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43. ZWEI ZU EINS
44. VERBRANNTE ERDE
45. MADAME SIDONIE IN JAPAN
46. BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF
47. DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS
48. IVO
Donnerstag 25.07.2024
ZWEI ZU EINS
Ab 25. Juli 2024 im Kino
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Halberstadt im Sommer 1990. Maren (Sandra Hüller), Robert (Max Riemelt) und Volker (Ronald Zehrfeld) kennen und lieben sich seit ihrer Kindheit. Eher zufällig finden sie in einem alten Schacht die Millionen der DDR, die dort eingelagert wurden, um zu verrotten.
Die Drei schmuggeln Rucksäcke voll Geld heraus. Gemeinsam mit ihren Freunden und Nachbarn entwickeln sie ein ausgeklügeltes System, um das inzwischen wertlose Geld in Waren zu tauschen und den anrauschenden Westlern und ihrem Kapitalismus ein Schnippchen zu schlagen. Denn wenn man jetzt ein bisschen schlau ist, kann dieser Sommer nicht nur ein großes Abenteuer, sondern auch der endgültige Wendepunkt in ihrem Lebensein.
ZWEI ZU EINS ist eine große Liebes- und Freundschaftskomödie über Geld und Gerechtigkeit. Und eine Hommage an eine sehr besondere Zeit, in der alles möglich schien.

Ein Film von NATJA BRUNCKHORST
Mit Sandra Hüller, Max Riemelt, Ronald Zehrfeld, Ursula Werner, Peter Kurth, Martin Brambach

Für ihre sommerliche Komödie um eine Gruppe von Freunden, die gemeinsam mit der Nachbarschaft den Siegeszug des Kapitalismus aufhalten wollen, konnte Natja Brunckhorst auf wahre Geschehnisse zurückgreifen: Millionen von Mark der DDR wanderten zur Währungsunion in unterirdische Gewölbe nahe Halberstadt – insgesamt fast 400 Tonnen an Geldscheinen. Sicher ist, dass aus diesem Stollen Geld entwendet wurde. Bis heute weiß niemand genau, um welche Summen es tatsächlich ging.
Aus dieser Vorlage entwickelte Natja Brunckhorst ihre Geschichte: ein humorvolles Abenteuer in einer Zeit, in der alles möglich schien. Dabei geht es um Geld und Gerechtigkeit – und um das, was wirklich zählt im Leben: Freundschaft und Familie.
In der Hauptrolle spielt die Oscar-nominierte Sandra Hüller mit einnehmendem Charme und pragmatischer Klugheit die unfreiwillige Heldin einer verschworenen Hausgemeinschaft, die in den anarchischen Zeiten der Wende unerwartet mit der Aussicht auf Reichtum und Wohlstand
konfrontiert wird: Jetzt wäre die beste Gelegenheit, um dem real existierenden Kapitalismus eins auszuwischen. Denn bald werden die dicken Geldbündel wertlos sein.
Sandra Hüller ist nach ihren internationalen Erfolgen ANATOMIE EINES FALLS und THE ZONE OF INTEREST mit der Komödie ZWEI ZU EINS wieder zurück in Deutschland und Teil eines außerordentlichen Ensembles. Neben Max Riemelt und Ronald Zehrfeld überzeugen Ursula Werner, Peter Kurth, Martin Brambach, Uwe Preuss, Kathrin Wehlisch und Olli Dittrich.
ZWEI ZU EINS ist eine Produktion von ROW PICTURES und ZISCHLERMANN FILMPRODUKTION, in Ko-Produktion mit ZDF/ARTE und Lichtblick Film- und Fernsehproduktion, gefördert mit Mitteln der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM), der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), der Filmförderanstalt (FFA), der Film und Medien Stiftung NRW, der Filmförderung Hamburg und Schleswig-Holstein
(MOIN), dem Medienboard Berlin Brandenburg (MBB), dem Deutschen Filmförderfonds (DFFF) und der MV Filmförderung.


IM GESPRÄCH MIT NATJA BRUNCKHORST

Wie kamen Sie auf die Idee, einen Film über den „Schatz von Halberstadt“ zu machen?
Ich habe zu einem anderen Thema recherchiert und fand in einem Buch von Peter Ensikat einen Satz, der lautete: „Das Papiergeld der DDR wurde in einem Stollen eingelagert.“ An diesem Satz bin ich hängen geblieben. Da hat es, und das passiert bei mir nicht allzu oft, Klick gemacht und ich dachte: DAS IST KINO! Das ist ein Heist-Movie. Ich habe dazu recherchiert, bin nach Halberstadt gefahren, hab mir den Stollen angesehen – er ist 300 Meter lang und 8 Meter hoch – und habe mit vielen Leuten geredet. Und dann war da so eine unglaubliche Geschichte, und alles Realität! Das Geld wurde dort versteckt, um zu verrotten. Es wurde eingebrochen, aber bis heute weiß man nicht, wie viel eigentlich weggekommen ist. Und mir war sofort klar, die Geschichte dieser Einbrecher muss man erzählen.

ZWEI ZU EINS ist eine Komödie, aber gleichzeitig auch Abenteuerfilm, Liebesgeschichte, Thriller …
Ja, eine leichte Sommerkomödie, dazu ein wenig von der Postraub-Geschichte oder von LANG LEBE NED DIVINE, wo das ganze Dorf einen Lottogewinn aufteilt und die Versicherung austricksen will. Darin stecken archaische Grund-Erzählmuster, nochmal neu aufgegriffen für diese Zeit damals, die ich so wunderbar spannend finde: 1990 – ein Jahr, als keiner so richtig wusste, wo’s langgeht.

1990 war ein ganz besonderer Sommer – die letzten Monate der DDR. Wie sehen Sie diese Zeit im Rückblick?
Ein bisschen chaotisch war es damals, ganz oft aber auch auf eine positive Art. Vieles war absurd, die alten Regeln galten nicht mehr, die neuen waren noch nicht da. Ein Jahr lang war vieles möglich. Es gab auch viel Hoffnung, die ja später enttäuscht wurde, viele Ängste, aber auch viele Chancen. Ich habe eine ganze Menge Leute getroffen, die mir gesagt haben: Das war die beste Zeit meines Lebens. Ich habe mir gewünscht, dass der Film auch dieses Sommergefühl transportiert, diese Atmosphäre der Leichtigkeit und der Möglichkeiten. „Geile Zeit“, sagt Yannek, Marens Sohn dazu. Und er hat recht. 1990 war ein unglaubliches Jahr, nicht nur für ihn, ein Jahr der Abenteuer.

ZWEI ZU EINS ist eine Komödie über Geld. Was meinen Sie: Macht Geld glücklich?
Ich habe die Fotos gesehen von den Leuten, die in dem Stollen zum ersten Mal das Geld sehen. Sie wirken sehr glücklich. Wahrscheinlich wird man beim Anblick eines solchen Geldhaufens wieder zum Kind. Diese Mengen an Geld lösen einfach Glücksgefühle aus. Mir ging es da ähnlich, als ich zur Recherche bei der KfW (Kreditanstalt für Wiederaufbau = Rechtsnachfolge der Staatsbank Berlin) war. Der Tresor wurde für mich aufgeschlossen und ich sollte die Geldscheine in die Hand nehmen. Das war schon merkwürdig. Es gibt sogar Untersuchungen, bei denen nachgewiesen wurde, dass Geld eine rauschhafte Wirkung hat, ähnlich wie eine Droge. Und es löst Gier aus – das sieht man ja auch im Film. Geld ist ja eigentlich etwas ganz Normales, aber es ist eben auch mit unglaublich paradoxen Gefühlen behaftet.

In Deutschland wird allgemein nicht viel über Geld gesprochen, finde ich, weniger als in anderen Ländern. Auf der einen Seite ist es ein Tabu-Thema, man spricht hier nicht darüber, was man verdient. Auf der anderen Seite hat es aber eine starke emotionale Wirkung. Geld beruhigt auch, es gibt Sicherheit.
Ich glaube eigentlich: Die Realität ist, dass Geld schon bis zu einem gewissen Grad glücklich macht. Wenn jemand, der arbeitet, sich trotzdem jeden Tag Gedanken darüber machen muss, ob das Geld dafür reicht, das Essen und die Miete zu bezahlen, dann kann Geld schon große Glücksgefühle auslösen, weil man dadurch eine gewisse Grundlage hat, eine Sicherheit. „Geld ist gedruckte Freiheit.“ Dieses Zitat von Fjodor Dostojewski steht am Schluss des Films.

