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7. Vigdis Hjorth „Ein falsches Wort“
8. Elger Esser „Mont-Saint-Michel“
9. Matthias Jügler „Maifliegenzeit“
10. Volker Reinhardt „Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzer...
11. Uwe Wittstock „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“
12. Georgi Demidow „Fone Kwas oder Der Idiot“
Bilder
Mittwoch 24.07.2024
Vigdis Hjorth „Ein falsches Wort“
Die kanadische Autorin und Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro ist im Mai diesen Jahres im Alter von 92 Jahren gestorben. Wenige Wochen nach ihrem Tod hat nun ihre jüngste Tochter öffentlich gemacht, dass sie von ihrem Stiefvater, Munros zweitem Ehemann, jahrelang sexuell missbraucht wurde. Als sie später ihrer Mutter davon erzählte, habe diese die Geschichte bagatellisiert, kaum Verständnis gezeigt und sich vor allem als betrogene Ehefrau selbst bemitleidet. Das ist ein Vorwurf, der die literarische Welt aufwühlt und Munros Ruf posthum schwer beschädigt.
Ein Vater, der sich an seiner Tochter vergeht, eine Mutter, die schweigt, eine erwachsene Tochter, die um die Anerkennung der Wahrheit ringt – genau um diese Thematik geht es auch in dem autofiktionalen Roman „Ein falsches Wort“ der norwegischen Schriftstellerin Vigdis Hjorth, der 2024 noch einmal in überarbeiteter deutscher Übersetzung erschienen ist. Dass es sich dabei weitgehend um ihre eigene Geschichte handelt, zeigt die Reaktion ihrer Familie, die versucht hatte, die Veröffentlichung per Gerichtsbeschluss zu verhindern. Als das Buch 2016 in Norwegen dennoch herauskam, machte es Vigdis Hjorth in ihrer Heimat schlagartig berühmt.
Der Roman ist konsequent aus der Perspektive von Bergljot, der Ich-Erzählerin, geschrieben, einer erfolgreichen Autorin um die 60. Sie ist geschieden, hat Kinder und Enkelkinder und lebt in Oslo. Als junge Frau machte sie wegen massiver psychischer Probleme eine Psychoanalyse und wurde durch eine Erkenntnis erschüttert, die sie lange verdrängt hatte. Plötzlich wusste sie wieder, was mit ihr im Alter von fünf Jahren geschehen war, als ihr Vater sie immer wieder in Hotelzimmer mitnahm, mit ihr „kuschelte“ und ihr drohte, sie dürfe niemandem davon erzählen, sonst käme er selbst ins Gefängnis und die Mutter würde sterben. Mit dieser Erinnerung ihrer Tochter konfrontiert, reagierten die Eltern mit Ablehnung und Aggressivität. „Wenn du eine Psychopathin sehen willst, schau in den Spiegel“ war der letzte Satz, den sie von ihrem Vater hörte, bevor sie mit der Familie jeden Kontakt abbrach.
Nun, fast 30 Jahre später, stirbt der Vater, und Bergljot wird in einen Familienzwist hineingezogen. Man streitet um zwei Ferienhütten, die die beiden jüngeren Schwestern erben, während Bergljot und ihr Bruder mit einem viel zu niedrigen Betrag ausgezahlt werden sollen. Wie so oft geht es in dem Erbstreit in Wahrheit um die Anerkennung und Liebe der Eltern. Alte Wunden brechen auf.
Bergljot, die sich immer noch in ihre traumatisierende Vergangenheit verstrickt fühlt, erwartet von ihrer alten Mutter und ihren Geschwistern, dass der Inzest endlich nicht mehr verleugnet, sondern ernstgenommen und geglaubt wird. In Emails, Briefen, Gesprächen kreist sie immer wieder um dieses eine Thema, kämpft wie besessen um die Wahrheit, um ihren Seelenfrieden und ihre Ehre. „Ich war gefangen von einem wütenden Erklärungsbedürfnis“.
