Eine Küstenmetropole in Brasilien. Kai landet mit gebrochenem Herzen aus Taiwan, um Ferien zu machen. Eine kaputte Klimaanlage führt sie in das Regenschirmgeschäft von Fu Ang. Er könnte ein Freund werden, doch die Regenzeit bleibt aus und sein Geschäft verschwindet. Auf der Suche nach Fu Ang entdeckt Kai die Geschichte von Xiaoxin und einer Gruppe chinesischer Arbeiter in einem noblen Wolkenkratzer. Importprodukte made in China treffen auf Probleme mit den reichen, weißen Nachbarn. In Xiaoxins Erzählung findet Kai sich merkwürdig gespiegelt.
Hauptfiguren kommen und gehen unverhofft in dieser leisen Komödie der Missverständnisse, dargestellt durch Laien und Schauspieler:innen. Von einer fremden Stadt in die nächste folgen sie mehr den Notwendigkeiten der Arbeit als einer klassischen Dramaturgie. Aber im Laufe eines heißen, langsamen Sommers wachsen zarte Bindungen zwischen ihnen wie Inseln in einem Meer voller Haie.
EIN FILM VON NELE WOHLATZ
Mit Chen Xiao Xin ( Xiao Xin), Wang Shin-Hong (Fu Ang), Liao Kai Ro (Kai), Nahuel Pérez Biscayart (Leo), Lu Yang Zong (Yang Zong) u.a.
DIRECTOR’S NOTE
Meinen ersten Spielfilm habe ich mit chinesischen Laiendarsteller:innen in Buenos Aires gedreht, ausschließlich an Wochenenden, denn unter der Woche arbeiteten alle in chinesischen Supermärkten und Importgeschäften. Oft fehlte am nächsten Wochenende jemand, war in eine andere Stadt oder ein anderes Land gezogen oder zurück nach China. Eine Darstellerin sagte zu mir: Ich könnte jetzt überall hingehen und mich anpassen, wenn es sein muss. Aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.
Zu diesem Zeitpunkt lebte ich selbst seit vielen Jahren als Ausländerin in Argentinien. Aus verschiedenen Gründen war auch mir das Gefühl für ein Zuhause abhandengekommen. Zu wem, zu was gehört man? Mit DORMIR DE OLHOS ABERTOS wollte ich einen Film machen, der in jeder Stadt der Welt spielen könnte, mit Darsteller:innen, die überall hingehen würden und nirgends dazugehören. Wie sähe ein Film aus, der das unstete Dasein und die flüchtigen Beziehungen der Figuren zu seinen Prinzipien erklärt, gegen die Regeln der klassischen Dramaturgie? Was wären das für Gemeinsamkeiten, mit denen wir arbeiten, wenn wir alle einander fremd sind?
Im Film beschreibt Xiaoxin, was um sie herum geschieht. Sie gibt den Dingen Namen und abstrakten Gefühlen Ausdruck. Kai wird zu ihrer Leserin. Ohne sich je zu begegnen, sind sie füreinander da.
Für mich sind Filme Orte, an die wir immer zurückkehren können. Wir können sie bewohnen und in ihnen ein Zuhause finden.
BIOGRAFIE NELE WOHLATZ
Die Filmemacherin Nele Wohlatz (1982, Deutschland) studierte Szenografie und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und Film an der Universität Torcuato Di Tella in Buenos Aires, wo sie 12 Jahre lang lebte. In ihren Filmen erforscht sie das Verhältnis von Sprache und Filmsprache sowie die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Ihre Arbeiten wurden auf Festivals wie Locarno, Rotterdam, Viennale, Mar del Plata und in Institutionen wie dem New Yorker Lincoln Center und dem MoMA gezeigt. Ihr Spielfilmdebüt EL FUTURO PERFECTO wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Leoparden für das beste Debüt in Locarno, und wurde zu mehr als 70 internationalen Filmfestivals eingeladen.
INTERVIEW MIT NELE WOHLATZ
Was hat diesen Film und seinen Entstehungsprozess inspiriert?