Der Film ist aber auch eine Liebesgeschichte. Da gibt es das Dreieck Maren, Robert und Volker …
Ich finde, jeder Film braucht eine Liebesgeschichte. Dringend! Die Drei sind für mich sehr inspirierende Figuren: Freunde seit der 3. Klasse, sie kennen sich gut. Beide Männer verehren Maren vollkommen zu Recht. Und sie ist eigentlich eine Nummer zu groß für sie. Tatsächlich ist Maren wirklich mutig, eine echte Abenteurerin, eine Revoluzzerin. Sie ist wie ein Schmetterling, und die beiden Männer haben Glück, dass sie ihnen noch nicht weggeflogen ist.
Dabei ist Maren ein sozialer Mensch, der immer aufs Ganze schaut: Lasst uns was zusammen machen, das ist ihre Devise. Am Anfang, auf dem Arbeitsamt, sagen sie: „Wir lassen uns doch nicht unterkriegen!“ – „Nee, auf keinen Fall.“
Robert ist ihr ein bisschen ähnlich. Er ist ein Gemeinschaftsmensch. Er und Volker sind wie zwei unterschiedliche Pole. Volker ist anders als Robert. Er hat Halberstadt und Maren verlassen, ist in den Westen gegangen, ohne ihr Bescheid zu sagen, und nun kommt er wieder zurück, weil er dort nicht zuhause sein kann. Und weil er Maren vermisst. Das Verhältnis zwischen Maren, Robert und Volker ist für mich die klassische Dreiecksbeziehung. Ein bisschen wie in JULES UND JIM.

Und vielleicht will auch keiner aussteigen?
Da gibt es eine Szene, in der schließlich alle zusammen im Bett liegen, die ganze Familie, mit den Kindern. Und Maren sagt: So könnte es immer weitergehen. Wenn alle zusammen sind, das ist für sie wichtig. Sie hat sowas angenehm Pragmatisches, und ich finde solche Menschen sehr interessant.

Hatten Sie schon beim Schreiben die Besetzung mit Sandra Hüller, Max Riemelt und Ronald Zehrfeld im Kopf?
Beim Schreiben bin ich am liebsten ganz frei. Außer bei ALLES IN BESTER ORDNUNG, da wusste ich, das kann nur Corinna (Harfouch) spielen. Aber ansonsten denke ich, dass es mich einschränken würde, mich schon vorher festzulegen. Ich schreibe zuerst, dann wird besetzt, und dann wird auch der Film nochmal anders. Wenn reale Menschen die Figuren verkörpern, ist das ein sehr spannender Prozess, denn mit jedem Menschen, der dazukommt, verändert sich der Film.
Das Erstaunliche bei ZWEI ZU EINS war: Die Drei haben sofort Ja gesagt! Sie haben das Buch gelesen und zugesagt. Es war für mich ein unglaubliches Vergnügen und eine unglaubliche Ehre, mit den Dreien zu arbeiten. Diese Arbeit war so sehr mit Leichtigkeit erfüllt, weil sie so viel mitbringen und sich auch so gut miteinander verstanden haben. Diese sommerliche, angenehme Stimmung kommt im Film auch gut rüber.
Da haben wir mit Sandra, Max und Ronald nicht nur die tollsten Darsteller an Bord, sondern es funktioniert auch noch so gut zwischen ihnen! Es war wirklich ein großes Glück, mit den Dreien zu arbeiten – so wie auch mit allen anderen, das sind alles ganz tolle Menschen: Ursula Werner, Peter Kurth, Martin Brambach … Mir sind auch die kleineren Rollen immer wichtig. Das liegt vielleicht daran, dass ich selbst vom Schauspiel komme. Ich nehme jede Rolle ernst und jeden einzelnen Menschen, der sie spielt. Jede einzelne Rolle bei mir hat einen Anfang, eine Mitte und einen Schluss. Das finde ich ganz wichtig, denn nur so entsteht ein authentischer Charakter.
Ich wollte einen Sommerfilm erzählen, und wir waren alle miteinander sehr glücklich in diesem Sommer 2023 in Gera. Wir waren wirklich so wie die Hausgemeinschaft im Film, alle im Team. Und die Menschen, die wir vor Ort gecastet haben, die haben sich da so richtig schön eingefädelt. Das war eine sehr friedliche, freundliche Atmosphäre. Es ist mir sehr wichtig, dass sich alle ernst genommen fühlen. Vielleicht bin ich da ein bisschen wie Maren: Ich möchte, dass wir alle zusammen gut durch diese Zeit kommen. Und damit meine ich wirklich alle, vor der Kamera und hinter der Kamera. Das haben wir gut hingekriegt. Wenn alle am Set gut zusammenarbeiten, dann entsteht ein ganz bestimmter Zauber. Den habe ich oft gespürt.

Was hat Sie bei den Vorarbeiten und bei den Dreharbeiten am meisten gefreut und überrascht?
Gera hat uns mit vielen guten Drehorten und Motiven beschenkt, das ist wirklich eine tolle Stadt, und alle, die wir dort getroffen haben, nicht nur die Motivgeber, waren sehr freundlich und hilfsbereit. Das Wichtigste war für uns, dieses Haus zu finden. So ein Hausmotiv ist so etwas wie ein eigener Protagonist, und wir haben überallhin Leute geschickt, die gesucht haben, und alle gefragt. Und dann war es da. Genau das, was wir gesucht hatten: ein teilweise leerstehendes Gebäude in Gera-Lusan, einem Stadtteil in Gera, das mal eine Jugendherberge war. Unten im Haus gab es eine ehemalige HO-Gaststätte und gleich angrenzender Garagenlandschaft.
Ich hätte gern in der Original-Stollenanlage von Halberstadt gedreht, in der das Geld ursprünglich eingelagert war. Doch dieses Komplexlager 12 war inzwischen vollständig leergeräumt, nicht nur aufgrund von Einbrüchen, sondern auch, weil es mittlerweile mehrfach den Eigentümer gewechselt hat und alles ausgebaut worden war. Wir hätten alles neu einbauen müssen. Stattdessen haben wir im Komplexlager 22 in Rothenstein bei Jena gedreht. Uns wurde aufgeschlossen – und alles war da! Genau, wie wir es gebraucht haben. Toll!

Was war Ihr Konzept für die visuelle Gestaltung des Films, wie z. B. für die Kostüme?
Ich wollte keine Klischees bedienen, auch visuell nicht, sondern ich wollte die Auseinandersetzung mit der Authentizität. Wir haben ausschließlich Kleidung aus der damaligen Zeit genutzt, und für die Dreharbeiten haben wir festgelegt: Keine Witze über Klamotten! Wir wollten niemanden lächerlich machen und vermeiden, dass sich irgendjemand über jemand anderen lustig macht, nur weil er was Bestimmtes anhat. Und das hat sehr gut funktioniert. Alle sehen in dem, was sie tragen, gut aus, denn sie sind unsere Helden. Und im Film ist ziemlich viel Hellblau zu sehen – das steht für mich ebenfalls für Leichtigkeit.
Martin Langer, unser Kameramann, hat mit anamorphotischen Objektiven gearbeitet und dadurch sind auch hier und da Lens Flares entstanden, die den Eindruck von Hitze noch verstärken. Es war ja tatsächlich warm, aber wir wollten auch, dass es so aussieht. Wir haben den Film sozusagen bei einer gedachten Außentemperatur von 36 Grad gedreht und uns viele Gedanken darüber gemacht, was die sommerliche Atmosphäre ausmacht.
Ich glaube, es ist ein Film geworden, aus dem ich gut gelaunt aus dem Kino hinausgehe und trotzdem was mitnehme. Dabei hat uns auch die tolle Musik unserer Komponistin Hannah von Hübbenet geholfen. Wir hatten uns entschieden, keine Musik aus der damaligen Zeit zu verwenden. Ich wollte den Film nicht musikalisch an eine Zeit binden. Für mich hat ZWEI ZU EINS etwas archaisch Zeitloses, und das sollte auch in der Musik rüberkommen. So ist der Soundtrack entstanden, der ein bisschen countrymäßig leichtfüßig daherkommt, aber auch einen guten Anteil skandinavische Tiefe mitbringt.

