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43. BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF
44. DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS
45. IVO
46. SLEEP WITH YOUR EYES OPEN
47. KING'S LAND
48. GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY
Mittwoch 03.07.2024
BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF
Ab 4. Juli 2024 im Kino
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Von Ostpreußen an die West Coast – Von Hermann Hesse zu Harley-Davidson
Mit John Kay – der „erfolgreichste deutsche Rocksänger aller Zeiten“ (Die Zeit)
Eine Rockumentary made in Germany

Ein Film von Oliver Schwehm

Steppenwolf ist eine der legendärsten und zugleich rätselhaftesten Bands in der Geschichte der Rockmusik. An der Grenze zwischen Mainstream und psychedelischem Underground eröffnete ihr Song „Born to Be Wild“ den Kultfilm EASY RIDER und wurde zur Hymne einer ganzen Generation. Der neue, harte Sound von Steppenwolf war ein Stich in das Herz des „Summer of Love“ und beendete das Hippie-Zeitalter. Es ist kein Zufall, dass sie die allererste Band war, die das Wort „Heavy Metal“ in ihren Texten verwendete.

Was aber nur wenige Menschen wissen: Die Band Steppenwolf hatte als Gravitationszentrum zwei deutsche Auswandererkinder, die sich zunächst in Toronto trafen, bevor sie gemeinsam nach Kalifornien weiterzogen – Sänger John Kay (geboren als Joachim-Fritz Krauledat) war ein Kriegsflüchtling aus Ostpreußen. Bassist Nick St. Nicholas (geboren als Karl Klaus Kassbaum) stammte aus einer angesehenen hanseatischen Familie.

BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF führt uns vom kriegsgebeutelten Deutschland zu den Straßen der Arbeiterklasse in Toronto und nach Los Angeles, wo die Band zu Ruhm aufsteigt und dann abstürzt. Mit den Steppenwolf-Mitgliedern John Kay, Nick St. Nicholas, Michael Monarch, den Künstlern Mars Bonfire, Alice Cooper, Taj Mahal, Cameron Crowe (ALMOST FAMOUS), Klaus Meine (Scorpions), Jello Biafra (Dead Kennedys), Dale Crover (Melvins) und Bob Ezrin (Produzent von u. a. Kiss, Pink Floyd, Taylor Swift). Musikalisch hat der Film auch einiges zu bieten, so enthält er über ein Dutzend Original-Steppenwolf-Songs.


Oliver Schwehm (Buch & Regie)

Oliver Schwehm wurde 1975 in Mainz geboren. Er studierte Germanistik und Romanistik, gefolgt vom Studiengang Dokumentarfilm an der Universität Straßburg.
Schwehm versteht es, verborgene Geschichten aufzuspüren und diese in akribischer Recherche zu durchdringen und aufzuarbeiten, wie beispielsweise in CINEMA PERVERSO, in dem er die untergegangene Welt der deutschen Bahnhofkinos wieder auferstehen lässt. Seine Werke zeichnen sich stets durch einen hohen Anteil an unbekannten Archivmaterialien aus, sowie Zugang zu besonderen Protagonisten, die „First Hand“ die Geschichte erzählen. So gelang es Schwehm für BORN TO BE WILD beispielsweise den sagenumwobenen Songwriter Mars Bonfire ausfindig zu machen, der einst den gleichnamigen Song schrieb, jahrzehntelang als verschollen galt und den Schwehm schließlich in der Wüste Nevada fand.
In seinen zwei Filmen FLY ROCKET FLY (2018) und DEUTSCHE RAKETEN FÜR GADDAFI (2021) erzählte er die Geschichte der ersten privaten Raumfahrtfirma OTRAG, die Mitte der 1970er-Jahre von Stuttgart aus aufbrach, um erst im kongolesischen Urwald und dann in der libyschen Wüste Raketen zu testen. Die Tagesthemen urteilten über FLY ROCKET FLY: „Der perfekte Stoff für einen Spielfilm – als Dokumentarfilm beinahe zu fantastisch.“
Zuletzt erzählte Schwehm in KALANAG – DER MAGIER UND DER TEUFEL die vergessene Geschichte des deutschen Filmproduzenten und Magiers Helmut Schreiber, der im Nationalsozialismus Karriere als Produzent machte und anschließend zum bekanntesten Zauberkünstler der Nachkriegszeit wurde, der es bis in die amerikanische Ed Sullivan Show schaffte.

Schwehms Filme dienen immer wieder als Vorlage für fiktionale Adaptationen. So lieferte sein Film MILLI VANILLI – FROM FAME TO SHAME (2015) die Inspiration für Simon Verhoeven musikalisches Biopic GIRL YOU KNOW IT’S TRUE, auch eine Adaption von FLY ROCKET FLY ist in Arbeit.


Filmografie (Auswahl)

2024 - BORN TO BE WILD (Buch & Regie)
2021 - KALANAG – DER MAGIER UND DER TEUFEL (Buch & Regie) – bei MFA+ im Verleih
2018 - DER UNERSCHROCKENE: DER BERLINER FILMPRODUZENT ARTUR BRAUNER (Regie, gemeinsam mit Kathrin Anderson)
2018 - FLY, ROCKET, FLY! – MIT MACHETEN ZU DEN STERNEN (Buch & Regie)
2016 - MILLI VANILLI: FROM FAME TO SHAME (Buch & Regie)
2015 - CINEMA PERVERSO – DIE WUNDERBARE UND KAPUTTE WELT DES BAHNHOFSKINOS (Buch & Regie)
2014 - ARNO SCHMIDT – MEIN HERZ GEHÖRT DEM KOPF (Buch & Regie) – bei MFA+ im Verleih
2011 - GERMAN GRUSEL – DIE EDGAR WALLACE-SERIE
2010 - CHRISTOPHER LEE – GENTLEMAN DES GRAUENS
2007 - WINNETOU DARF NICHT STERBEN


Director’s Note

„Nach über fünf Jahren Arbeit an diesem Film freue ich mich, dass BORN TO BE WILD nun in die Kinos kommt. Dieser Film musste einfach gemacht werden, er gehört zu der seltenen Art von Geschichten, bei der die Realität die Fiktion übertrifft.

Neben True Crime und Sport sind aktuell im Doku-Bereich ja vor allem Musikdokus ein gefragtes Genre - wobei die überwiegende Mehrheit dieser Produktionen aus Amerika stammt. Mit BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF wollten wir den Beweis antreten, dass auch eine Rockumentary made in Germany möglich ist.

BORN TO BE WILD soll natürlich vor allem Spaß machen – das Publikum mit Steppenwolf-Sound volltanken lassen und auf einen gemeinsamen Trip mitnehmen. Wichtig war mir, dass man ein wirkliches Gefühl für die Musik bekommt, diese einzigartige Mischung aus Elementen von Rock, Blues, Funk, Psychedelic und Heavy Metal.

Auch der Humor soll nicht zu kurz kommen. Einer meiner Lieblingsmomente sind gerade auch die Jahre nach der eigentlichen Blütezeit, wenn einzelne Bandmitglieder versuchen, die auseinandergebrochene Gruppe zu reaktivieren und plötzlich mehrere Bands namens Steppenwolf durch die Lande ziehen und sich einen Wettstreit liefern, wer denn nun den härtesten Sound habe.

Ein ganz besonderer Schatz sind die 20 Stunden Super-8-Aufnahmen, die uns der Bassist Nick St. Nicholas zur Verfügung gestellt hat, die wir für den Film aufwendig restaurieren konnten und die uns direkt ins verrückte Kalifornien der späten 1960er-Jahre zurück beamen, in der Steppenwolf mit The Doors, Creedence Clearwater Revival und Janis Joplin auftraten – und der Konsum von LSD allgegenwärtig war und noch nicht unter Strafe stand.

Schließlich ist es uns gelungen – und das war ein ganz besonderer Glücksmoment – die allererste Demo-Aufnahme von "Born to Be Wild" ausfindig zu machen. Ein akustischer, intensiver Rohdiamant und eine Aufnahme von pophistorischer Bedeutung, von der weder John Kay noch die übrigen Band-Mitglieder wussten, dass sie überhaupt noch existiert, und die in diesem Film erstmals für die Öffentlichkeit zu hören sein wird.

Für den deutschen Kinostart haben wir eine eigene deutsche Fassung hergestellt. Anders als in der internationalen, rein englischen Sprachfassung erzählt uns John Kay in dieser Fassung seine Kindheits-und Jugendjahre in Arnstadt und Hannover auf Deutsch. Dieses 50er-Jahre-Straßendeutsch zu hören, das sich John über die Jahrzehnte bewahrt hat, stellt eine große emotionale Nähe zu ihm her. Auch wird John, der in diesem April 80 Jahre alt geworden ist, im Film das erste Mal überhaupt in seiner Muttersprache einen Song singen, den so niemand von ihm erwartet hätte.“
Oliver Schwehm
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Donnerstag 27.06.2024
DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS
Ab 27. Juni 2024 im Kino
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Primzahlen sind Marguerites große Leidenschaft. Die brillante Mathematikstudentin ist die einzige Frau im Promotionsprogramm unter dem renommierten Professor Werner an der École Normale Supérieure in Paris. Doch als sie bei der Präsentation vor einem Forschergremium mit einem gravierenden Fehler in ihrer Arbeit konfrontiert wird und daraufhin die Fassung verliert, lässt ihr Doktorvater sie fallen und widmet sich ganz dem talentierten Promovenden Lucas. Tief erschüttert und voller Selbstzweifel wirft Marguerite alles hin und sucht sich einen Aushilfsjob. Schnell muss sie erkennen, dass auch das Leben außerhalb der Universität überraschende Erkenntnisse bereithält und sich weder die Mathematik noch Lucas so einfach aus ihrem Leben verbannen lassen.