Mein vorheriger Film EL FUTURO PERFECTO behandelt spielerisch Fragen von Sprache und Identität nach der Migration. Es ist ein optimistischer Film. Eine Weile nachdem wir den Film fertig gestellt hatten, sagte mir Xiaobin Zhang, die Hauptdarstellerin: “Jetzt bin ich hier in Buenos Aires, es geht mir gut. Ich glaube, ich könnte überall hingehen und mich anpassen, aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.”
Ich lebte damals selbst mehr als zehn Jahre in Argentinien. Zehn Jahre sind lang genug, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Land, aus dem man kommt, zu verlieren. Aber auch, um zu erkennen, dass man nie zu einem un- sichtbaren Teil der neuen Gesellschaft werden wird.
Aus diesem Erleben entstand der Wunsch einen Film zu machen, der überall auf der Welt spielen könnte, mit Menschen, die irgendwo anders hingehen könnten und nirgends dazu gehören.
Auf einem Filmfestival erzählte mir der brasilianische Regisseur Kleber Mendoça Filho von den sogenannten „Zwillingstürmen“, einem illegal errichteten Luxus-Wohnkomplex in seiner Heimatstadt Recife. Zwischen den ‚rechtmäßigen‘ brasilianischen Bewohner:innen und den ‚neuen‘ chinesischen Bewohner:innen, die in der sozialen Ordnung nicht vorgesehen waren, kam es zu rassistisch konnotierten Konflikten. Die „Zwillingstürme“ schienen ein absurder urbaner Mythos. Sie versprachen den Hintergrund, nach dem ich gesucht hatte.
Xiaobin reiste zweimal mit mir nach Recife. So hat alles angefangen: zwei Ausländerinnen, die sich in ihrer Wahlheimat Buenos Aires nicht mehr wohl fühlen, interviewen die chinesische Community von Recife zu ihrem Leben zwischen Alltag und Fremdheit.
Welche Bedeutung hat der Titel des Films?
Ich war überrascht, wie informell das Wissen weitergegeben wird, das man braucht, um ein Geschäft für chinesische Importartikel zu führen. Die Menschen ziehen auf die andere Seite der Erdkugel, ohne Sprachkenntnisse oder Ausbildung. Verwandte oder Bekannte unterstützen sie, um mit einem Touristenvisum nach Brasilien zu reisen, bringen sie bei sich unter und lassen sie zunächst unbezahlt für sich arbeiten. Dabei lernen sie das Notwendigste und eröffnen so bald wie möglich ihr eigenes Geschäft. Es ist ein komplexes System wechselseitiger Abhängigkeiten, das von außen manchmal als Ausbeutung missgedeutet wird.
Das Wissen und die Regeln stehen nirgends geschrieben. Und Fu Ang schwirrt der Kopf von diesem ungeschriebenen ‚Manual for Chinese Immigrants‘. Eine Regel darin könnte lauten: Sleep with Your Eyes Open. Schlaf nicht ein, zumindest nicht tief.
Solche Ideen kamen aus den Gesprächen in der Recherche. Die Besitzerin des Stoffblumenladens, in dem wir gedreht haben, plagten nachts Heimweh, die Sorge um das Geschäft und um die Familie in China, die von ihr abhängt.
Wir sehen auch Xiaoxin und Kai nachts wachliegen. Schlaflosigkeit ist ein seltsamer Zustand, in dem Traum, Alptraum und Wachheit ineinander übergehen und der sich wie ein Schleier um alles Erlebte wickelt.
Können Sie Einblick in das gesellschaftliche Gefüge der Küstenstadt in Brasilien geben, vor deren Hintergrund der Film spielt?
Das Hochhaus, in dem Xiaoxin und die anderen leben, spielt auf die „Zwillingstürme“ von Recife an. Sie stehen sinnbildlich für eine Stadtplanung, die den öffentlichen Raum vernachlässigt und sich den Bedürfnissen der Reichen anpasst. Die Türme stehen am Rand der Altstadt, am Meer, und kehren der Stadt den Rücken zu. Natürlich gibt es städtebauliche Bestimmungen, die es verbieten, hier 37 Stockwerke hoch zu bauen - zumal auf öffentlichem Grund. Korruption ermöglicht es, trotzdem zu bauen. Politiker:innen und Richter:innen werden bezahlt - teils mit Wohnungen in den Türmen - und was erst einmal steht, wird nicht abgerissen.