Wie geht es weiter? Was sind Ihre nächsten Pläne?
Ich sitze schon am nächsten Film, aber das ist alles noch nicht spruchreif. Ich mag es einfach, Kinogeschichten zu erzählen. Kino ist für mich Abenteuer für die Seele. Man geht anderthalb Stunden mit, und wenn der Film gut ist, dann wächst die Seele daran, und der Eindruck bleibt erhalten. Ich selbst denke, dass ich eher französisch angehaucht bin, diese Leichtigkeit mag ich sehr. Aber mir ist auch der englische Humor sehr nahe, das Understatement und der trockene Witz, der von hinten um die Ecke kommt.

Was bedeutet es für Sie, Regie zu führen?
Früher habe ich gedacht, Regie führen heißt, alles zu wissen. Dann habe ich aber festgestellt, Regie führen heißt, gute Leute mit ins Boot zu holen und ihnen einen guten Platz zu bieten. Ich muss nicht wissen, wie der fertige Film aussieht, aber ich muss für alle die Freiräume schaffen, damit sie ihr Bestes geben können. Der gesamte Prozess, einen Film herzustellen, taugt mir sehr. Er besteht aus vielen kleinteiligen Tätigkeiten. Immer wieder wird alles zerschnippelt, neu wieder zusammengesetzt und wieder auseinandergenommen, und dann – im Schneideraum – wird er endgültig zusammengesetzt.
Film ist Teamarbeit, es geht um Chaos und Ordnung, und ich sehe mich vor allem in einer ordnenden Funktion. „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, soll Karl Valentin gesagt haben. Und das stimmt. Einem fertigen Film ist nicht anzusehen, wie viel Kraft er gekostet hat und wie viel Arbeit darin steckt. Und das ist auch gut so. Bei mir kommen öfters kleine Überraschungen dazu, wie bei einer Wundertüte. Immer noch mal eine neue Wendung, ein neuer Twist … solche Filme sehe ich einfach auch selbst am liebsten. Aber das Wichtigste ist die gemeinsame Arbeit. Am Anfang sitzt man allein in einem Boot, es kommen Leute dazu. Irgendwann setzt das Boot die Segel, noch mehr Leute kommen dazu. Und dann wird das Boot ein Dampfer, der von alleine fährt.
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Donnerstag 18.07.2024
VERBRANNTE ERDE
Ab 18. Juli 2024 im Kino
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Zwölf Jahre, nachdem der Berufskriminelle Trojan aus Berlin flüchten musste, führt ihn die Suche nach Aufträgen erneut in die Stadt. Er hat kaum noch Geld und braucht dringend einen neuen Job. Berlin hat sich verändert, Trojans alte Kontakte geben nicht mehr viel her.
Und seine Maxime, nur Bargeld-Jobs durchzuführen, lässt sich in einer immer komplexer digitalisierten Welt kaum noch durchhalten. Es dauert einige Zeit, bis sich ihm schließlich durch die Vermittlerin Rebecca die Aussicht auf einen lukrativen Job bietet. Ein Gemälde von Caspar David Friedrich soll aus einem Museum gestohlen werden. Der Coup bringt Trojan mit der Fluchtfahrerin Diana, seinem ehemaligen Weggefährten Luca und dem jungen Chris zusammen. Das Projekt lässt sich vielversprechend an. Doch der undurchsichtige Auftraggeber Victor hat seine eigenen Pläne mit dem Gemälde. Bald geht es weniger ums Geld, sondern vor allem darum, mit dem Leben davonzukommen.
VERBRANNTE ERDE ist nach IM SCHATTEN der zweite Teil von Thomas Arslans Trojan-Trilogie.

Ein Film von Thomas Arslan
Mit Mišel Mati?evi?, Marie Leuenberger, Alexander Fehling u.a.


INTERVIEW MIT THOMAS ARSLAN

Wie kam es dazu, dass Sie sich 13 Jahre nach „Im Schatten“ wieder der Geschichte von Trojan zugewandt haben?
Das waren mehrere Faktoren. Ich hatte Lust, an dieser Form von Genre weiterzuarbeiten und ich hatte Lust, wieder etwas mit Mišel Mati?evi? zu machen. Das hat sich auch damit verbunden, dass ich seit „Im Schatten“ nicht mehr in Berlin gedreht hatte. Ich hatte große Lust darauf, mir die Stadt, in der ich lebe und in der ich bereits mehrere Filme gemacht habe, wieder genauer anzugucken. Das ist ähnlich wie bei Trojan, der nach Berlin zurückkehrt, obwohl er diese Stadt nach dem Geschehen von „Im Schatten“ eigentlich um jeden Preis meiden wollte. Aber ein Job führt ihn dann eben doch wieder zurück.

Was fasziniert Sie an diesem Genre?
Ich habe eine spezielle Faszination für Heist-Filme, in denen Überfälle sorgfältig vorbereitet und durchgeführt werden, mit den entsprechenden Komplikationen danach. Das sind Geschichten, in denen die Arbeit der Protagonisten eine große Rolle spielt. Mich interessieren diese Filme, in denen diese kriminelle Arbeit sehr ernst genommen wird, in allen Details, wie z.B. in „Rififi“ von Jules Dasin, „Le cercle rouge“ von Melville, oder „Thief“ und „Heat“ von Michael Mann.

Erzählt die Gangster-Welt Trojans etwas über unsere bürgerliche Welt?
Nein, das läuft komplett auseinander. Zumindest bei Trojan, der bewusst nicht für die organisierte Kriminalität arbeitet. Er ist daher auch kein „Gangster“. Trojan ist jemand, der versucht, nach eigenen Regeln zu leben und eine Existenz zu führen, die in gewissem Sinne selbstbestimmt
ist, mit den entsprechenden Schwierigkeiten und Entbehrungen. Und da er ein professioneller Krimineller ist, ist das natürlich weit weg von jeder Form von bürgerlicher Existenz. Eine Figur wie Trojan hat gar keine Berührungspunkte im Hinblick auf regelmäßige Arbeit, Familie, festen
Wohnsitz, dem Wunsch nach Eigentum. Das interessiert ihn alles nicht. Bei seinen Jobs ist Trojan ganz bei sich selbst. Reine Präsenz. Was er hat, ist ein gewisser Moralkodex, was seine Arbeit anbelangt, auch im Hinblick auf den Umgang mit den Leuten, mit denen er zusammenarbeitet. Da geht es um das Verständnis von Präzision und Professionalität und letzten Endes auch um moralische Linien. Er ist jemand, der sich abseits der bürgerlichen Norm oder des Gesetzes bewegt, aber trotzdem versucht, eine Art Moralkodex für sich aufrecht zu halten.

Wie wichtig war „Im Schatten“ als Referenz und Bezugspunkt für „Verbrannte Erde“?
Das war natürlich ständig präsent, auch die Frage, was jetzt im neuen Film anders ist, was sich verändert hat. Es ist ja viel Zeit vergangen seither. Das spielt eine große Rolle, aber es ist die gleiche Figur, Trojan ist 13 Jahre älter geworden. Über die Zeit dazwischen erfährt man nicht viel, nur durch ein paar Andeutungen, dass er im Grunde so weitergemacht hat. An seiner Existenzform hat sich nichts geändert, außer dass es immer weniger Gelegenheiten für diese Jobs gibt, die er bevorzugt: Sachen, die man möglichst gut kontrollieren kann, klassische Jobs, wo das Haptische eine Rolle spielt.
Die Gelegenheiten dafür werden immer weniger, weil inzwischen vieles digitalisiert ist, weil Computer und Technologie auf allen Feldern eine riesige Rolle spielen. Das verkleinert seinen Spielraum, es wird für ihn immer schwieriger, geeignete Jobs zu finden und zu realisieren.