Authentisch und einfühlsam spielt Ella Rumpf (RAW, FREUD, TIGER GIRL) eine hochbegabte junge Frau, die lernen muss, dass sich die großen mathematischen Rätsel nicht allein am Schreibtisch lösen lassen. Der sensible Film um die Schönheit von Zahlen und die vielen Variablen auf dem Weg zur Selbstbestimmung feierte Premiere im Rahmen der Special Screenings bei den Filmfestspielen von Cannes 2023.

Ein Film von ANNA NOVION
Mit ELLA RUMPF, JEAN-PIERRE DARROUSSIN, CLOTILDE COURAU, JULIEN FRISON u.a.



Interview mit ANNA NOVION

Die „Ecole Normale Supérieure“ (ENS) ist ein geschlossener Kosmos, der für Außenstehende geheimnisvoll erscheint. Warum haben Sie diese Umgebung als Ausgangspunkt für den Film gewählt?
Wenn ich einen Film beginne, gehe ich immer von einem Gefühl aus, das ich erlebt habe, das mich fasziniert und das ich erforschen möchte. Als ich etwa 20 Jahre alt war, wurde ich krank und musste sechs Monate lang in der Klinik bleiben. Nach meiner Genesung spürte ich eine Distanz zu den Menschen in meinem Alter, ich fühlte nicht mehr dieselbe Unbeschwertheit. Ich überlegte, wie ich der Welt und den anderen von dieser Distanz erzählen könnte. Ich dachte an die Grandes Ecoles, wo sich die Schüler manchmal von ihrer Außenwelt abschotten, sich auf ihr Studium fokussieren, und sehr schnell erschien mir das Umfeld der Mathematik als naheliegend. Die Welt der Mathematik – und im weiteren Sinne auch die „Ecole Normale Supérieure“, kurz ENS – wurde selten im Film dargestellt, und schon gar nicht mit einer Mathematikerin als Heldin. Ausschlaggebend war meine Begegnung mit Ariane Mézard, einer der wenigen großen französischen Mathematikerinnen. Zwischen uns entwickelte sich sofort eine Freundschaft, es war, als ob wir uns wiedererkannt hätten, was mich überwältigt hat.
Sie ist einfühlsam, direkt, ehrlich, offen für andere. Sie strahlt eine beeindruckende Stärke aus, in der viel Verletzlichkeit steckt, ein offensichtliches Selbstbewusstsein, das sich dennoch immer dafür zu entschuldigen scheint, dass es da ist. Sie war die erste, die mit mir auf künstlerische Weise über Mathematik sprach, indem sie Poesie, Fantasie und all das, was mich auch in meinem Beruf antreibt, nannte. Indem sie mir von ihrer Leidenschaft erzählte, erzählte sie mir auch von meiner.

Gilles Deleuze sagte sehr treffend, dass ein Wissenschaftler genauso viel erfindet und erschafft wie ein Künstler ...
Mit Mathieu Robin, meinem Co-Drehbuchautor, haben wir eine Figur geschrieben, die sich sehr stark an Ariane orientierte und gleichzeitig von mir erzählte. Regisseurin zu sein bedeutet, nie etwas loszulassen. Marguerite hat einen starken Willen, eine Form der Selbstverleugnung und eine
Leidenschaft, in der ich mich wiedererkenne. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Engagement und die Hartnäckigkeit, die unsere Berufe erfordern. Mathematiker können ihr ganzes Leben lang versuchen, ein Problem zu lösen, ohne dass sie sicher sind, dass es ihnen gelingt. Auch Filmemacher gehen das Risiko ein, dass ihr Projekt jederzeit scheitern kann. Es hat etwas von einem Glaubensakt. Mathematiker zu sein, ist wie der Eintritt in eine Religion. Im Film hat Marguerite eine sehr reine Beziehung zur Mathematik, eine Art Hingabe.

Werner ist nicht nur ein Mentor für Marguerite, sondern auch ein Bezugspunkt zu dieser „Religion“. Seiner Meinung nach sollte „die Mathematik frei von Gefühlen sein“.
In der Mathematik ist die Konkurrenz groß. Diejenigen, die in der Forschung tätig sind, wissen, dass sie zur Elite gehören. Das ist auch bei Werner der Fall. Er ist ein ehrgeiziger Mann, der das Gefühl hat, dass sein Talent nicht anerkannt wurde. Daraus hat er Ressentiments geschöpft. Er glaubt zwar immer noch an die Mathematik, aber die Frustration nagt an ihm. Werner ist eine Machtfigur, die Marguerite an der Selbstverwirklichung hindert. Seit ihrem Eintritt in die ENS sieht sie ihn als Beschützer und beschwört Gefühle herauf, wo er ihr Distanz auferlegt. Sie versucht, ihm zu gefallen, so wie eine Tochter von ihrem Vater geliebt werden möchte. Werner ist nicht in der Lage, diesen Platz einzunehmen, und es ist auch nicht seine Rolle. Marguerite fühlt sich an einem bestimmten Punkt von ihm betrogen. Ich urteile nicht: Marguerite ist nicht das Opfer und Werner nicht der Henker. Beide haben ihre eigene Wahrheit.

Das Thema der Abstammung nimmt in all Ihren Filmen einen zentralen Platz ein. Wie erklären Sie sich das?
Es hängt mit meiner persönlichen Geschichte zusammen, zweifellos mit der Beziehung, die ich zu meinem Vater habe. Es ist kein Zufall, dass meine Filme mit Figuren beginnen – die von Jean-Pierre Darroussin und hier die von Ella Rumpf verkörperten –, die in ihren Gewissheiten festgeschraubt sind und Angst haben, sich zu öffnen. Dann kommt es zu einem Ereignis, das sie zwingt, einen Schritt zur Seite zu machen, loszulassen und ihre Verletzlichkeit in eine Stärke zu verwandeln.
Ich möchte meine Figuren auf eine Entwicklungsreise mitnehmen, sie dabei beobachten, wie sie sich der Welt öffnen, erwachsen werden und sich von Autoritätspersonen lösen. In WIR SIND ALLE ERWACHSEN ist es eine Teenagerin (gespielt von Anaïs Demous?er), die sich während der Ferien auf einer kleinen schwedischen Insel von ihrem Vater emanzipiert. In RENDEZ-VOUS IN KIRUNA wird die Geschichte aus der Sicht des Vaters erzählt, wobei das Thema der Anerkennung im Vordergrund steht. In DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS ist es Marguerite, die die Erzählung anführt, sie ist es, die sich durch ihre Arbeit quält, um Werner zu beweisen, dass sie seinen Platz verdient. Und diese Überzeugung nährt seine Wut. Marguerite macht nach und nach deutlich, was sie von Werner erwartet: Anerkennung als vollwertige Mathematikerin. Sie ist nicht hier, um die
Quoten zu erfüllen!

Wie in jeder Coming-of-age-Geschichte begegnet Marguerite Menschen, hier den Figuren Noa und Lucas, die den Lauf ihres Lebens verändern und die sie auch selbst beeinflussen wird.
Noa und Lucas stehen mehr im Leben als Marguerite. Noa ist Tänzerin, sie drückt sich durch ihren Körper aus, sie hat daraus eine Kunst gemacht, während Marguerite sich nie um ihr Äußeres gekümmert hat. Noa stürmt wie ein kleiner Wirbelsturm in Marguerites Leben, aber sie haben Gemeinsamkeiten. Sie sind beide leidenscha?lich in ihrem Beruf, haben keine Vorurteile, sie sind überrascht über die Unterschiede der anderen, aber jede akzeptiert die andere so, wie sie ist. Marguerites Redefreiheit verblüfft Noa, Noas Freiheit als Frau inspiriert Marguerite. Lucas ist geselliger und weniger ernsthaft als Marguerite, er studiert mit dem Ziel, erfolgreich zu sein und eine gewisse Form von Ruhm zu erlangen. Es ist die Leidenschaft für Mathematik, die sie verbindet.
Marguerite hingegen erlaubt es sich nicht, von etwas anderem zu träumen, sie hat sogar das Gefühl, dass ihre Weiblichkeit ihr Talent abwerten könnte. An der ENS hat sie alles getan, um sich in die Masse einzufügen, d. h. Wie die männlichen Studierenden zu sein, die ihre Schwächen und ihre Sensibilität verbergen müssen. Lucas bemüht sich, Marguerite davon zu überzeugen, dass Gefühle zu haben sie nicht schwächen wird. Für Marguerite besteht das Problem darin, dass Gefühle von Natur aus irrational sind und sie sie nicht wie eine wissenschaftliche Argumentation beherrschen kann. Die beiden sind der perfekte Stoff für eine romantische Komödie und eine Komödie über das Zurückfinden zur Mathematik!

Eines von Marguerites ersten Erlebnissen nach dem Verlassen der Universität ist der Sex mit einem Fremden, dem sie zufällig begegnet. Wie sind Sie auf diese überraschende und witzige Szene gekommen?
Mathieu und ich haben uns einen Spaß daraus gemacht, die üblichen Verführungscodes umzukehren. Marguerite ist subversiv, ohne es zu wissen: Indem sie Yanis auf die Straße folgt, wird sie zu einer Art Raubtier, das ziemlich beängstigend ist! Sie geht auch Risiken ein, verspürt aber keine Angst. Das ist es, was Marguerite manchmal komisch macht: Sie sagt und tut Dinge, die sich niemand erlauben würde. In diesem Sinne habe ich auch die Szene mit Yanis geschnitten und gedreht. Wenn Sexszenen nichts anderes als Sex erzählen, finde ich sie peinlich. Das hat nichts mit Scham zu tun, sondern ist eine Frage der erzählerischen Relevanz. Die Szene im Film erzählt, wie Marguerite ihren Lustgewinn sucht, ohne auf ihren Partner Rücksicht zu nehmen. Er schaut sie ziemlich fasziniert an und fragt sich, wer diese entschlossene Frau über ihm ist!