Es ist faszinierend zu lesen, mit welcher Genauigkeit und mit welchem psychologischen Scharfblick die Autorin in ihrer schnörkellosen Sprache das Beziehungsgeflecht der Familie analysiert. Die Mutter war ihr Leben lang vom Vater abhängig. Sie hat ihre Familie immer wieder durch Selbstmordversuche in Atem gehalten, sich so als Opfer inszeniert und jede Kritik abgewehrt. Auf Bergljots Anschuldigungen reagiert sie mit Panik. Denn sie müsste sich eingestehen, dass ihr Mann und auch sie als Eltern versagt und schwere Schuld auf sich geladen haben. Sie nennt ihre Tochter eine Lügnerin und Wichtigtuerin. Nur der Bruder steht Bergljot zur Seite, da er selbst unter der Härte des Vaters gelitten hat. Eine der beiden Schwestern bemüht sich zwar um Verständnis und Annäherung, kann Bergljot aber nicht zugestehen, dass sie die Wahrheit sagt. Sie wirft ihrer älteren Schwester vor, sie zerstöre die Familie.
Die Opferforschung hat gezeigt, dass Heilung und Verzeihung nur stattfinden können, wenn Verzweiflung, Trauer und Wut der verletzten Person von der Täterseite anerkannt werden, wie es in „Ein falsches Wort“ heißt. Deshalb ist es Bergljot nicht möglich, sich mit ihrer Familie zu versöhnen.
In ihrem bewegenden, auch literarisch beeindruckenden Buch zeigt Vigdis Hjorth, wie sexueller Missbrauch ein ganzes Leben überschatten und die Familie des Inzestopfers für immer entzweien kann. Ebenso wie die Tatsache, dass Alice Munros Tochter mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen ist, kann man auch Vigdis Hjorths Roman als einen Akt der Selbstachtung und Selbstbehauptung interpretieren und als Versuch, sich von einem schweren Kindheitstrauma zu befreien.
Lilly Munzinger, Gauting

Vigdis Hjorth
„Ein falsches Wort“
S. Fischer
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Montag 24.06.2024
Elger Esser „Mont-Saint-Michel“
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Mont-Saint-Michel“ - ein Sehnsuchtsort? Die kleine französische Gemeinde mit gerade einmal 25 Einwohnern im Département Manche in der Region Normandie ist bekannt als Klosterberg, auf dem sich eine romanische Abtei befindet. Die Insel ist umgeben von Wasser, das entsprechend den Gezeiten an- und abfließt, sodass der Ort bei Flut nur über einen aufgeschütteten und asphaltierten Damm zu erreichen ist. Seit 1979 gehören der Berg und seine Bucht, zwischen der Bretagne und der Normandie gelegen, zum Weltkulturerbe der UNESCO, das jährlich über 2 Millionen Besucher anzieht.
Elger Esser, Vertreter der Düsseldorfer Fotoschule von Bernd und Hilla Becher, ist schon von Jugend an von diesem Natur- und Architekturmonument so stark fasziniert, dass er dieses Wahrzeichen des französischen Kulturerbes als Auftragsarbeit des französischen Centre des Monuments und zur Tausendjahrfeier der Abteikirche, zu allen Jahreszeiten und Gezeiten fotografierte. Entstanden ist ein Bildband, der zwei Bildtypen in Farb- und Schwarzweiß-Aufnahmen zum Inhalt hat. Zum einen sind Aufnahmen vom (zum Teil offiziell nicht zugänglichen) Festungsinnern, seinen Gassen und Häusern entstanden, zum anderen stehen der Felsen, die weite Landschaft ringsum, das Spiel von Licht und Farben im Zentrum der fotografischen Arbeiten. So entstehen völlig unterschiedliche, auch gegensätzliche Atmosphären und Stimmungen, die letztendlich aber ein und demselben Sujet zuzuordnen sind.