Man hat fast den Eindruck, dass den älter gewordenen Trojan ein Hauch von Melancholie umweht, gerade in der Szene mit Diana im Café; dass vielleicht sogar die Liebe möglich ist.
Das ist tatsächlich ein Unterschied. Die Figur der Dora von „Im Schatten“ ist in erster Linie eine Komplizin, zu der Trojan ein pragmatisches und distanziertes Verhältnis hat. Und für Dora ist die Einbindung in ein kriminelles Projekt eher die Ausnahme. Sie nimmt nur am Rand daran Teil. In „Verbrannte Erde“ ist das anders. Diana hat zwar auch einen nicht-kriminellen AlltagsJob, aber sie ist auch gleichzeitig professionelle Fluchtfahrerin. Trojan und Diana begegnen sich bei der gemeinsamen Arbeit auf Augenhöhe. Das schafft die Basis für eine emotionale Nähe zwischen den beiden. Es gibt zumindest einen Raum oder die Möglichkeit, dass sich etwas in diese Richtung öffnen könnte.

Wenig verändert hat sich bei den Autos: Gangster fahren immer noch Verbrenner.
Es gibt auch andere Autos im Film: Der „Erlkönig“, den Diana als Testfahrerin über die Strecke jagt, ist ein neuer Hybridwagen. Und Rebecca, die Jobvermittlerin, fährt ein E-Auto. Ich fand das stimmig, dass die in der Wahl ihrer Autos einfach moderner sind, während es in der konkreten Praxis bei der Durchführung der kriminellen Jobs um andere Kriterien geht. Diana fährt bei ihren Fluchtfahrerin-Jobs ältere Verbrenner. Auch für Trojan ist die Wahl seines Wagens keine Nostalgie oder Liebhaberei. Neue Wagen sind voller Elektronik. Elektronik ist anfällig, wenn da etwas nicht stimmt, kann man es nicht selber beheben. Und die neuen Wagen sammeln zu viele Daten.

Welche Rolle spielt die Veränderung, die Berlin seit „Im Schatten“ erlebt hat?
Die Stadt hat sich in den letzten 15 Jahren drastisch geändert. Das spielt nicht explizit eine Rolle in „Verbrannte Erde“, ist aber ein Aspekt, der uns sehr interessiert hat und der auch für die Auswahl der Orte eine Rolle gespielt hat. Es gibt Gegenden in der Stadt, die komplett neu gebaut wurden, und Stadtteile, in denen die Bevölkerungsstruktur durch Gentrifizierungs-Prozesse weitestgehend ausgetauscht worden ist. Ich habe vor kurzem einen Kurzfilm gedreht, der sich auf einen Film bezieht, den ich 1990 entlang des innerstädtischen Mauerstreifen gemacht habe, „Am Rand“. Die Mauer war damals bereits abgetragen. Das war damals teilweise ein bizarres Niemandsland, das mitten durch die Stadt geführt hat. Viele dieser damals verlassenen Areale sind inzwischen weitgehend zugepflastert worden, und zwar primär mit Büro- und Eigentumswohnungskomplexen, die eigentlich alle gleich aussehen. Das sind völlig unbelebte Areale, die keine organische Verbindung mit anderen Teilen der Stadt oder mit der unmittelbaren Nachbarschaft haben und eigentlich immer noch oder schon wieder Niemandsland sind. Das spielt bei „Verbrannte Erde“ zumindest im Hintergrund eine Rolle.
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Donnerstag 11.07.2024
MADAME SIDONIE IN JAPAN
Ab 11. Juli 2024 im Kino
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Japan, heute. Sidonie Perceval (Isabelle Huppert), eine gefeierte französische Schriftstellerin, trauert noch immer um ihren verstorbenen Ehemann. Anlässlich der Wiederveröffentlichung ihres ersten Buchs wird sie nach Japan eingeladen, wo sie von ihrem dortigen Verleger empfangen wird. Er nimmt sie mit nach Kyoto, in die Stadt der Schreine und Tempel. Während die beiden gemeinsam durch die japanische Frühlingsblüte fahren, beginnt sie langsam, sich Kenzo (Tsuyoshi Ihara) gegenüber zu öffnen. Doch der Geist ihres Ehemannes Antoine (August Diehl) folgt Sidonie. Erst wenn sie endlich bereit dazu ist, ihn gehen zu lassen, wird sie wieder bereit für die Liebe sein.


Ein Film von Élise Girard
Mit Isabelle Huppert, Tsuyoshi Ihara und August Diehl

Élise Girards dritter Kinofilm, MADAME SIDONIE IN JAPAN, ist eine poetische Liebesgeschichte, eine Hymne an das Leben, getragen von der Ausnahmeschauspielerin Isabelle Huppert (DIE KLAVIERSPIELERIN, 8 FRAUEN, ELLE). Das Sichtbare und das Unsichtbare, das Wachen und das Schlafen existieren in dieser feingeistigen, tiefgründigen und immer wieder humorvollen Erzählung nebeneinander. Ein kleiner, großer Film, der minimalistisch wirkt, dabei aber große Emotionen auslöst.
Neben Huppert sind in weiteren Rollen der bekannte japanische Schauspieler Tsuyoshi Ihara (BRIEFE AUS IWOJIMA) und August Diehl (NACHTZUG NACH LISSABON, DER JUNGE KARL MARX, EIN VERBORGENES LEBEN) zu sehen. Regisseurin Élise Girard schrieb zusammen mit Maud Ameline (DIE PURPURSEGEL) und Sophie Fillières (DER FLOHMARKT VON MADAME CLAIRE) das Drehbuch, Céline Bozon (MADAME HYDE, FÉLICITÉ) zeichnete für die Bildgestaltung verantwortlich, Thomas Glaser (SCHRÄGE VÖGEL) übernahm die Montage und Gérard Massini die Musik.
Weltpremiere feierte MADAME SIDONIE IN JAPAN im Rahmen der Giornate degli Autori auf den Filmfestspielen von Venedig. Seitdem hat sich der Film mit vielen Festivalpremieren in bislang 11 Ländern zum Festivalliebling entwickelt.
MADAME SIDONIE IN JAPAN ist eine Koproduktion von 10:15 Productions, Lupa Film, Fourier Films, Box Productions, TOEI Company, Film-In-Evolution, Mikino und Les Films du Camélia, mit der Unterstützung von Bunkach?, CNC, mit der Beteiligung der FFA, in Koproduktion mit Bayerischer Rundfunk, RTS Radio Télévision Suisse und SRG SSR, in Zusammenarbeit mit Arte, mit der Unterstützung von der Région Île-de-France, des Medienboard Berlin Brandenburg, des Bundesamt für Kultur (BAK), mit der Beteiligung von Cinéforom und der Unterstützung der Loterie Romande.

FESTIVALPREMIEREN
Weltpremiere auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig (2023)
FEST Internationales Filmfestival von Belgrad (Serbien)
Dublin International Film Festival (Irland)
Göteborg Film Festival (Schweden)
Internationales Filmfestival Marrakesch (Marokko)
Internationales Filmfestival Genf (Schweiz)
Reykjavík International Film Festival (Island)
Thessaloniki Film Festival (Griechenland)
Love International Film Festival Mons (Belgien)
Istanbul Film Festival (Türkei)
SFFILM San Francisco International Film Festival (USA)
STATEMENT DER REGISSEURIN ÉLISE GIRARD

MADAME SIDONIE IN JAPAN entstand aus den Gefühlen, die ich empfand, als ich 2013 zum ersten Mal Japan entdeckte. Sobald ich mit dem Schreiben begann, dachte ich an das Gesicht von Isabelle Huppert, und ich wählte den Namen Sidonie wegen seines japanischen Gleichklangs, aber auch als Hommage an Colette, eine Schriftstellerin, die ich besonders schätze.
Mit dieser Filmreise wollte ich über die Trauer sprechen, aber auch über die Wiedergeburt, über die Liebe, die zurückkommt, wenn man sie nicht mehr erwartet. Sidonie in Japan filmt diese "Verbindung" zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Ende der Trauer und den Beginn der Liebe, die Begegnung von zwei Figuren, die Frankreich und Japan verkörpern könnten.
Mein Film ist auch eine Liebeserklärung an dieses Land, dem ich mich sowohl nahe als auch fremd fühle, wobei meine Vorliebe für das Antike und das Ultramoderne ein echtes Echo findet, wie ein ständiges Kommen und Gehen zwischen den beiden, was Japan für mich zu einem Land der Wahl für das Kino macht.