Dann stolpert Marguerite in eine andere, ebenso unerwartete Welt: die der Mahjong-Partien!
Und ich bin genauso wenig eine Mahjong-Spielerin wie eine Mathematikerin! Mathieu und ich haben viel darüber nachgedacht, was einer der Dreh- und Angelpunkte des Films ist: Wie würde Marguerite, nachdem sie die ENS verlassen hat, ihre Leidenschaft wieder aufnehmen? Wir stellten fest, dass die großen Mahjong-Spieler oft Mathematiker sind: Es ist ein Spiel, bei dem man außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten braucht, um sich durchzusetzen. Das war ideal für Marguerite. Mir gefiel die Idee, sie wieder in eine reine Männerwelt zu versetzen, in der die Teilnehmer von vornherein der Meinung sind, dass sie keinen Platz hat, dass sie es den Männern nicht gleichtun kann.

Marguerites beharrliche Weigerung zu verlieren, sowohl im Spiel als auch in ihrer Forschung, führt sie an den Rand des Abgrunds. Ist dies eine Form, den Wahnsinn anzudeuten, der Genies droht?
Ich wollte diesen Schwindel für die Zuschauer spürbar machen, zeigen, dass Marguerite aus Stolz vom Weg abkommen und sich schließlich selbst verlieren könnte.
Jeder Mathematiker hat eine Geschichte über einen Kollegen zu erzählen, der verrückt geworden ist, schizophren, nie über einen Fehler hinweggekommen ist oder sich umgebracht hat. Dieser Bereich ist so arbeitsintensiv, dass das Gehirn implodieren kann. Menschen mit einer außergewöhnlichen Geistesgeschwindigkeit wollen ständig auf der Höhe ihrer Fähigkeiten sein; das ist ein andauerndes Hochgefühl und viel Druck. Man kann auch einen Vergleich zu dem ziehen, was Spitzensportler durchmachen.

Wie fiel Ihre Wahl auf Ella Rumpf, die durch RAW bekannt wurde und unter anderem in der TV-Serie „Tokyo Vice“ zu sehen war?
Es gab mit ihr kein Vorsprechen für die Rolle. Als wir uns trafen, haben wir uns viel unterhalten, ich habe sie beobachtet und wusste, dass sie es ist. Ich spürte, dass es eine faszinierende Verbindung zwischen Ella und der Figur geben könnte, und dass daraus eine spannende Marguerite entstehen würde. Ella strahlte eine Intensität und eine Fähigkeit zur Hingabe aus, die ich filmen wollte.
Wir haben uns überlegt, welches komödiantische Niveau wir mit dieser Figur erreichen wollten. Marguerite ist ein bisschen kauzig, aber sie ist auch keine Außerirdische, und wir mussten vermeiden, ins Groteske oder Karikierende abzugleiten. Vier Monate lang haben wir alle Szenen
geprobt und wiederholt, um das richtige Maß zu finden.
Zum Beispiel gibt Marguerite zu Beginn des Films ein Interview. Als sie nach ihren Hobbys gefragt wird, antwortet sie: „Ich spiele Yahtzee mit meiner Mutter“. Ihre Ernsthaftigkeit macht sie komisch. Neben der Arbeit mit Ariane Mézard, die sie in die Welt der Mathematik, ihrer Philosophie und ihrer Kalligrafie eintauchen ließ, war Ella auch körperlich involviert. Ich hatte große Lust, Marguerites Gang zu filmen. Sie ist gleichzeitig unbeholfen, ein wenig burschikos, und kommt doch direkt zum Punkt. Es ist ihr völlig gleichgültig, was andere Leute denken, und das liebe
ich an ihr. Wir leben alle in einer Welt, in der sich die Menschen gegenseitig unter die Lupe nehmen, in den sozialen Medien werden wir ständig beurteilt. Jemanden zu zeigen, der sich dieser täglichen Tyrannei entzieht, ist Teil meines Diskurses über unsere Gesellschaft.

Auch wenn Marguerite unkonven?onell ist, ist sie eine Frau von heute.
Und sie ist eine starke Frau mit einem hohen intellektuellen Niveau. Sie ist ein Vorbild in dem Sinne, dass sie eine hartnäckige und ausdauernde Kämpferin ist – noch dazu in einem sehr männlich dominierten Umfeld. Es ist schwierig, sich einen Platz zu erobern, wenn man ständig auf sein Geschlecht reduziert wird; dieser Druck treibt sie an, die Beste zu sein. Ich habe das in meinem Beruf am eigenen Leib erfahren, vor allem als ich bei Episoden von „Büro der Legenden“ Regie führte. Wenn man die einzige Frau ist, die diesen Job macht, muss man beweisen, dass man ihn
verdient hat, weil man eine Ausnahme ist, eine Anomalie. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Film so viel von mir selbst erzähle. Er ist nicht autobiografisch, sondern zutiefst persönlich, in meiner Beziehung zur Welt und zur Arbeit.
Am Set nannte man mich ständig Marguerite und Ella, Anna! Man muss eine Kriegerin sein, um in diesem Beruf Erfolg zu haben. Die Wut von Marguerite trage auch ich in mir, angesichts von Dingen im Leben, die man als ungerecht empfindet. Marguerite ist eine kleine Soldatin, die keine Befehle befolgen will, die erwachsen wird und große Macht erlangt. Ich hoffe, dass der Film durch sie Frauen dazu inspiriert, für ihre Leidenschaft zu kämpfen.

Jean-Pierre Darroussins Darstellung von Werners Unnachgiebigkeit und Härte ist beeindruckend, und dies ist ein ungewöhnliches Register für ihn.
Große Schauspieler müssen in der Lage sein, alle Register zu ziehen. Aber das französische Kino neigt manchmal dazu, sie auf die Rollen zu beschränken, die ihren Erfolg ausgemacht haben: Für Jean-Pierre sind es die sympathischen Charaktere, die voller Menschlichkeit sind, die eine sofortige Empathie hervorrufen. Ihn eine Rauheit, mehr Härte spielen zu lassen, macht seine Menschlichkeit noch trüber und lässt eine Ambivalenz entstehen, die spannend zu filmen ist. Werner hätte ein unsympathischer, toxischer Charakter sein können. Jean-Pierre verlieh ihm eine liebenswertere, zweideutige und kontrastreiche Dimension. Jean-Pierre hat viele Versionen des Drehbuchs gelesen, er hat die Figur wachsen sehen, er kennt Werner schon lange! Nach diesem langen Lernprozess hat er viel mit Ella geprobt, um ihre Dynamik zu finden. Bei den Dreharbeiten angekommen, war es wie eine Selbstverständlichkeit: Jean-Pierre hatte erfasst, was Werner sein sollte. Jemand, der keine Zeit zu verlieren hat. Auch mit Gefühlen.

Warum war es so wichtig, Ihre Inszenierung auf Marguerites Weg abzustimmen?
Meine früheren Filme waren impressionistisch, die Gefühle tauchten langsam auf, man musste sie mit kleinen Pinselstrichen und langen Einstellungen begleiten. Marguerite ist roher, direkter, was mich dazu veranlasst hat, bei der Regie den Expressionismus zu bevorzugen. Wir gehen von der ENS aus, die monochrom und still ist. Die Rahmen sind geometrisch, wie die Ordnung, die in der Einrichtung herrscht. Danach dringen Unordnung und Irrationalität in das Leben von Marguerite ein. Es gibt mehr Farben, mehr Aufnahmen mit der Schulterkamera, mehr Bewegungen, die Kamera wird leichter. Die Mathematiker sprechen auch von Spaß und Experimentierfreude. Ihr Vergnügen besteht darin, ihre Zeit dem Lösen von Rätseln zu widmen. Es ist ein Teil der Kindheit, den ich dem Film einprägen wollte. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst in Richtung eines spielerischen Kinos gehe. Meine Inspiration habe ich aus einem bestimmten amerikanischen Kino geschöpft, das die Freude des Zuschauers berücksichtigt und dafür sorgt, dass er nicht frustriert wird. Wenn ich die Filme von Paul Thomas Anderson, den Coen-Brüdern oder Tarantino sehe, ist ihre Schadenfreude spürbar. Meine Referenzen für die Darstellung der Marguerite waren ebenfalls amerikanisch: Elle Fanning, Emma Stone, Saoirse Ronan. In Europa wird eher ein naturalistischer Schauspielstil bevorzugt, es wird nach knallhartem Realismus gestrebt, bis zu dem Punkt, an dem man das Verspielte in der Interpretation auslöscht. Ich habe mich für eine Inszenierung entschieden, die ständig in Bewegung ist, wie das Gehirn von Marguerite, das konstant in Aufruhr ist. Der Film kanalisiert so die mentale Energie der Figur.