Elger Esser wuchs in Rom auf, wo sein Vater, Manfred Esser, als Stipendiat an der Villa Massimo war und seine Mutter als Pressefotografin und Korrespondentin arbeitete.
Nach seinem Studium an der Kunstakademie Düsseldorf war Esser Professor für Medienkunst an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und 2008 Gastprofessor an der Folkwangschule Essen.
Elger Esser setzt sich vornehmlich mit Landschaftsfotografien auseinander, wobei sein Schwerpunkt auf historisch und literarisch geprägten Szenerien Frankreichs.
Jörg Konrad

Elger Esser
„Mont-Saint-Michel“
Schirmer/Mosel
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Dienstag 04.06.2024
Matthias Jügler „Maifliegenzeit“
Kinderraub ist ein Verbrechen, das in Diktaturen häufig begangen wird. Unter dem Franco-Regime sollen etwa 300.000 Babys ihren Müttern gestohlen und von fremden Eltern aufgezogen worden sein. Das heutige China hat tausende junge Tibeter ihren Familien weggenommen und zwangsweise in Internate gesteckt. Für Putin ist die Entführung ukrainischer Kinder ein Mittel der Kriegsführung. Dabei ist das Ziel immer, Kinder aus ihrem natürlichen Umfeld zu reißen, um sie im Sinne der staatlichen Ideologie zu manipulieren und zu regimetreuen Untertanen zu erziehen. Die Aufarbeitung von Zwangsadoptionen in der DDR befindet sich noch in den Anfängen; es gibt zahllose unaufgeklärte Verdachtsfälle.
In „Maifliegenzeit“ geht es um eine besonders infame Form von Kinderraub: den vorgetäuschten Säuglingstod. Grundlage für das Buch ist ein authentischer Fall. Der Autor Matthias Jügler wurde 1984 in Halle geboren. Er hat die Geschichte einer Mutter aus Sachsen-Anhalt, die er in der „Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR“ kennengelernt hat, in seinem Roman verarbeitet.
Trotz des emotional aufwühlenden Themas ist „Maifliegenzeit“ ein ruhiges und nachdenkliches Buch, in dem es um Wahrheit, Lüge und Verdrängung geht. Der Roman wird aus der Ichperspektive eines pensionierten Lehrers Mitte Sechzig erzählt. Nach einer gescheiterten Ehe lebt Hans mit seiner Freundin Anne immer noch in seinem Elternhaus, in einem Dorf in Thüringen. Einen Großteil seiner Zeit verbringt er in der Natur, am Ufer der Unstrut. Das Beobachten der Fische und die Tätigkeit des Angelns beruhigen und trösten ihn.
Hans ist ein traumatisierter Mann. Ein Ereignis, das vor 40 Jahren stattgefunden hat, überschattet sein Leben. Im Mai 1978 hatte seine Frau Katrin per Kaiserschnitt einen Sohn geboren, den er und seine Frau nie zu Gesicht bekamen. Die Ärzte teilten ihnen mit, Daniel sei gestorben. Doch Katrin glaubte von Anfang an nicht daran, dass ihr Kind tot war und stieß auf zahlreiche Ungereimtheiten. Hans lehnte dagegen den Verdacht seiner Frau, dass etwas an der offiziellen Erzählung nicht stimme, aus Konfliktscheu und Respekt vor der Obrigkeit vehement ab. Die Ehe zerbrach; Katrin starb an Krebs. Matthias Jügler erzählt, wie Zweifel und Schuldgefühle den Protagonisten aber seither nicht losließen, obwohl er sich bemühte, sie zu unterdrücken und ein normales Leben zu führen, und mit welchen Widerständen er auch noch nach der Wende zu kämpfen hatte, als er sich schließlich auf die Suche nach der Wahrheit machte. Der Versuch, sein Recht auf Akteneinsicht wahrzunehmen, scheiterte an der Lüge des Krankenhauspersonals, es gebe keine Unterlagen mehr. Als er die Akten schließlich doch erhielt, waren die Seiten geschwärzt. Die Bitte um Exhumierung des Leichnams seines angeblichen Kindes wurde von der zuständigen Rechtsmedizinerin abgelehnt mit den Worten: „Sie ziehen Verbindungen, die nicht existieren. Sie sehen Dinge, die es nicht gibt.“ Hans resignierte, doch Anne, seine Lebensgefährtin, machte sich Jahre später im Internet auf die Suche nach Daniel. An einem Sonntag im Mai, 40 Jahre nach der Geburt seines Sohnes, als Hans gerade vom Angeln kommt, empfängt Anne ihn mit den Worten: „Daniel hat angerufen“. Die Begegnung zwischen Vater und Sohn verläuft dann sehr viel schwieriger, als Hans sie sich erträumt hat. Denn die Adoptiveltern haben Daniel eine ganz andere Version seiner Herkunft erzählt.