PRODUCER´S NOTE DES CO-PRODUZENTEN FELIX VON BOEHM

Mit SIDONIE IN JAPAN wird uns die Regisseurin Elise Girard (BELLEVILLE TOKYO, DRÔLES D’OISEAUX) in die ihr vertraute, aber immer noch geheimnisvolle Welt Japans entführen, wo sie bereits ihr Spielfilmdebüt realisierte und 2017 im Rahmen des Louis Lumière Stipendiums des Institut Francais ein weiteres halbes Jahr verbrachte. Im Rahmen dieses Stipendiums entstanden die ersten Ideen für das Spielfilmvorhaben SIDONIE AU JAPON für dessen Hauptrolle die Regisseurin ihre enge Freundin Isabelle Huppert gewinnen konnte, an deren Seite mit August Diehl und Tsuyoshi Ihara zwei ebenso hervorragende Schauspieler aus Deutschland und Japan spielen werden.
Wir sind davon überzeugt, dass MADAME SIDONIE IN JAPAN ein schauspielerisch und ästhetisch auf höchstem Niveau unterhaltender Spielfilm werden kann. Außerdem verspricht die im Buch angelegte und aus der japanischen Kultur stammende Geister-Thematik eine ebenso berührende wie spannende Kino-Erfahrung, die sowohl ein Arthouse affines Kinopublikum ansprechen wird als auch durch die zentralen Themen Liebe, Abschied und Trauerbewältigung ein breites Primetime-Publikum unterhalten kann.
Mit LUPA FILM begeistern wir uns seit vielen Jahren für internationale Koproduktionen (EDEN, THF-CENTRAL AIRPORT, L’AUDITION) und freuen uns auch mit diesem Projekt einen Beitrag zum interkulturellen Dialog zwischen Europa und Japan leisten zu können. Gemeinsam mit unseren Koproduktionspartnern möchten wir SIDONIE im Herbst 2021 in Japan, Frankreich und Deutschland realisieren und planen eine Fertigstellung für eine Premiere auf einem der internationalen A Festivals. Wir freuen uns mit INDIE SALES bereits einen exzellenten und zu diesem besonderen Projekt passenden Weltvertrieb an unserer Seite zu wissen sowie auf deutscher Seite den Verleih DCM und hoffen nun auf weitere Finanzierungspartner.



INTERVIEW MIT REGISSEURIN ÉLISE GIRARD

MADAME SIDONIE IN JAPAN ist Ihr dritter Spielfilm. Ihr erster hieß 2011 BELLEVILLE TOKYO. Ihre Liebe zu Japan existiert also schon etwas länger…
Tatsächlich ist allerdings BELLEVILLE TOKYO ein komplett französischer Film, der auch nur dort spielt. Der Protagonist belügt seine Freundin und erzählt ihr, er würde beruflich nach Japan reisen, während er sich in Wirklichkeit in einem anderen Pariser Stadtteil vor ihr versteckt. Belleville steht für die Realität, Tokyo für die Fiktion. In diesem Film war Japan nur eine Fantasie, so wie es das Land für viele Cinephile ja häufig ist. Als ich früher die Pressearbeit für die Action-Kinos in Paris machte, habe ich auch die Wiederaufführung diverser alter japanischer Filmklassiker von Ozu, Mizoguchi oder Naruse organisiert. Der erste Bezug, den ich zu diesem Land hatte, war also immer schon vom Kino geprägt.

Letztlich war dann BELLEVILLE TOKYO der Grund, warum Sie tatsächlich das erste Mal selbst nach Japan gereist sind, richtig?
2013 lud mich der japanische Verleih des Films ein. Ich verbrachte eine Woche in Japan und war in Osaka, Kyoto und Tokyo. Für mich war es das allererste Mal, dass ich überhaupt in einem asiatischen Land war. Obwohl es nur ein kurzer Aufenthalt war, erwies er sich als enorm wichtig und berührend für mich. Ich war die einzige französische Person, umgeben von lauter Japaner*innen. Und genau wie Sidonie in meinem Film musste auch ich etliche Interviews geben und habe erfahren, wie seltsam es sein kann, wenn dein Französisch ins Japanische übersetzt wird und umgekehrt.
Während dieser Woche habe ich erlebt, was für ein ungewöhnliches Land Japan ist, in dem alles ganz anders zu laufen scheint als bei uns in Frankreich. Außerdem war ich überrascht davon, wie still und zart die Menschen dort sind. Die Emotionen, die ich während meiner Reise spürte, waren für mich nicht nur neu, sondern auch unglaublich tief. Ohne dass es mir damals unbedingt sofort bewusst war, hat mich die Reise sehr aufgewühlt.
Nach meiner Rückkehr nach Paris begann ich, ein wenig klarer zu sehen. Ich fing an, alles, was ich erlebt hatte, aufzuschreiben, und alle Gefühle, die der Trip in mir ausgelöst hatte, in Worte zu fassen. Das war mir ein echtes Bedürfnis, wie ich überhaupt oft den Drang verspüre, meine Erfahrungen irgendwie festzuhalten. Die Idee für den Film entstand dann ziemlich schnell – und ich verstand auch mehr, warum die Reise nach Japan so viel in mir ausgelöst hatte.
In den Tagen dort hatte ich zum ersten Mal wirklich auf mein bisheriges Leben zurückgeblickt, was viel damit zu tun hatte, dass BELLEVILLE TOKYO ein mehr oder weniger autobiografischer Film war, dem ich dort zwei Jahr nach dem französischen Kinostart zum letzten Mal all meine Aufmerksamkeit widmete.
Aber vor allem lag es daran, dass ich mich plötzlich meines alltäglichen Lebens so entfremdet fühlte, geographisch wie spirituell. Mit einem Mal merkte ich, dass es mir – entgegen meiner vorherigen Wahrnehmung – eigentlich nicht schlecht ging. Sicher, ich hatte ein paar schwierige Erfahrungen hinter mir, nicht zuletzt als alleinerziehende Mutter. Doch die lagen hinter mir und es ging mir gut. So verstand ich auch, was eines der größten Geschenke ist, die das Kino uns machen kann: es kann uns dabei helfen zu leben, zu akzeptieren und zu verstehen, was wir durchgemacht haben.

Einerseits ist das Kino für Sie ein Weg, Ihre eigene Geschichte zu erzählen, und andererseits hilft es Ihnen dabei, eben diese Geschichte zu überwinden. Können Sie das noch ein wenig ausführen?
Jeder Film, den ich drehe, entsteht aus dem Wunsch, dass ich eine Emotion aufschreiben und greifbar machen will, um sie besser zu verstehen. Mit DRÔLES D‘OISEAUX wollte ich jene Aspekte einer Liebesgeschichte zeigen, die in Filmen sonst eher nicht zu sehen sind: die kleinen Details, das Schweigen, wie langsam und ruhig Liebe wachsen kann. Und in MADAME SIDONIE IN JAPAN ging es mir darum zeigen, was passiert, wen jemand sich plötzlich sehr weit weg von zuhause wiederfindet. Sidonie kommt praktisch bei sich selbst an, obwohl es fast so ist, als habe sie jemand wie ein Möbelstück einfach genommen und wo ganz anders hingestellt. Genau so habe ich mich damals jedenfalls gefühlt!
Wohl auch deswegen hat es mich sehr bewegt, irgendwann Isabelle Huppert die Worte sagen zu hören, die ich für sie geschrieben habe. Worte, die davon zeugen, wie es sich anfühlt, wenn man sich fehl am Platz oder verloren fühlt und nicht recht zu begreifen scheint, was um einen herum passiert. Ich sage immer, dass ich nicht wirklich gut darin bin, zu verstehen, was in meinem Leben passiert. Aber ich halte das auch nicht für ein Problem. Im Gegenteil, die Schwierigkeit oder gar das Unvermögen, etwas zu verstehen, genieße ich eigentlich sehr. Man muss nicht alles begreifen. Trotzdem bin ich sehr dankbar, dass mir Fiktion, Kino und Kunst allgemein zumindest zu ein bisschen mehr Verständnis verhelfen.