Es gelingt Ihnen sogar, die Mathematik filmisch darzustellen!
Das war eine der anderen Herausforderungen bei der Umsetzung. Wie kann man die Mathematik, die niemand versteht, organisch darstellen? Ich musste die Leidenschaft und das Engagement von Marguerite und Lucas übernehmen. Beide arbeiten sehr hart. Dies nicht zu zeigen, wäre ein Mangel an Respekt und Wahrheit gegenüber den Mathematikern gewesen. Wenn sie die Wände im Wohnzimmer schwarz anstreichen, um Gleichungen darauf zu schreiben, wollte ich, dass man den Eindruck hat, sie würden die Sixtinische Kapelle neu streichen! Diese Schriften sind wie Hieroglyphen, sie sind faszinierend anzusehen, es liegt Schönheit in dieser Abstraktion. Die Gleichungen, die man im Film sieht, sind alle authentisch, Ariane Mézard hat sich dafür eingesetzt.
Die Goldbachsche Vermutung, die Marguerite beweisen will, ist ein Problem, das noch nicht gelöst wurde. Und das Verrückte daran ist, dass Ariane im Vorfeld der Dreharbeiten echte Fortschritte zu diesem Thema gemacht hat. Mathematiker, die in der Zukunft Goldbach beweisen wollen, können den Film sehen und darin Schlüsselelemente finden!


Die Energie von Marguerite, die Sie gerade erwähnt haben, wird von der gefühlvollen Musik widergespiegelt. Wie hat Pascal Bideau sie komponiert?
Wir arbeiten seit WIR SIND ALLE ERWACHSEN zusammen. Pascal war von einer mathematischen, zerebralen Musik ausgegangen, die wie Philip Glass klingen sollte, aber wir stellten fest, dass das nichts zum Bild beitrug. Ich hatte ständig „L'enfer“ im Kopf, das Lied von Stromae, in dem er seine Selbstmordgedanken thematisiert. Mir wurde klar, dass es die bulgarischen Chöre am Anfang des Liedes waren, die mich berührten. Das war wie eine Initialzündung für Pascal und mich: Wir brauchten eine lyrische, romanhafte Musik, die Marguerites Seelenreichtum, ihre „hautnahe“ Seite, die sie zu verbergen versucht, zum Ausdruck bringt.
Die von Pascal komponierte Musik trägt dazu bei, der Erzählung Romantik zu verleihen, und vervollständigt das Verständnis der Figur.
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Mittwoch 19.06.2024
IVO
Ab 20. Juni 2024 im Kino
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Ivo arbeitet als ambulante Palliativpflegerin. Täglich fährt sie in unterschiedliche Haushalte. Zu Familien, Eheleuten und Alleinstehenden. In kleine Wohnungen und große Häuser. In immer verschiedenes Leben und Sterben, in immer verschiedenen Umgang mit der Zeit, die bleibt. Zuhause haben sich ihre pubertierende Tochter und ihr Hund wegen Ivos Arbeitszeiten längst selbstständig gemacht.
Von früh bis spät ist Ivo in ihrem alten Skoda unter- wegs, die Freisprechanlage stets in Betrieb. Das Auto ist ihr zum persönlichen Lebensraum geworden, hier nimmt sie ihre Mahlzeiten zu sich, arbeitet, singt, flucht und träumt.

Ein Film von Eva Trobisch
Mit Minna Wündrich, Pia Hierzegger, Lukas Turtur, Lilli Lacher, Pierre Siegenthaler u.a.



PRESSESTIMMEN

Minna Wündrich ist eine Offenbarung in diesem Film... Jeder Film, der sich mit dem Tod befasst, wird polarisieren, vor allem, wenn er so umstrittene Themen wie Sterbehilfe anspricht. „Ivo“ stellt sich dieser Herausforderung: Ein außerordentlich komplexer und berührender Film, schön, eindringlich, wahrhaftig, herzzerreißend und herausfordernd.
ICS FILM

Ein entwaffnend wahrhaftiger Film... Eva Trobisch ist unbestreitbar eine wichtige neue Stimme im deutschen Kino.
VARIETY

Wie navigiert man den dünnen Raum zwischen privat und professionell? Zwischen Leben und Tod? „Ivo“ erkundet diese Fragen mit einer intelligenten und präzisen Mise-en-scène und beschreibt nuanciert die vielfältigen sozialen Realitäten einer ganzen Gesellschaft im Wartezustand. So entsteht eine Welt, in der keiner Angst vor dem Tod hat, aber alle fürchten das Leben.
JURYBEGRÜNDUNG FILM FESTIVAL BOZEN – BESTER FILM

Ein herausragender, fesselnder Film in der Grauzone zwischen Ohnmacht und Allmacht.
TÉLÉRAMA

Ohne jeden Sensationalismus stellt Eva Trobisch eine einfache, aber tiefgehende Frage: Wer kümmert sich um die, die sich kümmern? Ivos emotionale Gratwanderung wird von Kameramann Adrian Campean in fesselnden visuellen Metaphern und ruhigen, kraftvoll aufgeladenen Bilder
unterstrichen, die das vitale Spektrum zwischen Leben und Tod, in dem sich Ivo bewegt, spürbar machen. „Ivo“ ist eine eindringliche Erinnerung an den Mut, den die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit verlangt.
GAZETTELY

Eva Trobisch wählt ein anderes Tempo als in ihrem Debüt „Alles ist gut“, um den inneren Kampf ihrer Heldin zu chronifizieren: das der Ausdauer. Das kluge Szenario leistet sich dabei von Anfang an einen merkwürdigen kleinen Stein im Schuh: Ist es die Art und Weise, wie Ivo durch die Macht der Gewohnheit dazu gezwungen wird, Distanz zum Schmerz anderer zu zeigen? Ist es diese Art, alltägliche Tragödien und kleine, heimliche Freuden auf eine Ebene zu stellen?
Wenn Ivo heimlich mit dem Ehemann ihrer todkranken Freundin und Patientin schläft: Ist sie dann ein zynisches Monster oder ist es – einfach nur das Leben?
LE POLYESTER, FRANCE

Minna Wündrich ist das Herz des Films, sie verleiht ihrer Figur eine Aura der Offenheit, indem sie nach und nach die verschiedenen Schichten von Ivos Abwehrhaltung abträgt. Mit diesem herausragenden Film gelingt es Eva Trobisch auf souveräne Weise, sich mit Ambivalenzen zu
beschäftigen. Am stärksten ist der Film da, wo er Widersprüche als unüberbrückbar anerkennt, auf eine ruhige, akzeptierende Art und Weise, als eine weitere Kuriosität, die das Leben mit sich bringt.
CINEUROPA

„Ivo“ wagt es, dem Sterben seine Sensation und Plötzlichkeit, das Besondere zu rauben, nach dem viele Filme so hitzig suchen. Ein dicht erzähltes Drama, das immer wieder nach winzigen Brüchen sucht, die Minna Wündrich mit ihrem kontrollierten, feinfühligen Spiel auf packende Weise nach außen projiziert.
KINOZEIT


PRODUKTIONSNOTIZEN VON EVA TROBISCH

Dieser Film ist mir passiert. Am Anfang von „Ivo“ stand ein Zufall. Ich hatte die Anfrage, einen Pitch für eine Polizeiruf-Folge zu schreiben, und hielt Ausschau nach ambivalenten Kriminalfällen. Verbrechen, die mich interessieren, weil sie einer Eindeutigkeit entbehren. Das Böse, das Falsche interessiert mich erzählerisch nicht. Es ist abgeschlossen und damit schnell langweilig. So bin ich, unter anderem, auf den „Todesengel der Charité“ gestoßen, eine Krankenschwester, die etliche schwerkranke Menschen durch Verabreichung von Medikamenten tötete – in ihrer Wahrnehmung war das eine Hilfe, ein Erlösen. Nach dem Gesetz wurde sie als Serienmörderin verurteilt. Über diese Recherche bin ich zur ambulanten Palliativpflege gekommen, wobei mir schnell klar wurde, dass ich daraus keinen Krimistoff machen wollte. Denn die Arbeitswelt der Palliativmedizin, die mir völlig neu war, faszinierte mich – der Ton, die Direktheit, der respektvolle Umgang, diese Form der Selbstverständlichkeit und Inklusion von Leben und Sterben. Ich merkte, dass ich eigentlich keine Ahnung davon hatte, keine Sprache und keinen Umgang mit dem Tod. Das beschämte mich
und das wollte ich ändern.

Ich recherchierte über einige Monate in diesem Bereich und erlebte viel, das mich aufgewühlt und berührt hat und für immer begleiten wird. Es gab Momente, in denen ich die Angst vorm Sterben verloren habe, weil die Palliativmedizin stereotype Bilder vom würdelosen Dahinsiechen teils mit alternativen, schmerzfreien und friedlichen Prozessen zu überschreiben weiß. Ich erlebte tragische Situationen, aber eben auch viel Humor, viel Wärme, viel Absurdes, viel Alltag. Der Blick auf mein Leben veränderte sich, setzte Dinge ins Verhältnis, stieß grundsätzliche Fragen an. Neben der Scham darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit ich Gesundheit voraussetze, die eigene wie die der anderen, wuchs die Demut gegenüber ebendieser. Allerdings gab es auch Momente, die mich völlig überforderten. Große Verzweiflung. Erschreckende Momente, jämmerliche und garstige.
Momente, in denen ich dem Tod gegenüber nichts als Verachtung und kalten Hass empfunden habe. Was für ein mieses Arschloch kann Krankheit sein!

Ich hatte viele Fragen und Unsicherheiten im Umgang mit diesem, dem letzten, Lebensabschnitt, und deshalb wollte ich mich, ohne Anspruch auf Antworten, weiter damit auseinandersetzten. In einem kleinen, eingespielten Team, bestehend aus einer Handvoll Mitstreitern und Freunden. Menschen, denen ich vertraue und deren Haltung und Meinung ich schätze. Allen voran war das mein langjähriger Freund und Kameramann Adrian Campean.
Adrians Vater Johann Campean ist Palliativarzt im Ruhrgebiet und hat zusammen mit einigen Kollegen einen Verbund von Einrichtungen der „Spezialisierten Ambulanten Palliativen Versorgung“ (SAPV) gegründet und mehrere Hospize mit aufgebaut. Er war unser medizinischer, lebensweltlicher und ethischer Berater und in seiner unaufgeregt großherzigen Art eine wichtige und inspirierende Persönlichkeit auf dem Weg dieses Projektes. Wir besuchten ihn oft und sprachen viel miteinander, er las jede Fassung, beriet und verbesserte. Im Film tritt Johann als der, der er ist, in Erscheinung, als Ivos Chef.

