Ab 27. Juni 2024 im Kino
Primzahlen sind Marguerites große Leidenschaft. Die brillante Mathematikstudentin ist die einzige Frau im Promotionsprogramm unter dem renommierten Professor Werner an der École Normale Supérieure in Paris. Doch als sie bei der Präsentation vor einem Forschergremium mit einem gravierenden Fehler in ihrer Arbeit konfrontiert wird und daraufhin die Fassung verliert, lässt ihr Doktorvater sie fallen und widmet sich ganz dem talentierten Promovenden Lucas. Tief erschüttert und voller Selbstzweifel wirft Marguerite alles hin und sucht sich einen Aushilfsjob. Schnell muss sie erkennen, dass auch das Leben außerhalb der Universität überraschende Erkenntnisse bereithält und sich weder die Mathematik noch Lucas so einfach aus ihrem Leben verbannen lassen.
Authentisch und einfühlsam spielt Ella Rumpf (RAW, FREUD, TIGER GIRL) eine hochbegabte junge Frau, die lernen muss, dass sich die großen mathematischen Rätsel nicht allein am Schreibtisch lösen lassen. Der sensible Film um die Schönheit von Zahlen und die vielen Variablen auf dem Weg zur Selbstbestimmung feierte Premiere im Rahmen der Special Screenings bei den Filmfestspielen von Cannes 2023.
Ein Film von ANNA NOVION
Mit ELLA RUMPF, JEAN-PIERRE DARROUSSIN, CLOTILDE COURAU, JULIEN FRISON u.a.
Interview mit ANNA NOVION
Die „Ecole Normale Supérieure“ (ENS) ist ein geschlossener Kosmos, der für Außenstehende geheimnisvoll erscheint. Warum haben Sie diese Umgebung als Ausgangspunkt für den Film gewählt?Wenn ich einen Film beginne, gehe ich immer von einem Gefühl aus, das ich erlebt habe, das mich fasziniert und das ich erforschen möchte. Als ich etwa 20 Jahre alt war, wurde ich krank und musste sechs Monate lang in der Klinik bleiben. Nach meiner Genesung spürte ich eine Distanz zu den Menschen in meinem Alter, ich fühlte nicht mehr dieselbe Unbeschwertheit. Ich überlegte, wie ich der Welt und den anderen von dieser Distanz erzählen könnte. Ich dachte an die Grandes Ecoles, wo sich die Schüler manchmal von ihrer Außenwelt abschotten, sich auf ihr Studium fokussieren, und sehr schnell erschien mir das Umfeld der Mathematik als naheliegend. Die Welt der Mathematik – und im weiteren Sinne auch die „Ecole Normale Supérieure“, kurz ENS – wurde selten im Film dargestellt, und schon gar nicht mit einer Mathematikerin als Heldin. Ausschlaggebend war meine Begegnung mit Ariane Mézard, einer der wenigen großen französischen Mathematikerinnen. Zwischen uns entwickelte sich sofort eine Freundschaft, es war, als ob wir uns wiedererkannt hätten, was mich überwältigt hat.
Sie ist einfühlsam, direkt, ehrlich, offen für andere. Sie strahlt eine beeindruckende Stärke aus, in der viel Verletzlichkeit steckt, ein offensichtliches Selbstbewusstsein, das sich dennoch immer dafür zu entschuldigen scheint, dass es da ist. Sie war die erste, die mit mir auf künstlerische Weise über Mathematik sprach, indem sie Poesie, Fantasie und all das, was mich auch in meinem Beruf antreibt, nannte. Indem sie mir von ihrer Leidenschaft erzählte, erzählte sie mir auch von meiner.
Gilles Deleuze sagte sehr treffend, dass ein Wissenschaftler genauso viel erfindet und erschafft wie ein Künstler ...Mit Mathieu Robin, meinem Co-Drehbuchautor, haben wir eine Figur geschrieben, die sich sehr stark an Ariane orientierte und gleichzeitig von mir erzählte. Regisseurin zu sein bedeutet, nie etwas loszulassen. Marguerite hat einen starken Willen, eine Form der Selbstverleugnung und eine
Leidenschaft, in der ich mich wiedererkenne. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Engagement und die Hartnäckigkeit, die unsere Berufe erfordern. Mathematiker können ihr ganzes Leben lang versuchen, ein Problem zu lösen, ohne dass sie sicher sind, dass es ihnen gelingt. Auch Filmemacher gehen das Risiko ein, dass ihr Projekt jederzeit scheitern kann. Es hat etwas von einem Glaubensakt. Mathematiker zu sein, ist wie der Eintritt in eine Religion. Im Film hat Marguerite eine sehr reine Beziehung zur Mathematik, eine Art Hingabe.
