoines Traum leben – komme, was da wolle…
STATEMENTS ZU DREHBUCH UND INSZENIERUNG
(von Rodrigo Sorogoyen und Isabel Peña)
Der Hintergrund
Als wir in der Zeitung von der Konfrontation in einem galizischen Dorf zwischen einem ausländischen Paar und ein paar Ansässigen lasen, die seit Jahren Nachbarn waren, wussten wir gleich, dass sich in diesen Ereignissen die nötigen Elemente befänden, um eine spannende Geschichte für das Kino zu bauen.
Wir studierten den Fall, um einerseits alles darüber zu erfahren, und uns andererseits davon zu distanzieren und ihn in Fiktion verwandeln zu können, unsere Fiktion. Wir kannten die Menschen, die involviert waren oder glaubten es zumindest. Wir kannten ihre Motivationen, ihre Träume, oder glaubten es zumindest. Und damit begannen wir, unsere eigenen Figuren zu erschaffen. Wir änderten Namen und Nationalitäten. Wir wollten nicht diese wahre Geschichte erzählen, sondern eine Geschichte, die von den wahren Ereignissen inspiriert ist.
Als erstes entstanden Antoine und Olga, ein französisches Paar um die 50, das die Nase voll hat vom Leben in der Stadt und deshalb in ein beschauliches, isoliertes Dörfchen in Ourense zieht, um noch einmal von vorn anzufangen - in direktem Kontakt mit der Natur. Dann kam der ganze Rest.
Ein Dorf, dessen Menschen nach und nach abwandern (wie das in vielen Dörfern in Spanien der Fall ist, eine Tragödie unserer Zeit) und dessen Einwohner Argwohn gegen Ausländer hegen. Ein Brüderpaar, das zornig ist auf die Welt und deshalb auch auf diese beiden Ausländer in ihrer Mitte. Der Konflikt zwischen den Einheimischen und den Außenseitern. Der Kampf des „Ich bin von hier und du nicht“.
Finanzielle Probleme, die Problematik der Identität bezüglich des Besitztums von Land. Drohungen, Stolz, Schwierigkeit der Koexistenz, Ausbrücke von Gewalt, Angst. Die beiden letzten Elemente wurden zur zentralen Achse, auf der die Geschichte ruht: Gewalt und Angst. Die Gewalt der Umgebung, die Gewalt der Brüder gegenüber dem Paar. Die Gewalt eines Dorfs, das sich des Fremden entledigen will, desjenigen, der nicht von hier ist, der gekommen ist, um sich das zu nehmen, was ihm nicht zusteht. Und die Angst des Paares, das fürchten muss um sein Projekt, um seine Zukunft. Die Angst des Mannes, jedes Mal, wenn er wieder nach Hause kommt. Die Angst der Frau, jedes Mal, wenn der Mann später als üblich nach Hause kommt. Die Angst, der Konflikt könnte in einer Tragödie enden, weil man nicht in der Lage war, ihn rechtzeitig zu entschärfen. All das lag für uns auf dem Tisch, als wir die Entscheidung trafen, dass dies unser nächster Film sein würde.
Nach und nach und auch bedingt durch die Kraft der Geschichte begannen wir, unseren Fokus auf die Frau zu legen, auf Olga. Ihre Geschichte war es, die wir erzählen wollten, die es wert war, erzählt zu werden. Die Geschichte einer Frau, die im Schatten zu stehen scheint. Die ihrem Mann auf ein Abenteuer zu folgen scheint, zuerst in ein romantisches, dann in ein gefährliches. Die um ihr Leben bangt, die zu vermitteln versucht und eine friedliche Lösung des Konflikts finden will. Und die sich unvermittelt in der schlimmsten Situation wiederfindet.
Wir verwandelten Olga in eine richtige Protagonistin und erdachten einen dualen Film. Wir nahmen uns das Drehbuch vor, als bestünde es aus zwei Teilen. Wir fanden einen Weg. Dualität in allen Belangen. Dann war die Geschichte es wert, in einem Film erzählt zu werden.
Der erste Teil soll aus Antoines Blickwinkel erzählt werde, der zweite aus Olgas Perspektive. Diese Frau, die zunächst wie eine Nebenfigur erscheint, die offenkundig im Windschatten des Protagonisten fährt, würde sich als unsere eigentliche Hauptfigur entpuppen.
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