Bei allem Anspruch auf Realismus in der Darstellung der Arbeitswelt ist Ivo eine eigenständige Figur in einer fiktionalen Konstellation. Ihr Privatleben ist frei erfunden: Die selbstständige Tochter, mit der sie aufgrund ihrer langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten, eher in einer Art WG lebt. Ihre Lust am Rausch und am Kontrollverlust, die im klaren Gegensatz zur ihrer beruflichen Rolle steht, bei der sie so häufig souveräne Führung in Extremsituationen übernehmen muss. Zudem ist sie stark involviert in eine sehr besondere Patientenbeziehung. Auch diese ist fiktional. Obwohl solche Verhältnisse, laut der Teams, mit denen ich gesprochen habe, keineswegs unüblich sind. Durch die unbekannte und intime Lebenssituation kommt man sich schnell sehr nah, viel Contenance gibt es nicht zu wahren, es entstehen oft enge Verbindungen, Freundschaften und starke Gefühle.

Ich habe eine Figurenkonstellation entwickelt, die ich aus meinem eigenen Umfeld kannte. Die Geschichte einer Affäre, bei der eine der Liebenden, parallel zur rauschhaften Begegnung, mit der schweren Krankheit ihres Ehepartners belastet war. Das heimliche Verhältnis nährte sie für die Mühseligkeit des Alltags, gab Leichtigkeit und Kraft, um das Unglück zu ertragen, einen geliebten Menschen zu verlieren. Es setzte dem Ableben das Leben entgegen. In dem Moment aber, als der Kranke starb, starb auch die Affäre. Für uns alle war das eine Überraschung, nicht ganz einleuchtend – jetzt, wo der Weg doch frei gewesen wäre. Ein Freund, der Teil dieser Geschichte war, schlussfolgerte: Manchmal sind die Toten mächtiger als die Lebenden. Diese Umwege von Loyalität und Treue fand ich anrührend und interessant. Und die Geschichte in ihrer irrationalen Logik höchst menschlich und erzählenswert.
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Donnerstag 13.06.2024
SLEEP WITH YOUR EYES OPEN
Ab 13. Juni 2024 im Kino
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Eine Küstenmetropole in Brasilien. Kai landet mit gebrochenem Herzen aus Taiwan, um Ferien zu machen. Eine kaputte Klimaanlage führt sie in das Regenschirmgeschäft von Fu Ang. Er könnte ein Freund werden, doch die Regenzeit bleibt aus und sein Geschäft verschwindet. Auf der Suche nach Fu Ang entdeckt Kai die Geschichte von Xiaoxin und einer Gruppe chinesischer Arbeiter in einem noblen Wolkenkratzer. Importprodukte made in China treffen auf Probleme mit den reichen, weißen Nachbarn. In Xiaoxins Erzählung findet Kai sich merkwürdig gespiegelt.
Hauptfiguren kommen und gehen unverhofft in dieser leisen Komödie der Missverständnisse, dargestellt durch Laien und Schauspieler:innen. Von einer fremden Stadt in die nächste folgen sie mehr den Notwendigkeiten der Arbeit als einer klassischen Dramaturgie. Aber im Laufe eines heißen, langsamen Sommers wachsen zarte Bindungen zwischen ihnen wie Inseln in einem Meer voller Haie.

EIN FILM VON NELE WOHLATZ
Mit Chen Xiao Xin ( Xiao Xin), Wang Shin-Hong (Fu Ang), Liao Kai Ro (Kai), Nahuel Pérez Biscayart (Leo), Lu Yang Zong (Yang Zong) u.a.

DIRECTOR’S NOTE
Meinen ersten Spielfilm habe ich mit chinesischen Laiendarsteller:innen in Buenos Aires gedreht, ausschließlich an Wochenenden, denn unter der Woche arbeiteten alle in chinesischen Supermärkten und Importgeschäften. Oft fehlte am nächsten Wochenende jemand, war in eine andere Stadt oder ein anderes Land gezogen oder zurück nach China. Eine Darstellerin sagte zu mir: Ich könnte jetzt überall hingehen und mich anpassen, wenn es sein muss. Aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.
Zu diesem Zeitpunkt lebte ich selbst seit vielen Jahren als Ausländerin in Argentinien. Aus verschiedenen Gründen war auch mir das Gefühl für ein Zuhause abhandengekommen. Zu wem, zu was gehört man? Mit DORMIR DE OLHOS ABERTOS wollte ich einen Film machen, der in jeder Stadt der Welt spielen könnte, mit Darsteller:innen, die überall hingehen würden und nirgends dazugehören. Wie sähe ein Film aus, der das unstete Dasein und die flüchtigen Beziehungen der Figuren zu seinen Prinzipien erklärt, gegen die Regeln der klassischen Dramaturgie? Was wären das für Gemeinsamkeiten, mit denen wir arbeiten, wenn wir alle einander fremd sind?
Im Film beschreibt Xiaoxin, was um sie herum geschieht. Sie gibt den Dingen Namen und abstrakten Gefühlen Ausdruck. Kai wird zu ihrer Leserin. Ohne sich je zu begegnen, sind sie füreinander da.
Für mich sind Filme Orte, an die wir immer zurückkehren können. Wir können sie bewohnen und in ihnen ein Zuhause finden.

BIOGRAFIE NELE WOHLATZ
Die Filmemacherin Nele Wohlatz (1982, Deutschland) studierte Szenografie und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und Film an der Universität Torcuato Di Tella in Buenos Aires, wo sie 12 Jahre lang lebte. In ihren Filmen erforscht sie das Verhältnis von Sprache und Filmsprache sowie die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Ihre Arbeiten wurden auf Festivals wie Locarno, Rotterdam, Viennale, Mar del Plata und in Institutionen wie dem New Yorker Lincoln Center und dem MoMA gezeigt. Ihr Spielfilmdebüt EL FUTURO PERFECTO wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Leoparden für das beste Debüt in Locarno, und wurde zu mehr als 70 internationalen Filmfestivals eingeladen.


INTERVIEW MIT NELE WOHLATZ

Was hat diesen Film und seinen Entstehungsprozess inspiriert?
Mein vorheriger Film EL FUTURO PERFECTO behandelt spielerisch Fragen von Sprache und Identität nach der Migration. Es ist ein optimistischer Film. Eine Weile nachdem wir den Film fertig gestellt hatten, sagte mir Xiaobin Zhang, die Hauptdarstellerin: “Jetzt bin ich hier in Buenos Aires, es geht mir gut. Ich glaube, ich könnte überall hingehen und mich anpassen, aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.”
Ich lebte damals selbst mehr als zehn Jahre in Argentinien. Zehn Jahre sind lang genug, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Land, aus dem man kommt, zu verlieren. Aber auch, um zu erkennen, dass man nie zu einem un- sichtbaren Teil der neuen Gesellschaft werden wird.
Aus diesem Erleben entstand der Wunsch einen Film zu machen, der überall auf der Welt spielen könnte, mit Menschen, die irgendwo anders hingehen könnten und nirgends dazu gehören.
Auf einem Filmfestival erzählte mir der brasilianische Regisseur Kleber Mendoça Filho von den sogenannten „Zwillingstürmen“, einem illegal errichteten Luxus-Wohnkomplex in seiner Heimatstadt Recife. Zwischen den ‚rechtmäßigen‘ brasilianischen Bewohner:innen und den ‚neuen‘ chinesischen Bewohner:innen, die in der sozialen Ordnung nicht vorgesehen waren, kam es zu rassistisch konnotierten Konflikten. Die „Zwillingstürme“ schienen ein absurder urbaner Mythos. Sie versprachen den Hintergrund, nach dem ich gesucht hatte.
Xiaobin reiste zweimal mit mir nach Recife. So hat alles angefangen: zwei Ausländerinnen, die sich in ihrer Wahlheimat Buenos Aires nicht mehr wohl fühlen, interviewen die chinesische Community von Recife zu ihrem Leben zwischen Alltag und Fremdheit.

Welche Bedeutung hat der Titel des Films?
Ich war überrascht, wie informell das Wissen weitergegeben wird, das man braucht, um ein Geschäft für chinesische Importartikel zu führen. Die Menschen ziehen auf die andere Seite der Erdkugel, ohne Sprachkenntnisse oder Ausbildung. Verwandte oder Bekannte unterstützen sie, um mit einem Touristenvisum nach Brasilien zu reisen, bringen sie bei sich unter und lassen sie zunächst unbezahlt für sich arbeiten. Dabei lernen sie das Notwendigste und eröffnen so bald wie möglich ihr eigenes Geschäft. Es ist ein komplexes System wechselseitiger Abhängigkeiten, das von außen manchmal als Ausbeutung missgedeutet wird.
Das Wissen und die Regeln stehen nirgends geschrieben. Und Fu Ang schwirrt der Kopf von diesem ungeschriebenen ‚Manual for Chinese Immigrants‘. Eine Regel darin könnte lauten: Sleep with Your Eyes Open. Schlaf nicht ein, zumindest nicht tief.
Solche Ideen kamen aus den Gesprächen in der Recherche. Die Besitzerin des Stoffblumenladens, in dem wir gedreht haben, plagten nachts Heimweh, die Sorge um das Geschäft und um die Familie in China, die von ihr abhängt.
Wir sehen auch Xiaoxin und Kai nachts wachliegen. Schlaflosigkeit ist ein seltsamer Zustand, in dem Traum, Alptraum und Wachheit ineinander übergehen und der sich wie ein Schleier um alles Erlebte wickelt.

