Ein Vater, der sich an seiner Tochter vergeht, eine Mutter, die schweigt, eine erwachsene Tochter, die um die Anerkennung der Wahrheit ringt – genau um diese Thematik geht es auch in dem autofiktionalen Roman „Ein falsches Wort“ der norwegischen Schriftstellerin Vigdis Hjorth, der 2024 noch einmal in überarbeiteter deutscher Übersetzung erschienen ist. Dass es sich dabei weitgehend um ihre eigene Geschichte handelt, zeigt die Reaktion ihrer Familie, die versucht hatte, die Veröffentlichung per Gerichtsbeschluss zu verhindern. Als das Buch 2016 in Norwegen dennoch herauskam, machte es Vigdis Hjorth in ihrer Heimat schlagartig berühmt.
Der Roman ist konsequent aus der Perspektive von Bergljot, der Ich-Erzählerin, geschrieben, einer erfolgreichen Autorin um die 60. Sie ist geschieden, hat Kinder und Enkelkinder und lebt in Oslo. Als junge Frau machte sie wegen massiver psychischer Probleme eine Psychoanalyse und wurde durch eine Erkenntnis erschüttert, die sie lange verdrängt hatte. Plötzlich wusste sie wieder, was mit ihr im Alter von fünf Jahren geschehen war, als ihr Vater sie immer wieder in Hotelzimmer mitnahm, mit ihr „kuschelte“ und ihr drohte, sie dürfe niemandem davon erzählen, sonst käme er selbst ins Gefängnis und die Mutter würde sterben. Mit dieser Erinnerung ihrer Tochter konfrontiert, reagierten die Eltern mit Ablehnung und Aggressivität. „Wenn du eine Psychopathin sehen willst, schau in den Spiegel“ war der letzte Satz, den sie von ihrem Vater hörte, bevor sie mit der Familie jeden Kontakt abbrach.
Nun, fast 30 Jahre später, stirbt der Vater, und Bergljot wird in einen Familienzwist hineingezogen. Man streitet um zwei Ferienhütten, die die beiden jüngeren Schwestern erben, während Bergljot und ihr Bruder mit einem viel zu niedrigen Betrag ausgezahlt werden sollen. Wie so oft geht es in dem Erbstreit in Wahrheit um die Anerkennung und Liebe der Eltern. Alte Wunden brechen auf.
Bergljot, die sich immer noch in ihre traumatisierende Vergangenheit verstrickt fühlt, erwartet von ihrer alten Mutter und ihren Geschwistern, dass der Inzest endlich nicht mehr verleugnet, sondern ernstgenommen und geglaubt wird. In Emails, Briefen, Gesprächen kreist sie immer wieder um dieses eine Thema, kämpft wie besessen um die Wahrheit, um ihren Seelenfrieden und ihre Ehre. „Ich war gefangen von einem wütenden Erklärungsbedürfnis“.
Es ist faszinierend zu lesen, mit welcher Genauigkeit und mit welchem psychologischen Scharfblick die Autorin in ihrer schnörkellosen Sprache das Beziehungsgeflecht der Familie analysiert. Die Mutter war ihr Leben lang vom Vater abhängig. Sie hat ihre Familie immer wieder durch Selbstmordversuche in Atem gehalten, sich so als Opfer inszeniert und jede Kritik abgewehrt. Auf Bergljots Anschuldigungen reagiert sie mit Panik. Denn sie müsste sich eingestehen, dass ihr Mann und auch sie als Eltern versagt und schwere Schuld auf sich geladen haben. Sie nennt ihre Tochter eine Lügnerin und Wichtigtuerin. Nur der Bruder steht Bergljot zur Seite, da er selbst unter der Härte des Vaters gelitten hat. Eine der beiden Schwestern bemüht sich zwar um Verständnis und Annäherung, kann Bergljot aber nicht zugestehen, dass sie die Wahrheit sagt. Sie wirft ihrer älteren Schwester vor, sie zerstöre die Familie.
Die Opferforschung hat gezeigt, dass Heilung und Verzeihung nur stattfinden können, wenn Verzweiflung, Trauer und Wut der verletzten Person von der Täterseite anerkannt werden, wie es in „Ein falsches Wort“ heißt. Deshalb ist es Bergljot nicht möglich, sich mit ihrer Familie zu versöhnen.
In ihrem bewegenden, auch literarisch beeindruckenden Buch zeigt Vigdis Hjorth, wie sexueller Missbrauch ein ganzes Leben überschatten und die Familie des Inzestopfers für immer entzweien kann. Ebenso wie die Tatsache, dass Alice Munros Tochter mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen ist, kann man auch Vigdis Hjorths Roman als einen Akt der Selbstachtung und Selbstbehauptung interpretieren und als Versuch, sich von einem schweren Kindheitstrauma zu befreien.
Lilly Munzinger, Gauting
Vigdis Hjorth
„Ein falsches Wort“
S. Fischer
„Ein falsches Wort“
S. Fischer