Werner ist nicht nur ein Mentor für Marguerite, sondern auch ein Bezugspunkt zu dieser „Religion“. Seiner Meinung nach sollte „die Mathematik frei von Gefühlen sein“.In der Mathematik ist die Konkurrenz groß. Diejenigen, die in der Forschung tätig sind, wissen, dass sie zur Elite gehören. Das ist auch bei Werner der Fall. Er ist ein ehrgeiziger Mann, der das Gefühl hat, dass sein Talent nicht anerkannt wurde. Daraus hat er Ressentiments geschöpft. Er glaubt zwar immer noch an die Mathematik, aber die Frustration nagt an ihm. Werner ist eine Machtfigur, die Marguerite an der Selbstverwirklichung hindert. Seit ihrem Eintritt in die ENS sieht sie ihn als Beschützer und beschwört Gefühle herauf, wo er ihr Distanz auferlegt. Sie versucht, ihm zu gefallen, so wie eine Tochter von ihrem Vater geliebt werden möchte. Werner ist nicht in der Lage, diesen Platz einzunehmen, und es ist auch nicht seine Rolle. Marguerite fühlt sich an einem bestimmten Punkt von ihm betrogen. Ich urteile nicht: Marguerite ist nicht das Opfer und Werner nicht der Henker. Beide haben ihre eigene Wahrheit.
Das Thema der Abstammung nimmt in all Ihren Filmen einen zentralen Platz ein. Wie erklären Sie sich das?Es hängt mit meiner persönlichen Geschichte zusammen, zweifellos mit der Beziehung, die ich zu meinem Vater habe. Es ist kein Zufall, dass meine Filme mit Figuren beginnen – die von Jean-Pierre Darroussin und hier die von Ella Rumpf verkörperten –, die in ihren Gewissheiten festgeschraubt sind und Angst haben, sich zu öffnen. Dann kommt es zu einem Ereignis, das sie zwingt, einen Schritt zur Seite zu machen, loszulassen und ihre Verletzlichkeit in eine Stärke zu verwandeln.
Ich möchte meine Figuren auf eine Entwicklungsreise mitnehmen, sie dabei beobachten, wie sie sich der Welt öffnen, erwachsen werden und sich von Autoritätspersonen lösen. In WIR SIND ALLE ERWACHSEN ist es eine Teenagerin (gespielt von Anaïs Demous?er), die sich während der Ferien auf einer kleinen schwedischen Insel von ihrem Vater emanzipiert. In RENDEZ-VOUS IN KIRUNA wird die Geschichte aus der Sicht des Vaters erzählt, wobei das Thema der Anerkennung im Vordergrund steht. In DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS ist es Marguerite, die die Erzählung anführt, sie ist es, die sich durch ihre Arbeit quält, um Werner zu beweisen, dass sie seinen Platz verdient. Und diese Überzeugung nährt seine Wut. Marguerite macht nach und nach deutlich, was sie von Werner erwartet: Anerkennung als vollwertige Mathematikerin. Sie ist nicht hier, um die
Quoten zu erfüllen!
Wie in jeder Coming-of-age-Geschichte begegnet Marguerite Menschen, hier den Figuren Noa und Lucas, die den Lauf ihres Lebens verändern und die sie auch selbst beeinflussen wird.Noa und Lucas stehen mehr im Leben als Marguerite. Noa ist Tänzerin, sie drückt sich durch ihren Körper aus, sie hat daraus eine Kunst gemacht, während Marguerite sich nie um ihr Äußeres gekümmert hat. Noa stürmt wie ein kleiner Wirbelsturm in Marguerites Leben, aber sie haben Gemeinsamkeiten. Sie sind beide leidenscha?lich in ihrem Beruf, haben keine Vorurteile, sie sind überrascht über die Unterschiede der anderen, aber jede akzeptiert die andere so, wie sie ist. Marguerites Redefreiheit verblüfft Noa, Noas Freiheit als Frau inspiriert Marguerite. Lucas ist geselliger und weniger ernsthaft als Marguerite, er studiert mit dem Ziel, erfolgreich zu sein und eine gewisse Form von Ruhm zu erlangen. Es ist die Leidenschaft für Mathematik, die sie verbindet.