Können Sie Einblick in das gesellschaftliche Gefüge der Küstenstadt in Brasilien geben, vor deren Hintergrund der Film spielt?
Das Hochhaus, in dem Xiaoxin und die anderen leben, spielt auf die „Zwillingstürme“ von Recife an. Sie stehen sinnbildlich für eine Stadtplanung, die den öffentlichen Raum vernachlässigt und sich den Bedürfnissen der Reichen anpasst. Die Türme stehen am Rand der Altstadt, am Meer, und kehren der Stadt den Rücken zu. Natürlich gibt es städtebauliche Bestimmungen, die es verbieten, hier 37 Stockwerke hoch zu bauen - zumal auf öffentlichem Grund. Korruption ermöglicht es, trotzdem zu bauen. Politiker:innen und Richter:innen werden bezahlt - teils mit Wohnungen in den Türmen - und was erst einmal steht, wird nicht abgerissen.
Es gibt Swimmingpools und Gyms und Partyräume und mit dem Auto fährt man aus der Tiefgarage in andere private Türme, Shopping Malls oder zu Privatstränden. Die einzigen Personen, die die Türme zu Fuß betreten, sind die Bediensteten und die chinesischen Bewohner:innen, die auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße in der Altstadt arbeiten.
Um die 2000er, während die „Zwillingstürme“ geplant werden, kommen vermehrt chinesische Einwander:innen nach Recife. Viele haben zuvor in Argentinien gelebt, bis dort die Wirtschaft zusammenbrach. Sie beginnen als informelle Händler:innen und verkaufen billige Importwaren wie gefälschte Designer-Handtaschen. Einige werden als Importeur:innen reich und kaufen Wohnungen in den „Zwillingstürmen“, die praktischerweise nahe am Arbeitsplatz liegen.
Die Wohnungen im Turm sind riesengroß. Reiche brasilianische Familien haben üblicherweise Bedienstete bei sich wohnen. Die Chines:innen nutzen den Platz, um Neuankömmlinge bei sich unterzubringen, häufig Menschen vom Land oder aus der Arbeiterschicht. Diese Konstellation sorgt für Stress mit den brasilianischen Bewohner:innen, die nicht wissen, wer arm und wer reich ist,
die keine Geduld für kulturelle Missverständnisse haben und Fahrstühle und Gemeinschaftsräume nicht mit Migrant:innen teilen wollen. Sie beschweren sich über Küchengerüche und ihre Mitbewohner:innen im Swimming Pool. Die Chines:innen bringen die Ordnung der Dinge durcheinander, die klare Abgrenzung gegen Arme. Obwohl sie keine politische Motivation haben, bilden sie eine Art subversive Kraft in den Türmen.

Wie ist die Erzählung aufgebaut, insbesondere das Portrait zweier chinesischer Frauen, die sich nie wirklich begegnen, deren Wege sich aber auf unerwartete Weise kreuzen?
Der Film spielt in Brasilien, aber er nimmt eine ausländische Perspektive ein. Die Hauptfiguren sind alle fremd in der Stadt. Kai ist eine Touristin, eine Besucherin, sie spiegelt auch meine Perspektive.
Kai findet die Postkarten mit Xiaoxins Notizen, daraufhin tauchen wir in deren Geschichte. Aber nach zwei Dritteln, wenn der letzte Akt beginnen müsste, verschwindet Xiaoxin aus der Stadt und aus dem Film, entgegen den traditionellen Regeln der Dramaturgie. Ein klassischer Held kehrt am Ende geläutert an den Ausgangspunkt zurück. Aber bei meiner Arbeit mit chinesischen Migrant:innen habe ich eine andere Art der Reise beobachtet. Die Menschen zogen oft sehr plötzlich um: in eine andere Stadt, ein anderes Land oder zurück nach China.
Wir konstruieren Geschichten, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben. Dafür will ich auch die Muster und Dramaturgien hinterfragen, mit denen wir gelernt haben, unsere Erzählungen zu strukturieren. Die Heldenreise basiert auf einer Perspektive, die nicht die meine ist. Mich interessieren die multiplen Gründe für Migration, andere Formen der Familie, des Zusammenlebens, der Zugehörigkeit.
Nachdem Xiaoxin verschwindet, bleibt ihre Stimme und überlagert sich mit Kais Erlebnissen. Die Person, die schreibt und die Person, die liest, brauchen einander. Indem sie die Dinge benennen, durch das Geschichtenerzählen selbst, schaffen sie einen Raum der Zugehörigkeit.

Können Sie über Ihre Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit Schauspieler:innen aus verschiedenen Kulturkreisen in diesem Film sprechen?
Ohne die Erfahrung, die ich mit Xiaobin in meinem ersten Film EL FUTURO PERFECTO gemacht habe, hätte ich mich nie an diese Arbeit gewagt. Damals war es nicht meine Intention, die chinesische Community von Buenos Aires zu erkunden oder Xiaobins Herkunft. Doch mit Xiaobin als Übersetzerin passierte beides. Sie hat nicht nur die Sprache übersetzt, sondern mir auch ein emotionales Verständnis für ihren Hintergrund ermöglicht.
Es braucht Vertrauen und gegenseitiges Wohlwollen, um die immer neuen Missverständnisse zu klären und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Während der Proben haben die Darsteller:innen die Dialoge und Übersetzungen diskutiert und sich dadurch angeeignet. Sie haben mich auf Unstimmigkeiten in Details der chinesischen oder brasilianischen Kultur hingewiesen. Einige der chinesischen Darsteller:innen musste ich anfangs dazu auffordern.
Ich habe ihnen versichert, dass es nicht unhöflich, sondern im Gegenteil unverzichtbar ist, dass sie mich verbessern.
Natürlich blieben Fragen offen. Ich war es nicht gewohnt, so sehr die Kontrolle abzugeben, so vielen Stimmen gleichzeitig zuzuhören. Aber das interessiert mich: nicht aus einer einzigen Perspektive zu arbeiten, sondern dass der Text in Gemeinschaft wächst.
Gleichzeitig waren die vielen Sprachen die größte Herausforderung. Wir mussten unser eigenes Übersetzungssystem entwickeln. Ich komme auf Portugiesisch zurecht, aber Mandarin verstehe ich nicht. Ich habe es nicht ernsthaft versucht zu lernen. Es interessiert mich mehr, mit dem zu arbeiten, was entsteht, wenn wir nicht meinen, einander zu verstehen. Wieso sollten wir nicht an die Grenzen der Verständigung gehen und ihre Möglichkeiten ausdehnen?

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit erfahrenen Schauspielern wie Nahuel Pérez Biscayart und Wang Shin-Hong?
In Dormir de olhos abertos haben wir erfahrene Schauspieler:innen und Menschen, die noch nie mit Film zu tun hatten, zusammengebracht. Es lief ganz organisch. Shin-Hong und Nahuel bringen beide eine Sensibilität für diese hybride Art der Arbeit mit. Shin-Hong produziert zum Beispiel auch Dokumentarfilme in seinem Herkunftsland Myanmar. Sie sind dazu bereit, ihr Spiel dem der Laien-Darsteller:innen anzupassen.
Sie sind ein bisschen wie Geheimagenten vor der Kamera, die dabei helfen, kompliziertere Szenen am Laufen zu halten. Nahuel hat eine große Sensibilität für Rhythmus und Komposition. In einem Bild mit vielen verschiedenen Menschen sorgt er ganz beiläufig dafür, dass alles in stetiger Bewegung bleibt, ohne im Chaos zu enden.

Was hat es mit der Präsenz von Hochhäusern und Aufzügen in dem Film auf sich?
In der Stadtsoziologie sind mit ‚Nicht-Orten‘ Infrastrukturen gemeint, die überall auf der Welt gleich aussehen und eine Identität oder Geschichtlichkeit negieren. Oft haben sie eine transitorische Funktion: Flughäfen, Shopping Malls, Stadt-Autobahnen, Überführungen. In Recife sind mir ein Hochhaus-Typ aufgefallen, der überall auf der Welt stehen könnte. Auch er negiert den lokalen Kontext.
Ich finde die Symbiose reizvoll, die Filme mit ‚Nicht-Orten‘ eingehen: Filme belegen noch die kältesten Orte mit Eigenartigkeit, indem sie von dem Leben und den Gefühlen zeugen, die hier stattfinden.
Ich sehe auch eine Analogie zwischen Ausländer:innen und ‚Nicht-Orten‘: wer als erwachsener Mensch in eine fremde Stadt in einem neuen Land zieht, für den hat kein Ort eine Geschichte und er selbst ist geschichtslos in der Stadt. Sich selbst und die neue Stadt zusammenzuführen ist eine Aufgabe, die nie ganz beendet wird.
Nahuel hatte einen kleinen Auftritt in meinem ersten Film. Ich wusste, dass seine Präsenz den Laien-Darsteller:innen dabei hilft, sich auf das Spiel einzu- lassen. Ich liebe es, wenn ich im Filmschnitt darüber rätsele, ob jemand gerade etwas spielt oder einfach nur da ist. Irgendwie haben sie es alle geschafft, mir dieses Rätsel mitzugeben, die erfahrenen Schauspieler:innen ebenso wie die Laien. Ich hoffe, dass dieses Rätsel sich nie auflöst.
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Donnerstag 06.06.2024
KING'S LAND
Ab 06. Juni 2024 im Kino
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Im Jahr 1755 ruft der dänische König Frederik V. zur Besiedlung der wilden Heide Jütlands auf. Denn bisher ist es dort niemandem gelungen, der erbarmungslosen Natur die Stirn zu bieten. Der einstige Soldat Ludvig Kahlen hat nichts zu verlieren und will das Niemandsland bezwingen. Doch der machthungrige Gutsherr Frederik De Schinkel erhebt Besitzansprüche auf das Land und versucht, Kahlen mit Geld, Intrigen und Gewalt zum Scheitern zu bringen. Mit unerschütterlicher Entschlossenheit stellt sich Ludvig dem skrupellosen Herrscher ebenso wie der unerbittlichen Natur
entgegen. Unterstützung erfährt er dabei ausgerechnet von einer jungen Hausmagd und einem kleinen Mädchen, die seine strenge Fassade durchbrechen und ihn zu einer mutigen Entscheidung bewegen. KING'S LAND ist ein prächtig ausgestattetes Historiendrama, wie es lange nicht mehr im Kino zu sehen war. In großen Bildern erzählt Nicolaj Arcel dieses fesselnde Epos um Idealismus, Rache und Liebe, das auf dem Filmfest in Venedig seine umjubelte Premiere feierte. In der Hauptrolle brilliert Mads Mikkelsen („Der Rausch“), der für diese Rolle mit dem Europäischen Filmpreis als Bester Darsteller ausgezeichnet wurde.