Matthias Jügler ist selbst ein passionierter Angler. Schilderungen des Flusses und der darin lebenden Karpfen, Alande und Barben stellen im Roman ein meditatives Gegengewicht zu den dramatischen äußeren Ereignissen dar. Zugleich verwendet Jügler Bilder aus der Natur als Metaphern für seine Geschichte. Fische sind unter der Wasseroberfläche oft so schwer zu erkennen wie die Wahrheit, die sich Hans lange nicht zumuten will. Und auch die Fliegen, die dem Buch ihren Namen gegeben haben, verbringen den größten Teil ihres Lebens im Verborgenen, im Grund des Flusses. Im Mai begeben sie sich dann an die Luft und tanzen zu Tausenden über der Wasseroberfläche. Und in einem Mai erhält Hans die Gewissheit, dass sein Sohn noch lebt.
Matthias Jügler hat einen berührenden, vielschichtigen Roman über ein düsteres Geheimnis der DDR geschrieben, das bis heute weitgehend im Dunkeln liegt. Viele Eltern hoffen noch immer, endlich die Wahrheit darüber zu erfahren, was damals mit ihren Kindern geschehen ist.
Lilly Munzinger, Gauting
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Dienstag 21.05.2024
Volker Reinhardt „Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzerisches Leben“
Aufklärer haben es zu jeder Zeit schwer. Doch besonders im Mittelalter waren die Konsequenzen für die unerschrockenen Kämpfer gegen Vorurteile, überholte Vorstellungen und religiös bestimmten Aberglauben besonders drastisch. Bestes Beispiel ist der Lebensweg des italienischen Priester, Dichter, Mönch, Philosoph und Astronom Giordano Bruno. Geboren 1548 in Nola, rund 30 Kilometer nordöstlich von Neapel vom Fuße des Vesuvs entfernt, wurde er 52jährig in einem Inquisitionsprozess zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und hingerichtet. Sein Vergehen: Rationales Denken und naturwissenschaftliche Überlegungen. Im Sprachjargon der Inquisition: Ketzerei und Magie.
Der deutsche Historiker Volker Reinhardt hat sich mit Brunos Biographie tief in das Mittelalter begeben und sehr detailliert dessen Leben und Arbeit aufgefächert. Herausgekommen ist ein Buch, das sowohl das Kämpfertum des Freidenkers in den Mittelpunkt stellt, als auch die Zeit in der er lebte und wirkte. Reinhardt begleitet in "Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzerisches Leben" Bruno bei seiner Weihung zum Priester 1572 und bei seinen ersten deutlichen Zweifeln an der Dreifaltigkeitslehre, die ihn nur vier Jahre später dazu bewegen, aus dem Orden wieder auszutreten. Anschließend beschreibt der Historiker die Reisen Brunos, quer durch ein zerrissenes Europa, hin zu dessen intellektuellen wie religiösen Zentren, nach Genf, Toulouse, Paris, Oxford, London, Wittenberg, Prag, Zürich, wo er jeweils zwar teilweise mit Neugier empfangen wurde, letztendlich aber, nach dem man seine Geisteshaltung und naturwissenschaftlichen Arbeiten kennen lernte, als Ketzer vom Hof verjagte.