Marguerite hingegen erlaubt es sich nicht, von etwas anderem zu träumen, sie hat sogar das Gefühl, dass ihre Weiblichkeit ihr Talent abwerten könnte. An der ENS hat sie alles getan, um sich in die Masse einzufügen, d. h. Wie die männlichen Studierenden zu sein, die ihre Schwächen und ihre Sensibilität verbergen müssen. Lucas bemüht sich, Marguerite davon zu überzeugen, dass Gefühle zu haben sie nicht schwächen wird. Für Marguerite besteht das Problem darin, dass Gefühle von Natur aus irrational sind und sie sie nicht wie eine wissenschaftliche Argumentation beherrschen kann. Die beiden sind der perfekte Stoff für eine romantische Komödie und eine Komödie über das Zurückfinden zur Mathematik!
Eines von Marguerites ersten Erlebnissen nach dem Verlassen der Universität ist der Sex mit einem Fremden, dem sie zufällig begegnet. Wie sind Sie auf diese überraschende und witzige Szene gekommen?Mathieu und ich haben uns einen Spaß daraus gemacht, die üblichen Verführungscodes umzukehren. Marguerite ist subversiv, ohne es zu wissen: Indem sie Yanis auf die Straße folgt, wird sie zu einer Art Raubtier, das ziemlich beängstigend ist! Sie geht auch Risiken ein, verspürt aber keine Angst. Das ist es, was Marguerite manchmal komisch macht: Sie sagt und tut Dinge, die sich niemand erlauben würde. In diesem Sinne habe ich auch die Szene mit Yanis geschnitten und gedreht. Wenn Sexszenen nichts anderes als Sex erzählen, finde ich sie peinlich. Das hat nichts mit Scham zu tun, sondern ist eine Frage der erzählerischen Relevanz. Die Szene im Film erzählt, wie Marguerite ihren Lustgewinn sucht, ohne auf ihren Partner Rücksicht zu nehmen. Er schaut sie ziemlich fasziniert an und fragt sich, wer diese entschlossene Frau über ihm ist!
Dann stolpert Marguerite in eine andere, ebenso unerwartete Welt: die der Mahjong-Partien!Und ich bin genauso wenig eine Mahjong-Spielerin wie eine Mathematikerin! Mathieu und ich haben viel darüber nachgedacht, was einer der Dreh- und Angelpunkte des Films ist: Wie würde Marguerite, nachdem sie die ENS verlassen hat, ihre Leidenschaft wieder aufnehmen? Wir stellten fest, dass die großen Mahjong-Spieler oft Mathematiker sind: Es ist ein Spiel, bei dem man außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten braucht, um sich durchzusetzen. Das war ideal für Marguerite. Mir gefiel die Idee, sie wieder in eine reine Männerwelt zu versetzen, in der die Teilnehmer von vornherein der Meinung sind, dass sie keinen Platz hat, dass sie es den Männern nicht gleichtun kann.
Marguerites beharrliche Weigerung zu verlieren, sowohl im Spiel als auch in ihrer Forschung, führt sie an den Rand des Abgrunds. Ist dies eine Form, den Wahnsinn anzudeuten, der Genies droht?Ich wollte diesen Schwindel für die Zuschauer spürbar machen, zeigen, dass Marguerite aus Stolz vom Weg abkommen und sich schließlich selbst verlieren könnte.
Jeder Mathematiker hat eine Geschichte über einen Kollegen zu erzählen, der verrückt geworden ist, schizophren, nie über einen Fehler hinweggekommen ist oder sich umgebracht hat. Dieser Bereich ist so arbeitsintensiv, dass das Gehirn implodieren kann. Menschen mit einer außergewöhnlichen Geistesgeschwindigkeit wollen ständig auf der Höhe ihrer Fähigkeiten sein; das ist ein andauerndes Hochgefühl und viel Druck. Man kann auch einen Vergleich zu dem ziehen, was Spitzensportler durchmachen.
Wie fiel Ihre Wahl auf Ella Rumpf, die durch RAW bekannt wurde und unter anderem in der TV-Serie „Tokyo Vice“ zu sehen war?Es gab mit ihr kein Vorsprechen für die Rolle. Als wir uns trafen, haben wir uns viel unterhalten, ich habe sie beobachtet und wusste, dass sie es ist. Ich spürte, dass es eine faszinierende Verbindung zwischen Ella und der Figur geben könnte, und dass daraus eine spannende Marguerite entstehen würde. Ella strahlte eine Intensität und eine Fähigkeit zur Hingabe aus, die ich filmen wollte.