Ein Film von Nikolaj Arcel
Mit Mads Mikkelsen, Amanda Collin, Simon Bennebjerg u.a.

Statement des Regisseurs Nicolaj Arcel
Als ich vor ein paar Jahren Vater wurde, machte ich eine völlig neue Erfahrung. Ich begann meine früheren Filme, einschließlich der Erinnerungen an ihre Entstehung, durch eine neue Linse zu betrachten. Ich bin zwar nach wie vor stolz auf meine Arbeit (zumindest auf das meiste!), aber sie
spiegelt die Sichtweise eines Mannes wider, der nur ein einziges Ziel verfolgt: seiner Leidenschaft für das Erschaffen von Geschichten und von Kunst zu folgen... aber nicht viel mehr. KING’S LAND ist aus dieser existenziellen Reflexion entstanden und mein bisher persönlichster Film. Mit Hilfe des brillanten Romans von Ida Jessen wollten Anders Thomas Jensen und ich eine große, epische Geschichte darüber erzählen, wie unsere Ambitionen und Wünsche unweigerlich scheitern, wenn sie alles sind, was wir haben. Das Leben ist Chaos; schmerzhaft und hässlich, schön und
außergewöhnlich, und wir sind oft hilflos, es zu kontrollieren. Wie das israelische Sprichwort sagt: „Der Mensch macht Pläne und Gott lacht.“


Mads Mikkelsen – als Ludvig Kahlen
Der preisgekrönte dänische Schauspieler Mads Mikkelsen wurde 1965 in Kopenhagen geboren. Er arbeitete zunächst als professioneller Tänzer, bevor er die Schauspielschule am Theater von Aarhus besuchte und seine Bühnenausbildung 1996 abschloss. Heute ist Mikkelsen sowohl im Theater als auch in Film und Fernsehen ein etablierter Schauspieler und zählt zu den Topstars Skandinaviens. Der angesehene Däne erhielt viele nationale und internationale Auszeichnungen und fungierte 2016 als Jury-Mitglied der Internationalen Filmfestspiele von Cannes. Zuletzt nahm er den Bambi entgegen und wurde für seine herausragende Rolle als Ludvig Kahlen in KING’S LAND erneut mit dem European Film Award als Bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.
Bereits 2020 erhielt Mads Mikkelsen den Europäischen Filmpreis als Bester Hauptdarsteller für das preisgekrönte und Oscar®-prämierte Drama DER RAUSCH von Thomas Vinterberg. Der Film feierte seine Weltpremiere in Cannes. Neben dem Europäischen Filmpreis und dem Dänischen
Filmpreis wurde Mads Mikkelsen auch für den BAFTA als Bester Schauspieler nominiert.
Es folgten 2021 das Sci-Fi-Abenteuer CHAOS WALKING von Doug Liman und die mehrfach ausgezeichnete schwarze Komödie HELDEN DER WAHRSCHEINLICHKEIT von Anders Thomas Jensen. 2022 stand der dänische Schauspieler als düsterer Zauberer Gellert Grindelwald für den dritten Teil von J.K Rowlings erfolgreicher Fantasy-Story FANTASTISCHE TIERWESEN UND WO SIE ZU FINDEN SIND III von David Yates vor der Kamera, und ein Jahr später war er in dem preisgekrönten Abenteuer INDIANA JONES UND DAS RAD DES SCHICKSALS (2023) zu sehen.
Sein Filmdebüt gab Mikkelsen 1996 in dem erfolgreichen Thriller PUSHER von Nicolas Winding Refn. Für die mit Spannung erwartete Fortsetzung PUSHER II stand er 2004 ebenfalls vor der Kamera und erhielt den Dänischen Filmpreis als Bester Schauspieler sowie einen Bodil Award des
Verbands Dänischer Filmkritiker.
Es folgten Filme wie u.a. WILBUR - DAS LEBEN IST EINS DER SCHWERSTEN (2002) von Lone Scherfig, FÜR IMMER UND EWIG (2002) von Susanne Bier, DÄNISCHE DELIKATESSEN (2003) und ADAMS ÄPFEL (2005) von Anders Thomas Jensen.
Seinen internationalen Durchbruch hatte Mikkelsen als Bösewicht Le Chiffre in JAMES BOND 007: CASINO ROYALE von Martin Campbell. Von den Kritikern gefeiert, zählt dieser Film bis heute zu den umsatzstärksten Bond-Movies. Im gleichen Jahr übernahm der charismatische Schauspieler die Hauptrolle in Susanne Biers Oscar®-nominierten Drama NACH DER HOCHZEIT (2006). 2009 arbeitete Mikkelsen erneut mit dem dänischen Regisseur Nicolas Winding Refn für das Actiondrama WALHALLA RISING zusammen. Der Film feierte seine Weltpremiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig. Es folgten 2010 das 3D-Fantasy-Spektakel KAMPF DER TITANEN von Louis Leterrier und die 3D-Adaption von DIE DREI MUSKETIERE (2011) von Paul W.S. Anderson an der Seite von Orlando Bloom, Christoph Waltz und Milla Jovovich.
In dem Oscar®-nominierten Historiendrama DIE KÖNIGIN UND DER LEIBARZT von Nikolaj Arcel spielte Mikkelsen 2012 die Rolle des deutschen Arztes Johann Friedrich Struensee, der zum Vertrauten des psychisch kranken Königs Christian VII. wurde und eine Affäre mit dessen Frau,
Königin Caroline Mathilde, hatte. Der mehrfach ausgezeichnete Film feierte seine Weltpremiere im Wettbewerb der 62. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Im gleichen Jahr erhielt der talentierte Däne für seine Leistung in dem ebenfalls Oscar®-nominierten Drama DIE JAGD (2012) von Thomas Vinterberg in Cannes den Goldenen Löwen als Bester Schauspieler.
2016 sah man Mikkelsen in zwei international sehr erfolgreichen Produktionen: in der Rolle des imperialen Wissenschaftlers Galen Erso in STAR WARS: ROGUE ONE von Gareth Edwards und an der Seite von Benedict Cumberbatch und Tilda Swinton als Bösewicht Kaecilius in dem Marvel-
Abenteuer DOCTOR STRANGE von Scott Derrickson.
Es folgte das Drama ARCTIC (2018) von Joe Penna, in dem Mikkelsen einen Mann spielt, der sich in der Arktis verirrt und an seine körperlichen wie mentalen Grenzen gelangt. Der Film feierte seine Weltpremiere in Cannes.
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Freitag 31.05.2024
GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY
Ab 30. Mai 2024 im Kino
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Im Oktober 1973 blickt die ganze Welt auf Israels Premierministerin Golda Meir. Nach dem Überraschungsangriff auf die Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel durch Ägypten, Syrien und Jordanien liegt das Schicksal der Nation in ihren Händen. Von ihrem ausschließlich männlichen Kabinett wird sie mit strategischen Ratschlägen überschüttet. Gefangen zwischen dem Wunsch, Blutvergießen zu verhindern, und der politischen Verantwortung gegenüber Israel muss Golda Entscheidungen treffen, von der nicht nur die Zukunft ihres Landes, sondern auch unzählige Menschenleben auf beiden Seiten abhängen.
In seinem nervenaufreibenden Politthriller über den knapp dreiwöchigen Jom-Kippur-Krieg beleuchtet Regisseur Guy Nattiv ein zutiefst schockierendes Kapitel des bis heute anhaltenden Nahostkonflikts. Helen Mirren brilliert mit einer überragenden Performance als Israels erste Ministerpräsidentin Golda Meir. Nicht minder beeindruckend ist die herausragende Maske, für die der Film mit einer Oscar®-Nominierung für Bestes Make-up und Hairstyling bedacht wurde.

Ein Film von Guy Nattiv
Mit Helen Mirren, Camille Cottin, Ellie Piercy, Rami Heuberger u.a.


Interview mit Guy Nattiv (Regie)

Erzählen Sie uns, worum es in GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY geht?
GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY konzentriert sich auf die zehn Tage des Jom-Kippur Krieges im Jahr 1973, in denen die israelische Premierministerin Golda Meir einige der wichtigsten Entscheidungen ihres Lebens treffen musste. Der Film beschreibt hautnah, was sie mental und körperlich durchmachte und wie sie den schlimmsten Krieg führte, den Israel je erlebt hat.