Bruno selbst war trotz seiner Überzeugungen, seinem Eintritt für Toleranz eine streitbare und manchmal auch ambivalente Persönlichkeit. Doch er fühlte sich immer der Freiheit des Denkens verpflichtet und wandte sich deutlich gegen jede Form von Religionen, die er einzig als ein Machtinstrument der Herrschenden einschätzte. So wurde Bruno als tätiger Oppositioneller und überzeugter Zweifler an allem Religiösen zu einer Art Spielball der Mächtigen seiner Zeit.
Es war eine Frage der Zeit, bis die Kirche mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diesen unangepassten Skeptiker vorging. Reinhardt hat für diese Abhandlung neue Dokumente ausfindig gemacht, wie die Verhörprotokolle der Verhandlungen, die die Hintergründe und den tatsächlichen Ablauf der Verfahren noch einmal in einem völlig neuen Licht darstellen. Reinhardt kommt nach akribischen Untersuchungen zu dem Schluss, dass an Giordano Bruno ein „Ausnahmeverbrechen“ konstruiert und durch Papst Clemens VIII. ein Exempel statuiert wurde. Letztendlich ist seine Hinrichtung ein eindeutiger Justizmord. Als Bruno das Urteil verkündet wurde, sagte er den berühmt gewordenen Satz: „Ihr verhängt das Urteil vielleicht mit größerer Furcht, als ich es annehme!“
Brunos Schriften wurden zugleich auf den Index gesetzt und erst 1966(!) wieder frei gegeben. Und erst im Jahr 2000(!!) erklärte Papst Johannes Paul II. Giordano Brunos grausame Hinrichtung für Unrecht – wobei eine vollständige Rehabilitierung aus „formal religiösen Gründen“ bis heute nicht stattfand.
Jörg Konrad

Volker Reinhardt
„Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzerisches Leben“
C.H. Beck
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Dienstag 30.04.2024
Uwe Wittstock „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“
Juni 1940. Im Internierungslager Les Milles in der Nähe von Marseille werden, zusammen mit unzähligen anderen Exilanten, auch Thomas Manns Sohn Golo und die Schriftsteller Lion Feuchtwanger und Walter Hasenclever festgehalten. Die Nachricht, dass Marschall Pétain mit den Nazis über einen Waffenstillstand verhandelt, schlägt ein wie eine Bombe und klingt für viele wie ein Todesurteil. Am nächsten Morgen heißt es jedoch, dass alle gefährdeten Männer zu einem unbekannten Ort gebracht werden sollen. Feuchtwanger und Golo Mann werden in einem überfüllten Zug abtransportiert, doch Hasenclever ist nicht dabei. Er hat keine Kraft mehr, zu fliehen. Er stirbt im Lager an einer Überdosis Veronal.
In seinem bewegenden und packenden Buch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ schreibt der Journalist und Kulturredakteur Uwe Wittstock die Geschichte der deutschen Literaten während der Nazizeit fort, die er mit „Februar 33. Der Winter der Literatur“ begonnen hat. Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 hatten zahllose linke und jüdische Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland und Österreich in Frankreich Asyl gefunden. Im Juni und Juli 1940 eroberte dann die deutsche Wehrmacht in einem unglaublichen Tempo Paris, den Norden Frankreichs und einen Streifen entlang der Atlantikküste, und es kam zu einer zweiten riesigen Fluchtwelle. Alle hatten Angst um ihr Leben. Viele Exilanten wurden von den Franzosen in Lager gesteckt, viele versammelten sich in Marseille in der verzweifelten Hoffnung, über Spanien und Portugal nach Übersee fliehen zu können.
Im Mittelpunkt von „Marseille 1940“ stehen bekannte Namen wie Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt, Heinrich Mann, Franz Werfel. Wittstock hat Tagebücher, Autobiographien und Briefe ausgewertet. Mit häufigen Perspektivwechseln erzählt er in jeweils kurzen Episoden, die sich wie ein Mosaik zu einem farbigen Bild zusammensetzen, von den politischen Ereignissen und den dramatischen Schicksalen dieser Menschen. Sie stehen, wie er sagt, stellvertretend für all jene, von denen man zu wenig weiß, um von ihnen berichten zu können.