Wir haben uns überlegt, welches komödiantische Niveau wir mit dieser Figur erreichen wollten. Marguerite ist ein bisschen kauzig, aber sie ist auch keine Außerirdische, und wir mussten vermeiden, ins Groteske oder Karikierende abzugleiten. Vier Monate lang haben wir alle Szenen
geprobt und wiederholt, um das richtige Maß zu finden.
Zum Beispiel gibt Marguerite zu Beginn des Films ein Interview. Als sie nach ihren Hobbys gefragt wird, antwortet sie: „Ich spiele Yahtzee mit meiner Mutter“. Ihre Ernsthaftigkeit macht sie komisch. Neben der Arbeit mit Ariane Mézard, die sie in die Welt der Mathematik, ihrer Philosophie und ihrer Kalligrafie eintauchen ließ, war Ella auch körperlich involviert. Ich hatte große Lust, Marguerites Gang zu filmen. Sie ist gleichzeitig unbeholfen, ein wenig burschikos, und kommt doch direkt zum Punkt. Es ist ihr völlig gleichgültig, was andere Leute denken, und das liebe
ich an ihr. Wir leben alle in einer Welt, in der sich die Menschen gegenseitig unter die Lupe nehmen, in den sozialen Medien werden wir ständig beurteilt. Jemanden zu zeigen, der sich dieser täglichen Tyrannei entzieht, ist Teil meines Diskurses über unsere Gesellschaft.
Auch wenn Marguerite unkonven?onell ist, ist sie eine Frau von heute.Und sie ist eine starke Frau mit einem hohen intellektuellen Niveau. Sie ist ein Vorbild in dem Sinne, dass sie eine hartnäckige und ausdauernde Kämpferin ist – noch dazu in einem sehr männlich dominierten Umfeld. Es ist schwierig, sich einen Platz zu erobern, wenn man ständig auf sein Geschlecht reduziert wird; dieser Druck treibt sie an, die Beste zu sein. Ich habe das in meinem Beruf am eigenen Leib erfahren, vor allem als ich bei Episoden von „Büro der Legenden“ Regie führte. Wenn man die einzige Frau ist, die diesen Job macht, muss man beweisen, dass man ihn
verdient hat, weil man eine Ausnahme ist, eine Anomalie. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Film so viel von mir selbst erzähle. Er ist nicht autobiografisch, sondern zutiefst persönlich, in meiner Beziehung zur Welt und zur Arbeit.
Am Set nannte man mich ständig Marguerite und Ella, Anna! Man muss eine Kriegerin sein, um in diesem Beruf Erfolg zu haben. Die Wut von Marguerite trage auch ich in mir, angesichts von Dingen im Leben, die man als ungerecht empfindet. Marguerite ist eine kleine Soldatin, die keine Befehle befolgen will, die erwachsen wird und große Macht erlangt. Ich hoffe, dass der Film durch sie Frauen dazu inspiriert, für ihre Leidenschaft zu kämpfen.
Jean-Pierre Darroussins Darstellung von Werners Unnachgiebigkeit und Härte ist beeindruckend, und dies ist ein ungewöhnliches Register für ihn.Große Schauspieler müssen in der Lage sein, alle Register zu ziehen. Aber das französische Kino neigt manchmal dazu, sie auf die Rollen zu beschränken, die ihren Erfolg ausgemacht haben: Für Jean-Pierre sind es die sympathischen Charaktere, die voller Menschlichkeit sind, die eine sofortige Empathie hervorrufen. Ihn eine Rauheit, mehr Härte spielen zu lassen, macht seine Menschlichkeit noch trüber und lässt eine Ambivalenz entstehen, die spannend zu filmen ist. Werner hätte ein unsympathischer, toxischer Charakter sein können. Jean-Pierre verlieh ihm eine liebenswertere, zweideutige und kontrastreiche Dimension. Jean-Pierre hat viele Versionen des Drehbuchs gelesen, er hat die Figur wachsen sehen, er kennt Werner schon lange! Nach diesem langen Lernprozess hat er viel mit Ella geprobt, um ihre Dynamik zu finden. Bei den Dreharbeiten angekommen, war es wie eine Selbstverständlichkeit: Jean-Pierre hatte erfasst, was Werner sein sollte. Jemand, der keine Zeit zu verlieren hat. Auch mit Gefühlen.