Was hat Sie an dieser Geschichte gereizt?
Ich bin Israeli, ich wurde 1973 in Israel geboren, im Jahr des Jom-Kippur-Krieges. Meine Mutter trug mich in den Schutzraum, während mein Vater in den Krieg zog. Ich bin mit den Geschichten aus dem Krieg aufgewachsen. In Israel gibt es ein sehr berühmtes Lied, Choref Shiv'im Veshalosh (Winter von 73), das uns davon erzählt, dass es keinen Krieg mehr geben wird, wenn wir erwachsen sind, weil der Jom-Kippur-Krieg der Krieg wäre, der alle Kriege in Israel beenden würde. Ich wuchs mit der Erzählung auf, dass wir stärker und mächtiger waren und dass wir gewonnen hatten. Golda Meir war eine Heldin. Als ich älter wurde, habe ich jedoch gelernt, dass das nicht der Fall ist. Es war ein furchtbarer Krieg, wir haben fast 3000 Soldaten verloren. Es gab große Fehlschläge bei vielen Einheiten. In diesem Zusammenhang erschien mir Meir als eine faszinierende Figur, sehr kompliziert. Abgesehen von einem Fernsehfilm in den 1980er Jahren hatte sich noch niemand so eingehend mit ihrer Figur befasst.

Wer war die echte Golda Meir?
Sie war sehr tough. Golda wird oft als die Margaret Thatcher von Israel bezeichnet. Sie war sehr klug, sehr versiert und wusste viel über die Welt. Sie war eine großartige Politikerin und wusste, wie man mit den Amerikanern umgeht. Sie wusste, wie sie Hilfe außerhalb Israels bekommen konnte. Golda war außerdem eine Frau mit Prinzipien, und man konnte sie wirklich nicht von ihnen abbringen. Sie traute vielen Menschen nicht, vor allem nicht den arabischen Führern. Sie war nicht bereit, den Nahen Osten in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Golda wusste, wie man Menschen behandelt und mit ihnen umgeht, und sie verlor nie die Fassung, aber ihre Sturheit brachte sie auch in fatale Situationen.
Sie hatte keine Vision, wie man Frieden statt Krieg und Terror schaffen konnte. Wie der Film schildert, hatte sie zur Zeit des Krieges Krebs und niemand wusste davon. Sie wurde heimlich zur Behandlung in ein Krankenhaus gefahren.

Man kann mit Recht sagen, dass sie eine umstrittene Figur war. Warum ist das so?
Sie wird immer mit dem Scheitern des Jom-Kippur-Krieges in Verbindung gebracht werden. Golda war die falsche Person, am falschen Ort, zur falschen Zeit. Sie wollte nicht Premierministerin werden, aber sie musste das Amt übernehmen, weil es zu dieser Zeit niemand anderes wollte. Man drängte sie dazu, Premierministerin zu werden, und dann wurde sie in dieses Chaos hineingeworfen und versuchte, mit dem Schlamassel fertig zu werden. Die Israelis sind sehr zwiegespalten, was ihren Charakter angeht. Wenn man sich außerhalb Israels umschaut, und die Juden außerhalb Israels befragt, dann sehen diese eher die romantische Geschichte von Golda, die als junge Frau aus Milwaukee nach Israel kam, voller Zionismus und der Hoffnung, dem Land zu helfen. Sie war die Eiserne Lady Israels und wie bei Margaret Thatcher gibt es Menschen, die sie lieben und andere Menschen, die sie hassen.

Wo befindet sich Golda Meir am Anfang des Films?
Der Anfang von GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY ist eigentlich das Ende ihres Lebens. Es ist das Ende ihrer Tage, als sie dem Aran-Komitee gegenübersteht, das versucht zu verstehen, was im Krieg falsch gelaufen ist. Golda weiß, dass ihre Tage gezählt sind. Sie geht hinaus in die Menge und fühlt sich wie eine Versagerin. Sie ist krank, aber niemand weiß davon. Sie nimmt die ganze Schuld auf sich, was ihr meiner Meinung nach mehr Integrität verleiht, denn sie ist eine jener Führungspersönlichkeiten, die sagen würden: „Es liegt an mir, ich nehme die Schuld auf mich.“

Warum war Helen Mirren die perfekte Wahl, um Golda auf die Leinwand zu bringen?
Viele Leute fragen mich, wie es war, mit Helen zu arbeiten. Ich sage immer, dass ich nicht weiß, wie ich jetzt mit anderen Schauspielern arbeiten soll, denn die Arbeit mit ihr war in jeder Hinsicht perfekt. Als ich zu dem Projekt kam, war Helen bereits engagiert. Wir hatten ein Videogespräch inmitten der Corona-Pandemie und sie fragte mich, warum ich glaubte, dass sie Golda spielen sollte. Ich sagte ihr: „Du hast die Seele, du hast die Intelligenz und du hast die Ausstrahlung von Golda. Für mich als Israeli und als Jude spielt es keine Rolle, dass du keine Jüdin bist. Du bist eine der besten Schauspielerinnen unserer Zeit und für mich bist du Golda.“ Als ich sie am ersten Drehtag mit all den Prothesen sah, war ich überwältigt. Mir fiel die Kinnlade runter und ich dachte, das ist Golda. Sie stellte wirklich jede Nuance und jede Bewegung dar. Ich bin sehr dankbar, dass ich mit einer Legende arbeiten durfte.

Wie war das mit ihrer körperlichen Verwandlung in Golda?
Der erste Tag, an dem ich Helen als Golda sah, war ein regnerischer Tag in London. Wir haben geprobt, sie kam aus ihrem Wohnwagen und ich sah nur ihren Rücken. Sie hatte die Perücke auf und Goldas Kleidung, und ich ging hinter ihr. Als sie sich zu mir umdrehte, war ich schockiert, es war, als stünde sie leibhaftig vor mir. Karen Hartley, unsere Haar- und Make-up-Designerin, hat mit ihrem Team großartige Arbeit geleistet. Sie hat jede Nuance in ihrem Gesicht, in ihren Händen – einfach überall geschaffen, um Helen zu Golda werden zu lassen. Helen wollte nicht zu viele Prothesen verwenden; sie wollte, dass wir das Innere von Golda sehen. Deshalb haben wir Helens Augen behalten. Wir haben ein paar Prothesen am Hals und im Gesicht ausprobiert, und es hat eine Weile gedauert, aber als wir es geschafft hatten, haben wir es alle gespürt. Das hat Karen hervorragend gemacht. Helen war jeden Morgen ab 4 Uhr bei ihr und am Ende des Tages brauchte sie eine Stunde, um die Maske wieder abzunehmen. Ich gebe zu, ich war nervös, dass es uns nicht gelingen könnte, eine überzeugende Golda zu erschaffen, aber als ich Helen sah, konnte ich diese Nervosität ablegen und mich auf die anderen Dinge konzentrieren. Ich bin beeindruckt von der Arbeit, die Karen und ihr Team geleistet haben.

Im Film wird Henry Kissinger von Liev Schreiber gespielt. Wer war Kissinger und welche Rolle spielte er während des Krieges und für Golda?
Henry Kissinger war ein amerikanischer Jude, der zur Zeit des Jom-Kippur-Krieges Außenminister der USA war. Seine Beziehung zu Golda war ziemlich interessant. Kissinger war Nixons Mitarbeiter, und wir sprechen über das Jahr 1973. Sie hatten also alle Probleme im Weißen Haus. Er flog in der Welt herum und fühlte sich nicht mehr zu Hause. Dann kam er nach Israel und Golda war fast wie eine Großmutter für ihn. Sie ging ihm unter die Haut, sprach mit ihm wie mit einem Freund, gab ihm Suppe und bot ihm Gastfreundschaft in ihrem eigenen Haus. Das hatte er noch nie in einem anderen Land erlebt und vielleicht war es das, was ihn ein wenig weicher gemacht hat. Golda war klug, gewitzt und als halbe Amerikanerin wusste sie, wie man mit Amerikanern umgehen musste. Golda bekam von Kissinger immer, was sie wollte, in diesem Fall eine Lieferung von Flugzeugen.

Eine großartige Figur in diesem Film ist Lou Kadar, gespielt von Camille Cottin. Wer war sie für Golda?
Sie war Goldas beste Freundin, die Person, die ihr am nächsten stand. Sie kannte alle ihre Geheimnisse, auch ihre Krankheit. Sie begleitete sie zu ihren Behandlungen, brachte ihr Essen und Zigaretten und sie spielten zusammen Schach. Wenn Golda sich langweilte, rief sie Lou an, sie war alles für sie. Nachdem Golda ihren Mann verloren hatte, war Lou gegen Ende ihrer Tage fast wie eine Partnerin für sie.

Was können die Zuschauer von GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY erwarten?
GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY ist ein Kriegsfilm, aber ohne den Krieg. Es ist der Krieg einer älteren Frau und der letzten Tage ihres Lebens. Sie versucht, ihren inneren Krieg zu überleben, den Krebs, der sie von innen auffrisst, während das Land so sehr unter einem Überraschungsangriff leidet. Sie verliert sich selbst, sie verliert ihr Land, aber sie versucht, ein kleines bisschen Hoffnung zu finden. Ich möchte, dass die Zuschauer mit dieser Frau fühlen und verstehen, was sie durchmacht. Ihr Kampf, ihr innerer Kampf, denn 1973 war ein so entscheidender Punkt in der Geschichte Israels.
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