Gleichzeitig hat Wittstock mit seinem Buch einem Mann ein Denkmal gesetzt, der heute fast vergessen ist. Varian Fry, ein brillanter junger Journalist aus New York, wird vom Autor als Idealist und Bewunderer der deutschen Literatur geschildert, gleichzeitig als eigenwilliger Mensch mit einer Neigung zu Depressionen. Auf mehreren Reisen hatte sich Fry ein Bild von Deutschland gemacht und in seinen Artikeln schon früh vor den Nationalsozialisten gewarnt. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich beschloss er, zu handeln und möglichst viele bedrohte Exilanten vor den Nazis zu retten. Im Juli 1940 gründete er in New York das Emergency Rescue Committee (ERC), sammelte bei Prominenten Spendengelder und flog schließlich im August selbst nach Marseille. Eine Liste der zweihundert am meisten gefährdeten Schriftsteller und Künstler hatte er sich auf dem Flug ans Bein geklebt.
Sein Büro in Marseille quoll bald schon über von Hilfesuchenden. Fry konnte engagierte Frauen und Männer als Mitarbeiter gewinnen. Offiziell deklarierte er seine Organisation als Hilfskomitee, das Flüchtlinge mit Geld und Sachspenden unterstützte. Darüber hinaus aber besorgten er und seine Leute Transitvisa für Spanien und Portugal, Affidavits für die Einreise nach Amerika und, wenn nötig, gefälschte Pässe und Papiere. Vor allem aber verhalfen sie vielen Menschen auf geheimen Routen zur illegalen Flucht über die Berge nach Spanien, da Frankreich keine Ausreisegenehmigungen erteilte.
Die Fluchtgeschichten, von denen Wittstock erzählt, lesen sich spannend wie Thriller. Zu den prominentesten Exilanten, die Fry und seine Mitstreiter erfolgreich über die Pyrenäen führten, gehörten Alma und Franz Werfel, Golo und Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly und Marta und Lion Feuchtwanger. Dabei schildert Wittstock auch komische Momente, z.B. wenn Alma Mahler-Werfel ihre lange vermissten zwölf Koffer in einem theatralischen Auftritt zum Zug nach Spanien bringen ließ. Es gab aber auch tragische Misserfolge. So nahm sich Walter Benjamin in dem kleinen Grenzort Portbou das Leben, als er dort von spanischen Beamten festgenommen wurde.
Varian Fry ließ sich darin, was er als seine Lebensaufgabe sah, durch nichts beirren; weder durch die ständige Gefahr, als illegaler Fluchthelfer aufzufliegen, noch durch die zunehmenden Schwierigkeiten, die ihm das amerikanische Außenministerium und seine Chefs im New Yorker ERC wegen seiner oft eigenmächtigen Entscheidungen und seiner zu großen Nähe zu Kommunisten machten. Als Fry im August 1941 von der französischen Polizei verhaftet wurde und schließlich das Land verlassen musste, hatten er und seine Gruppe über 1000 Menschen die Flucht aus Frankreich ermöglicht und sie vor den Nationalsozialisten gerettet.
So ist „Marseille 1940“ auch ein zutiefst beeindruckendes Dokument der Empathie, der Menschlichkeit und des Mutes in finsteren Zeiten.
Lilly Munzinger, Gauting
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Mittwoch 27.03.2024
Georgi Demidow „Fone Kwas oder Der Idiot“
Rafail Belokrinitskij, die Hauptfigur des erstmals ins deutsche übertragenen Romans „Fone Kwas oder Der Idiot“ von Georgi Demidow, bezichtigt sich selbst mit Sabotageakten im Energiesektor, obwohl diese physikalisch/wissenschaftlich einfach nicht umsetzbar sind. Es klingt absurd, zumal er selbst als Chefingenieur eines großen Energieverbundes tätig ist. Er klagt sich selbst an, um die letzte Chance wahrzunehmen, vom Bolschewistischen System, in dessen Kerkern er seit Mitte der 1930er Jahre eingesperrt ist, vielleicht doch noch freizukommen. Ein naiver Gedanke.