Ihre erste Reise nach Japan fand 2013 statt. Wann fuhren Sie das nächste Mal hin?
Das war 2017, ein halbes Jahr nach dem französischen Kinostart von DRÔLES D‘OISEAUX. Danke eines Stipendiums des Institut Français konnte ich anderthalb Monate in Kyoto verbringen. Dort habe ich dann das Drehbuch zu SIDONIE IN JAPAN geschrieben. Meine eigenen Erfahrungen waren dafür die Inspiration, aber natürlich habe ich auch einiges verändert. Mir war es zum Beispiel wichtig, dass Sidonie entdeckt, wie modern Japan sein kann. Deswegen verbrachte ich ein bisschen Zeit auf der Insel Naoshima, wo ich das berühmte, von Tadao Ando gebaute Benesse House Museum besuchte. Anfang 2019 unternahm ich dann eine dritte Reise nach Japan, um die Schauspieler*innen zu casten.
Im August 2021 reiste ich wieder hin, weil wir eigentlich einen Monat später mit den Dreharbeiten beginnen wollten. Doch dann mussten wir wegen Covid noch einmal verschieben und drehten schließlich im Juni und Juli 2022. Es war ziemlich anstrengend: erst waren wir in Japan, dann drei Tage in Frankreich, anschließend zwei Wochen in Deutschland und schließlich noch einmal in Frankreich. Die erste Szene des Films, wenn Sidonie in ihrem Apartment Zweifel kommen, ob sie wirklich abreisen soll, war die letzte, die wir gedreht haben.

MADAME SIDONIE IN JAPAN ist nicht nur ein französischer Film, sondern auch ein japanischer – und ein deutscher!
Zunächst arbeitete ich mit der japanischen Produzentin Michiko Yoshitake zusammen, die häufig mit dem Regisseur Nobuhiro Suwa kollaboriert hatte. Wir erhielten auch einen Förderzuschuss. Leider verstarb Michiko im Juni 2019. In dem Wissen, dass sie krank war, hatte sie bereits eine Partnerschaft mit Sébastien Haguenauer aufgebaut, der unser französischer Produzent wurde. Außerdem kam mit Felix von Boehm ein deutscher Produzent an Bord, dazu noch ein japanischer und ein Schweizer.

Woher stammte die Crew?
Während des Drehs in Japan war das Team halb Japanisch, halb Französisch, jeweils zehn Leute. Später in Frankreich und Deutschland sah die Zusammenstellung ein wenig anders aus.

Was Ihre Protagonistin angeht, sind Sie von der autobiografischen Inspiration ein wenig abgewichen. Warum ist Sidonie nun älter als Sie – und statt Regisseurin eine Schriftstellerin?
Ich wollte, dass Sidonie auf ihre Vergangenheit zurückblickt, so wie ich das auf meiner ersten Reise nach Japan getan habe. Aber mir war wichtig, dass sie deutlich mehr Erfahrung hat als ich, damit ihre Geschichte auch wirklich genug hergibt für einen Film. So kam mir die Figur einer französischen Schriftstellerin in den Sinn, die mal sehr berühmt war und sich später dazu entschloss, das Schreiben aufzugeben. Ein bisschen so wie J.D. Salinger, den ich sehr bewundere. Diese Frau musste ich dann nur noch nach Japan schicken und dort beobachten, wenn man so will. Ich wollte sehen, wie sie in dieser Umgebung reagiert, psychisch wie physisch. Ihre Körperlichkeit und ihre Gesichtsausdrücke waren wirklich etwas, womit wir viel gespielt haben.

In Japan trifft Sidonie unerwartet auf den Geist ihres verstorbenen Ehemannes…
Als ich damals das erste Mal in Japan war, wurde mir plötzlich sehr klar, warum es im japanischen Kino nur so wimmelt von Geistern. Und ich wollte, dass auch in meinem eigenen Film einer vorkommt. Allerdings sollte mein Geist mehr gemein haben mit dem von Rex Harrison gespielten in Mankiewiczs EIN GESPENST AUF FREIERSFÜSSEN als mit den Geistern bei Akira Kurosawa. 2017 lud mich in Japan eine Freundin zum Essen bei ihrer Mutter ein, die schon seit Jahren verwitwet war. Trotzdem war der Tisch für vier gedeckt – und die vierte Person war ihr verstorbener Mann. Für die Mutter meiner Freundin war das der Weg, wie sich ihr Leiden leichter ertragen ließ. Und tatsächlich war das auch kein bisschen seltsam, alle haben das mit großer Selbstverständlichkeit mitgemacht. Durch dieses Abendessen kam mir der Einfall eines ruhigen, freundlichen Geists, der das alles andere als ruhige Leben seiner Frau heimsucht. Diesen Gegensatz fand ich reizvoll und lustig. Antoines Geist ist letztlich eine ganz normale Person, was auch an einer tiefen Grundüberzeugung von mir liegt: der Tod ändert nicht wirklich etwas daran, was wir für einen geliebten Menschen empfinden oder wie wir an ihn denken.

Jedes Mal, wenn Antoine auftaucht, sieht das sehr unspektakulär und fast natürlich aus…
Praktisch jede von Antoines Szenen ist mit Greenscreen entstanden. Für die stand Isabelle Huppert tatsächlich allein vor der Kamera und ich habe ihr Antoines Sätze zugerufen. Überhaupt habe ich für diesen Film bewusst und sehr gerne mit Greenscreen gearbeitet, um einige Bilder zu erzeugen, die auf anderem Wege unmöglich gewesen wären. Wenn etwa Sidonie und Kenzo auf der Insel Naoshima mit dem Taxi fahren, sieht man auf beiden Seiten des Autos durchs Fenster die gleiche Landschaft.
Das Japan, das ich in diesem Film zeige, ist ein anderes als das, das man sonst in Filmen sieht. Normalerweise geht es hektisch und laut und verrückt zu, doch „mein“ Japan ist ein seltsamer, sehr friedlicher Ort. Fast ein wenig matt. Genau so habe ich das Land nämlich beim ersten Mal wahrgenommen. Ich empfinde es auch nicht als verstörend, wenn etwas seltsam ist. Wie schon gesagt: damit, nicht alles zu begreifen, habe ich gar kein Problem. Täglich mit Unverständnis und Missverständnissen umgehen zu müssen, erscheint mir nur natürlich. Die japanische Mentalität ist für uns schwer nachvollziehbar, aber den Japanern geht es umgekehrt mit uns genauso. Und das ist doch nicht schlimm. Daraus entstehen interessante und witzige Situationen, was mich sehr reizt.
Ich hatte auch schon immer etwas übrig für fremdländische Akzente, die ja auch im Zusammenhang mit einer Form von Unverständnis stehen. Nicht dass das etwas ist, was in SIDONIE zwingend in den Vordergrund rückt. Aber es ist auf jeden Fall spannend, wie die Protagonistin hier zwischen zwei Akzenten pendelt, dem deutschen ihres verstorbenen Mannes und dem japanischen von Kenzo, ihrem Verleger.

Sidonies Weg führt sie ja letztlich von einem Mann und einer Liebe zum nächsten…
Wege, Übergänge, Passagen – für mich gibt es in einer Lebensgeschichte nichts Entscheidenderes. Und das gilt natürlich nicht zuletzt für den Wechsel von einem Mann zum nächsten. Der Hauptgrund für die Existenz von Antoines Geist ist, dass er Sidonie dabei hilft, Kenzo wirklich wahrzunehmen. In DRÔLES D‘OISEAUX gab es eine ähnliche Geschichte: da entpuppte sich der von Pascal Cervo gespielte Aktivist irgendwann als jüngere Version des von Jean Sorel verkörperten Protagonisten Georges. Sie sind letztlich dieselbe Person, an verschiedenen Stellen ihrer Geschichte.
Solange Sidonie noch um Antoine trauert, wird sie sich nie auf einen anderen Mann einlassen können. Das ist eine sehr japanische Herangehensweise an die Liebe. Solange eine Frau gedanklich von einem Mann besessen ist, kann sie sich in keinen anderen verlieben. Womöglich könnte man sagen, dass Sidonie sich Antoines Geist nur erträumt, um loslassen zu können… Oder vielleicht ist es wirklich Antoine, der in Sidonies Zimmer immer das Fenster aufmacht und ihren Koffer an den Fuß der Treppe stellt. Einfach um zu ermöglichen, dass sie und Kenzo sich näherkommen.