Es gibt Swimmingpools und Gyms und Partyräume und mit dem Auto fährt man aus der Tiefgarage in andere private Türme, Shopping Malls oder zu Privatstränden. Die einzigen Personen, die die Türme zu Fuß betreten, sind die Bediensteten und die chinesischen Bewohner:innen, die auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße in der Altstadt arbeiten.
Um die 2000er, während die „Zwillingstürme“ geplant werden, kommen vermehrt chinesische Einwander:innen nach Recife. Viele haben zuvor in Argentinien gelebt, bis dort die Wirtschaft zusammenbrach. Sie beginnen als informelle Händler:innen und verkaufen billige Importwaren wie gefälschte Designer-Handtaschen. Einige werden als Importeur:innen reich und kaufen Wohnungen in den „Zwillingstürmen“, die praktischerweise nahe am Arbeitsplatz liegen.
Die Wohnungen im Turm sind riesengroß. Reiche brasilianische Familien haben üblicherweise Bedienstete bei sich wohnen. Die Chines:innen nutzen den Platz, um Neuankömmlinge bei sich unterzubringen, häufig Menschen vom Land oder aus der Arbeiterschicht. Diese Konstellation sorgt für Stress mit den brasilianischen Bewohner:innen, die nicht wissen, wer arm und wer reich ist,
die keine Geduld für kulturelle Missverständnisse haben und Fahrstühle und Gemeinschaftsräume nicht mit Migrant:innen teilen wollen. Sie beschweren sich über Küchengerüche und ihre Mitbewohner:innen im Swimming Pool. Die Chines:innen bringen die Ordnung der Dinge durcheinander, die klare Abgrenzung gegen Arme. Obwohl sie keine politische Motivation haben, bilden sie eine Art subversive Kraft in den Türmen.
Wie ist die Erzählung aufgebaut, insbesondere das Portrait zweier chinesischer Frauen, die sich nie wirklich begegnen, deren Wege sich aber auf unerwartete Weise kreuzen?
Der Film spielt in Brasilien, aber er nimmt eine ausländische Perspektive ein. Die Hauptfiguren sind alle fremd in der Stadt. Kai ist eine Touristin, eine Besucherin, sie spiegelt auch meine Perspektive.
Kai findet die Postkarten mit Xiaoxins Notizen, daraufhin tauchen wir in deren Geschichte. Aber nach zwei Dritteln, wenn der letzte Akt beginnen müsste, verschwindet Xiaoxin aus der Stadt und aus dem Film, entgegen den traditionellen Regeln der Dramaturgie. Ein klassischer Held kehrt am Ende geläutert an den Ausgangspunkt zurück. Aber bei meiner Arbeit mit chinesischen Migrant:innen habe ich eine andere Art der Reise beobachtet. Die Menschen zogen oft sehr plötzlich um: in eine andere Stadt, ein anderes Land oder zurück nach China.
Wir konstruieren Geschichten, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben. Dafür will ich auch die Muster und Dramaturgien hinterfragen, mit denen wir gelernt haben, unsere Erzählungen zu strukturieren. Die Heldenreise basiert auf einer Perspektive, die nicht die meine ist. Mich interessieren die multiplen Gründe für Migration, andere Formen der Familie, des Zusammenlebens, der Zugehörigkeit.
Nachdem Xiaoxin verschwindet, bleibt ihre Stimme und überlagert sich mit Kais Erlebnissen. Die Person, die schreibt und die Person, die liest, brauchen einander. Indem sie die Dinge benennen, durch das Geschichtenerzählen selbst, schaffen sie einen Raum der Zugehörigkeit.
Können Sie über Ihre Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit Schauspieler:innen aus verschiedenen Kulturkreisen in diesem Film sprechen?
Ohne die Erfahrung, die ich mit Xiaobin in meinem ersten Film EL FUTURO PERFECTO gemacht habe, hätte ich mich nie an diese Arbeit gewagt. Damals war es nicht meine Intention, die chinesische Community von Buenos Aires zu erkunden oder Xiaobins Herkunft. Doch mit Xiaobin als Übersetzerin passierte beides. Sie hat nicht nur die Sprache übersetzt, sondern mir auch ein emotionales Verständnis für ihren Hintergrund ermöglicht.