Dieser Rafail Belokrinitskij trägt deutliche Züge des Autors, dessen Schicksal für Hunderttausende Bewohner der damaligen Sowjetunion typisch war. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde er vom Berüchtigten NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) verhaftet, wegen scheinbarer konterrevolutionärer Propaganda angeklagt und zu etlichen Jahren Lagerhaft in einem Gulag (ein Netz von Straf- und Arbeitslagern in den sibirischen Weiten der Sowjetunion) verurteilt. Vierzehn Jahre verbrachte Demidow im Lager Kolyma, wo er auch den Autor Warlam Schalamow kennenlernte.
Wie durch ein Wunder überlebte Demidow die Zeit der brutalsten Repressalien und begann, nachdem sein Traum als Physiker zu arbeiten geplatzt war, anschließend schriftstellerisch tätig zu werden. Er schrieb ausschließlich auf der Schreibmaschine, da ihm im Gulag etliche Finger erfroren waren. 1980 wurden sämtliche Manuskripte Demidows und die in seinem Besitz befindlichen Schreibmaschinen beschlagnahmt. Demidow starb als ein gebrochener Mensch.
Durch die Reformen der aufziehenden Perestroika und dem Engagement seiner Tochter Walentina Demidowa tauchten seine Manuskripte wieder auf und „Fone Kwas oder Der Idiot“ ist nunmehr der erste Roman aus dem Nachlass Demidows, der in deutsche Sprache übersetzt wurde.
Man darf davon ausgehen, dass vieles von dem, was Damidow seinen Helden widerfahren lässt, autobiographische Züge aufweist. Die Hauptfigur Rafail Belokrinitskij aus „Fone Kwas oder Der Idiot“ durchlebt die körperliche und seelische Hölle – um letztendlich unschuldig und zu Jahren der Zwangsarbeit verurteilt zu werden. Anfangs glaubt er noch, dass seine Festnahme ein Versehen sei und sich dieser Irrtum schnell auflösen würde. Doch die drastischen Geschehnisse in Zelle 22, in der sich ausschließlich Opfer Stalins willkürlicher Verhaftungswellen befinden, lehrt ihn mit der Zeit: Der NKWD irrt sich nie und das Schicksal seiner Gefangenen und Gefolterten ist ihm gleichgültig.
Belokrinitskijs wird gezwungen, seine Anklageschrift selbst zu verfassen. Aus Angst vor weiterer Folter entwirft er ein völlig unlogisches, widersinniges Konstrukt, in der stillen Hoffnung, seine Peiniger würden diesen Irrsinn erkennen, darauf eingehen und seine Unschuld bemerken. Doch Belokrinitskijs fällt, wie Thomas Martin in seinem Nachwort so treffend schreibt, wie einst sein Autor, „in das Räderwerk von Stalins Terror, Zacken eines Zahnrads aus dem Surrealen Getriebe der Macht.“ Rafail Belokrinitskijs steht wie alle anderen Insassen des Gefängnisses unter Generalverdacht und wird gnadenlos abgeurteilt.
Georgi Demidow entwirft diesen Text in einer eher nüchternen Sprache, ohne starke emotional wirkende Anteilnahme, was dieser Geschichte erst recht diesen grausamen Unterton gibt. Er erzählt die Geschehnisse mit der Präzision und Schärfe eines beobachtenden Wissenschaftlers und beschreibt eine surreale Welt in der Realität. Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!
Jörg Konrad

Georgi Demidow
„Fone Kwas oder Der Idiot“
Galiani
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Autor: Siehe Artikel
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