Warum war es so wichtig, Ihre Inszenierung auf Marguerites Weg abzustimmen?Meine früheren Filme waren impressionistisch, die Gefühle tauchten langsam auf, man musste sie mit kleinen Pinselstrichen und langen Einstellungen begleiten. Marguerite ist roher, direkter, was mich dazu veranlasst hat, bei der Regie den Expressionismus zu bevorzugen. Wir gehen von der ENS aus, die monochrom und still ist. Die Rahmen sind geometrisch, wie die Ordnung, die in der Einrichtung herrscht. Danach dringen Unordnung und Irrationalität in das Leben von Marguerite ein. Es gibt mehr Farben, mehr Aufnahmen mit der Schulterkamera, mehr Bewegungen, die Kamera wird leichter. Die Mathematiker sprechen auch von Spaß und Experimentierfreude. Ihr Vergnügen besteht darin, ihre Zeit dem Lösen von Rätseln zu widmen. Es ist ein Teil der Kindheit, den ich dem Film einprägen wollte. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst in Richtung eines spielerischen Kinos gehe. Meine Inspiration habe ich aus einem bestimmten amerikanischen Kino geschöpft, das die Freude des Zuschauers berücksichtigt und dafür sorgt, dass er nicht frustriert wird. Wenn ich die Filme von Paul Thomas Anderson, den Coen-Brüdern oder Tarantino sehe, ist ihre Schadenfreude spürbar. Meine Referenzen für die Darstellung der Marguerite waren ebenfalls amerikanisch: Elle Fanning, Emma Stone, Saoirse Ronan. In Europa wird eher ein naturalistischer Schauspielstil bevorzugt, es wird nach knallhartem Realismus gestrebt, bis zu dem Punkt, an dem man das Verspielte in der Interpretation auslöscht. Ich habe mich für eine Inszenierung entschieden, die ständig in Bewegung ist, wie das Gehirn von Marguerite, das konstant in Aufruhr ist. Der Film kanalisiert so die mentale Energie der Figur.
Es gelingt Ihnen sogar, die Mathematik filmisch darzustellen!Das war eine der anderen Herausforderungen bei der Umsetzung. Wie kann man die Mathematik, die niemand versteht, organisch darstellen? Ich musste die Leidenschaft und das Engagement von Marguerite und Lucas übernehmen. Beide arbeiten sehr hart. Dies nicht zu zeigen, wäre ein Mangel an Respekt und Wahrheit gegenüber den Mathematikern gewesen. Wenn sie die Wände im Wohnzimmer schwarz anstreichen, um Gleichungen darauf zu schreiben, wollte ich, dass man den Eindruck hat, sie würden die Sixtinische Kapelle neu streichen! Diese Schriften sind wie Hieroglyphen, sie sind faszinierend anzusehen, es liegt Schönheit in dieser Abstraktion. Die Gleichungen, die man im Film sieht, sind alle authentisch, Ariane Mézard hat sich dafür eingesetzt.
Die Goldbachsche Vermutung, die Marguerite beweisen will, ist ein Problem, das noch nicht gelöst wurde. Und das Verrückte daran ist, dass Ariane im Vorfeld der Dreharbeiten echte Fortschritte zu diesem Thema gemacht hat. Mathematiker, die in der Zukunft Goldbach beweisen wollen, können den Film sehen und darin Schlüsselelemente finden!
Die Energie von Marguerite, die Sie gerade erwähnt haben, wird von der gefühlvollen Musik widergespiegelt. Wie hat Pascal Bideau sie komponiert?Wir arbeiten seit WIR SIND ALLE ERWACHSEN zusammen. Pascal war von einer mathematischen, zerebralen Musik ausgegangen, die wie Philip Glass klingen sollte, aber wir stellten fest, dass das nichts zum Bild beitrug. Ich hatte ständig „L'enfer“ im Kopf, das Lied von Stromae, in dem er seine Selbstmordgedanken thematisiert. Mir wurde klar, dass es die bulgarischen Chöre am Anfang des Liedes waren, die mich berührten. Das war wie eine Initialzündung für Pascal und mich: Wir brauchten eine lyrische, romanhafte Musik, die Marguerites Seelenreichtum, ihre „hautnahe“ Seite, die sie zu verbergen versucht, zum Ausdruck bringt.
Die von Pascal komponierte Musik trägt dazu bei, der Erzählung Romantik zu verleihen, und vervollständigt das Verständnis der Figur.