Es braucht Vertrauen und gegenseitiges Wohlwollen, um die immer neuen Missverständnisse zu klären und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Während der Proben haben die Darsteller:innen die Dialoge und Übersetzungen diskutiert und sich dadurch angeeignet. Sie haben mich auf Unstimmigkeiten in Details der chinesischen oder brasilianischen Kultur hingewiesen. Einige der chinesischen Darsteller:innen musste ich anfangs dazu auffordern.
Ich habe ihnen versichert, dass es nicht unhöflich, sondern im Gegenteil unverzichtbar ist, dass sie mich verbessern.
Natürlich blieben Fragen offen. Ich war es nicht gewohnt, so sehr die Kontrolle abzugeben, so vielen Stimmen gleichzeitig zuzuhören. Aber das interessiert mich: nicht aus einer einzigen Perspektive zu arbeiten, sondern dass der Text in Gemeinschaft wächst.
Gleichzeitig waren die vielen Sprachen die größte Herausforderung. Wir mussten unser eigenes Übersetzungssystem entwickeln. Ich komme auf Portugiesisch zurecht, aber Mandarin verstehe ich nicht. Ich habe es nicht ernsthaft versucht zu lernen. Es interessiert mich mehr, mit dem zu arbeiten, was entsteht, wenn wir nicht meinen, einander zu verstehen. Wieso sollten wir nicht an die Grenzen der Verständigung gehen und ihre Möglichkeiten ausdehnen?
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit erfahrenen Schauspielern wie Nahuel Pérez Biscayart und Wang Shin-Hong?
In Dormir de olhos abertos haben wir erfahrene Schauspieler:innen und Menschen, die noch nie mit Film zu tun hatten, zusammengebracht. Es lief ganz organisch. Shin-Hong und Nahuel bringen beide eine Sensibilität für diese hybride Art der Arbeit mit. Shin-Hong produziert zum Beispiel auch Dokumentarfilme in seinem Herkunftsland Myanmar. Sie sind dazu bereit, ihr Spiel dem der Laien-Darsteller:innen anzupassen.
Sie sind ein bisschen wie Geheimagenten vor der Kamera, die dabei helfen, kompliziertere Szenen am Laufen zu halten. Nahuel hat eine große Sensibilität für Rhythmus und Komposition. In einem Bild mit vielen verschiedenen Menschen sorgt er ganz beiläufig dafür, dass alles in stetiger Bewegung bleibt, ohne im Chaos zu enden.
Was hat es mit der Präsenz von Hochhäusern und Aufzügen in dem Film auf sich?
In der Stadtsoziologie sind mit ‚Nicht-Orten‘ Infrastrukturen gemeint, die überall auf der Welt gleich aussehen und eine Identität oder Geschichtlichkeit negieren. Oft haben sie eine transitorische Funktion: Flughäfen, Shopping Malls, Stadt-Autobahnen, Überführungen. In Recife sind mir ein Hochhaus-Typ aufgefallen, der überall auf der Welt stehen könnte. Auch er negiert den lokalen Kontext.
Ich finde die Symbiose reizvoll, die Filme mit ‚Nicht-Orten‘ eingehen: Filme belegen noch die kältesten Orte mit Eigenartigkeit, indem sie von dem Leben und den Gefühlen zeugen, die hier stattfinden.
Ich sehe auch eine Analogie zwischen Ausländer:innen und ‚Nicht-Orten‘: wer als erwachsener Mensch in eine fremde Stadt in einem neuen Land zieht, für den hat kein Ort eine Geschichte und er selbst ist geschichtslos in der Stadt. Sich selbst und die neue Stadt zusammenzuführen ist eine Aufgabe, die nie ganz beendet wird.
Nahuel hatte einen kleinen Auftritt in meinem ersten Film. Ich wusste, dass seine Präsenz den Laien-Darsteller:innen dabei hilft, sich auf das Spiel einzu- lassen. Ich liebe es, wenn ich im Filmschnitt darüber rätsele, ob jemand gerade etwas spielt oder einfach nur da ist. Irgendwie haben sie es alle geschafft, mir dieses Rätsel mitzugeben, die erfahrenen Schauspieler:innen ebenso wie die Laien. Ich hoffe, dass dieses Rätsel sich nie auflöst.