Warum besetzten Sie die Rolle des Antoine mit dem deutschen Schauspieler August Diehl?
Zunächst einmal sieht er einfach sehr besonders und speziell aus. Anders als viele habe ich ihn nicht das erste Mal in Tarantinos INGLOURIOUS BASTERDS gesehen, sondern in SCHWARZER DIAMANT, dem Debüt von Arthur Harari. Und später wieder in Terrence Malicks EIN VERBORGENES LEBEN. Von einer Rolle zur nächsten scheint er nicht nur sein Aussehen, sondern auch sein Alter zu verändern. August hat außerdem etwas sehr Westliches an sich, mit seinen großen Augen und diesen gleichermaßen verschmitzten wie engelsgleichen Blicken. Abgesehen davon ist er sehr lebhaft und witzig. Einen Teil seiner Kindheit hat er in Frankreich verbracht, deswegen spricht er fließend Französisch. Außerdem ist er ein echter Theaterschauspieler. Zu Isabelles Freude stellte sich heraus, dass er während unserer Dreharbeiten gerade an jenem Theater spielte, wo sie einst mit Michael Haneke DIE KLAVIERSPIELERIN gedreht hatte.

Wie trafen Sie auf Tsuyoshi Ihara, der nun den Kenzo spielt?
Im März 2019 organisierten wir in Japan ein Casting, zu dem alle großen japanischen Stars kamen. Ich suchte nach jemandem, der eine imposante Erscheinung war. Tsuyoshi Ihara ist ein sehr attraktiver Mann – und ziemlich groß, während Isabelle Huppert ja eher klein ist. Dieser Gegensatz gefiel mir gut. Außerdem ist Tsuyoshi sehr berühmt, als Kino- und Fernsehstar, aber auch als Sänger und Model. Er ist zum Beispiel die männliche Muse von Yoshi Yamamoto. Er dürfte um die 60 Jahre alt sein, sieht aber auf jeden Fall jünger aus. Ähnlich wie bei August kann man sein Alter praktisch nicht einschätzen. Weil er in Los Angeles lebt, spricht er hervorragend Englisch, was die Kommunikation zwischen uns deutlich einfacher machte. Und es half ihm auch dabei, seinen französischen Text zu lernen.
Ich liebe es, wie seltsam sein Französisch klingt. Georges in DRÔLES D‘OISEAUX hatte auch eine ungewöhnliche Art zu sprechen. Ich mag es sehr, wenn Menschen auf der Leinwand nicht so reden, wie wir es gewohnt sind. Mir gefällt es, wenn ihre Sprache etwas Musikalisches hat. Überhaupt liebe ich Dialoge: ich schreibe sie gerne und ich höre sie gerne. Tsuyoshi und ich haben viel via Skype geprobt; das half mir dabei, diese besagte Musikalität zu finden.

Für die Hauptrolle hatten Sie immer Isabelle Huppert im Sinn, richtig?
Isabelles Tochter Lolita Chammah spielte die Hauptrolle in meinem Film DRÔLES D‘OISEAUX und stellte mich ihrer Mutter vor. Ich kannte Isabelle also schon, wenn auch weniger aus einem beruflichen Kontext. Aber gerade deswegen reifte die Idee in mir, mit ihr arbeiten zu wollen. Eben weil ich sie in einem privaten Setting kennen gelernt habe, nehme ich sie anders wahr als viele andere. Ich habe sie als sehr warmherzige, witzige Person kennen und schätzen gelernt, die kein bisschen kühl oder einschüchternd wirkt. Vielmehr würde ich sagen, dass sie privat eine ähnliche Art hat wie ich.
Mir war wichtig, dass Sidonie sehr französisch wirkt, um den Gegensatz zu Kenzo zu betonen. Anfangs habe ich gezögert und sicherlich ein Jahr gewartet, bis ich Isabelle gefragt habe. Aber sie war einfach die naheliegendste Wahl. Jeder, der das Drehbuch las, hatte als erstes sie im Kopf. Unmittelbar vor Drehbeginn war ich dann nochmals unsicher und fragte mich, ob sie wohl bei der Arbeit ganz anders sein würde als ich sie kennen gelernt hatte. Aber damit hätte ich nicht verkehrter liegen können.
Sobald sie Sidonies Kostüme trug, war es unübersehbar, dass Isabelle genau wusste, was sie tat. Und als hätte sie meine Sorge gespürt, versicherte sie mir, dass sie alles dafür tun würde, genau den Film zu machen, der mir vorschwebte. Was sie auch tat. Wir drehten sogar früh morgens ohne Genehmigung im Shinkansen, Japans legendärem Schnellzug. Isabelle war wirklich zu allem bereit, ohne dass ich auch nur das kleinste Detail an meinen Plänen ändern musste. Man kann mit ihr alles machen, was vermutlich auch daran liegt, dass sie es aus ganzem Herzen liebt, Schauspielerin zu sein und Zeit am Set zu verbringen. Wenn wir Sidonie in Naoshima schlafen sehen, dann ist das Isabelle, wie sie tatsächlich schläft. Die Arbeit mit ihr hat mir vor Augen geführt, was für ein bemerkenswert talentierter Star sie ist. Sobald sie vor der Kamera in die Ferne blickt, kann man als Zuschauer*in gar nicht anders als sich vorzustellen, woran sie wohl denkt oder wovon sie träumt. Ihr Gesicht ist eine wahre Landschaft.

Warum heißt der Film eigentlich MADAME SIDONIE IN JAPAN? Das klingt in seiner Schlichtheit fast nach einem Kinderbuch…
Der Name Sidonie ist, wie schon erwähnt, eine Verneigung vor meiner Lieblingsautorin Colette, die mit echtem Vornamen Sidonie hieß. Aber der Titel ist auch eine Anspielung an Rohmers PAULINE AM STRAND, der ja alles andere als ein Film für Kinder war.
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Mittwoch 03.07.2024
BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF
Ab 4. Juli 2024 im Kino
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Von Ostpreußen an die West Coast – Von Hermann Hesse zu Harley-Davidson
Mit John Kay – der „erfolgreichste deutsche Rocksänger aller Zeiten“ (Die Zeit)
Eine Rockumentary made in Germany

Ein Film von Oliver Schwehm

Steppenwolf ist eine der legendärsten und zugleich rätselhaftesten Bands in der Geschichte der Rockmusik. An der Grenze zwischen Mainstream und psychedelischem Underground eröffnete ihr Song „Born to Be Wild“ den Kultfilm EASY RIDER und wurde zur Hymne einer ganzen Generation. Der neue, harte Sound von Steppenwolf war ein Stich in das Herz des „Summer of Love“ und beendete das Hippie-Zeitalter. Es ist kein Zufall, dass sie die allererste Band war, die das Wort „Heavy Metal“ in ihren Texten verwendete.

Was aber nur wenige Menschen wissen: Die Band Steppenwolf hatte als Gravitationszentrum zwei deutsche Auswandererkinder, die sich zunächst in Toronto trafen, bevor sie gemeinsam nach Kalifornien weiterzogen – Sänger John Kay (geboren als Joachim-Fritz Krauledat) war ein Kriegsflüchtling aus Ostpreußen. Bassist Nick St. Nicholas (geboren als Karl Klaus Kassbaum) stammte aus einer angesehenen hanseatischen Familie.

BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF führt uns vom kriegsgebeutelten Deutschland zu den Straßen der Arbeiterklasse in Toronto und nach Los Angeles, wo die Band zu Ruhm aufsteigt und dann abstürzt. Mit den Steppenwolf-Mitgliedern John Kay, Nick St. Nicholas, Michael Monarch, den Künstlern Mars Bonfire, Alice Cooper, Taj Mahal, Cameron Crowe (ALMOST FAMOUS), Klaus Meine (Scorpions), Jello Biafra (Dead Kennedys), Dale Crover (Melvins) und Bob Ezrin (Produzent von u. a. Kiss, Pink Floyd, Taylor Swift). Musikalisch hat der Film auch einiges zu bieten, so enthält er über ein Dutzend Original-Steppenwolf-Songs.


Oliver Schwehm (Buch & Regie)

Oliver Schwehm wurde 1975 in Mainz geboren. Er studierte Germanistik und Romanistik, gefolgt vom Studiengang Dokumentarfilm an der Universität Straßburg.
Schwehm versteht es, verborgene Geschichten aufzuspüren und diese in akribischer Recherche zu durchdringen und aufzuarbeiten, wie beispielsweise in CINEMA PERVERSO, in dem er die untergegangene Welt der deutschen Bahnhofkinos wieder auferstehen lässt. Seine Werke zeichnen sich stets durch einen hohen Anteil an unbekannten Archivmaterialien aus, sowie Zugang zu besonderen Protagonisten, die „First Hand“ die Geschichte erzählen. So gelang es Schwehm für BORN TO BE WILD beispielsweise den sagenumwobenen Songwriter Mars Bonfire ausfindig zu machen, der einst den gleichnamigen Song schrieb, jahrzehntelang als verschollen galt und den Schwehm schließlich in der Wüste Nevada fand.
In seinen zwei Filmen FLY ROCKET FLY (2018) und DEUTSCHE RAKETEN FÜR GADDAFI (2021) erzählte er die Geschichte der ersten privaten Raumfahrtfirma OTRAG, die Mitte der 1970er-Jahre von Stuttgart aus aufbrach, um erst im kongolesischen Urwald und dann in der libyschen Wüste Raketen zu testen. Die Tagesthemen urteilten über FLY ROCKET FLY: „Der perfekte Stoff für einen Spielfilm – als Dokumentarfilm beinahe zu fantastisch.“
Zuletzt erzählte Schwehm in KALANAG – DER MAGIER UND DER TEUFEL die vergessene Geschichte des deutschen Filmproduzenten und Magiers Helmut Schreiber, der im Nationalsozialismus Karriere als Produzent machte und anschließend zum bekanntesten Zauberkünstler der Nachkriegszeit wurde, der es bis in die amerikanische Ed Sullivan Show schaffte.

Schwehms Filme dienen immer wieder als Vorlage für fiktionale Adaptationen. So lieferte sein Film MILLI VANILLI – FROM FAME TO SHAME (2015) die Inspiration für Simon Verhoeven musikalisches Biopic GIRL YOU KNOW IT’S TRUE, auch eine Adaption von FLY ROCKET FLY ist in Arbeit.


Filmografie (Auswahl)

2024 - BORN TO BE WILD (Buch & Regie)
2021 - KALANAG – DER MAGIER UND DER TEUFEL (Buch & Regie) – bei MFA+ im Verleih
2018 - DER UNERSCHROCKENE: DER BERLINER FILMPRODUZENT ARTUR BRAUNER (Regie, gemeinsam mit Kathrin Anderson)
2018 - FLY, ROCKET, FLY! – MIT MACHETEN ZU DEN STERNEN (Buch & Regie)
2016 - MILLI VANILLI: FROM FAME TO SHAME (Buch & Regie)
2015 - CINEMA PERVERSO – DIE WUNDERBARE UND KAPUTTE WELT DES BAHNHOFSKINOS (Buch & Regie)
2014 - ARNO SCHMIDT – MEIN HERZ GEHÖRT DEM KOPF (Buch & Regie) – bei MFA+ im Verleih
2011 - GERMAN GRUSEL – DIE EDGAR WALLACE-SERIE
2010 - CHRISTOPHER LEE – GENTLEMAN DES GRAUENS
2007 - WINNETOU DARF NICHT STERBEN


Director’s Note

„Nach über fünf Jahren Arbeit an diesem Film freue ich mich, dass BORN TO BE WILD nun in die Kinos kommt. Dieser Film musste einfach gemacht werden, er gehört zu der seltenen Art von Geschichten, bei der die Realität die Fiktion übertrifft.

Neben True Crime und Sport sind aktuell im Doku-Bereich ja vor allem Musikdokus ein gefragtes Genre - wobei die überwiegende Mehrheit dieser Produktionen aus Amerika stammt. Mit BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF wollten wir den Beweis antreten, dass auch eine Rockumentary made in Germany möglich ist.

BORN TO BE WILD soll natürlich vor allem Spaß machen – das Publikum mit Steppenwolf-Sound volltanken lassen und auf einen gemeinsamen Trip mitnehmen. Wichtig war mir, dass man ein wirkliches Gefühl für die Musik bekommt, diese einzigartige Mischung aus Elementen von Rock, Blues, Funk, Psychedelic und Heavy Metal.

Auch der Humor soll nicht zu kurz kommen. Einer meiner Lieblingsmomente sind gerade auch die Jahre nach der eigentlichen Blütezeit, wenn einzelne Bandmitglieder versuchen, die auseinandergebrochene Gruppe zu reaktivieren und plötzlich mehrere Bands namens Steppenwolf durch die Lande ziehen und sich einen Wettstreit liefern, wer denn nun den härtesten Sound habe.

Ein ganz besonderer Schatz sind die 20 Stunden Super-8-Aufnahmen, die uns der Bassist Nick St. Nicholas zur Verfügung gestellt hat, die wir für den Film aufwendig restaurieren konnten und die uns direkt ins verrückte Kalifornien der späten 1960er-Jahre zurück beamen, in der Steppenwolf mit The Doors, Creedence Clearwater Revival und Janis Joplin auftraten – und der Konsum von LSD allgegenwärtig war und noch nicht unter Strafe stand.

Schließlich ist es uns gelungen – und das war ein ganz besonderer Glücksmoment – die allererste Demo-Aufnahme von "Born to Be Wild" ausfindig zu machen. Ein akustischer, intensiver Rohdiamant und eine Aufnahme von pophistorischer Bedeutung, von der weder John Kay noch die übrigen Band-Mitglieder wussten, dass sie überhaupt noch existiert, und die in diesem Film erstmals für die Öffentlichkeit zu hören sein wird.

Für den deutschen Kinostart haben wir eine eigene deutsche Fassung hergestellt. Anders als in der internationalen, rein englischen Sprachfassung erzählt uns John Kay in dieser Fassung seine Kindheits-und Jugendjahre in Arnstadt und Hannover auf Deutsch. Dieses 50er-Jahre-Straßendeutsch zu hören, das sich John über die Jahrzehnte bewahrt hat, stellt eine große emotionale Nähe zu ihm her. Auch wird John, der in diesem April 80 Jahre alt geworden ist, im Film das erste Mal überhaupt in seiner Muttersprache einen Song singen, den so niemand von ihm erwartet hätte.“
Oliver Schwehm
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Donnerstag 27.06.2024
DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS
Ab 27. Juni 2024 im Kino
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Primzahlen sind Marguerites große Leidenschaft. Die brillante Mathematikstudentin ist die einzige Frau im Promotionsprogramm unter dem renommierten Professor Werner an der École Normale Supérieure in Paris. Doch als sie bei der Präsentation vor einem Forschergremium mit einem gravierenden Fehler in ihrer Arbeit konfrontiert wird und daraufhin die Fassung verliert, lässt ihr Doktorvater sie fallen und widmet sich ganz dem talentierten Promovenden Lucas. Tief erschüttert und voller Selbstzweifel wirft Marguerite alles hin und sucht sich einen Aushilfsjob. Schnell muss sie erkennen, dass auch das Leben außerhalb der Universität überraschende Erkenntnisse bereithält und sich weder die Mathematik noch Lucas so einfach aus ihrem Leben verbannen lassen.

Authentisch und einfühlsam spielt Ella Rumpf (RAW, FREUD, TIGER GIRL) eine hochbegabte junge Frau, die lernen muss, dass sich die großen mathematischen Rätsel nicht allein am Schreibtisch lösen lassen. Der sensible Film um die Schönheit von Zahlen und die vielen Variablen auf dem Weg zur Selbstbestimmung feierte Premiere im Rahmen der Special Screenings bei den Filmfestspielen von Cannes 2023.

Ein Film von ANNA NOVION
Mit ELLA RUMPF, JEAN-PIERRE DARROUSSIN, CLOTILDE COURAU, JULIEN FRISON u.a.



Interview mit ANNA NOVION

Die „Ecole Normale Supérieure“ (ENS) ist ein geschlossener Kosmos, der für Außenstehende geheimnisvoll erscheint. Warum haben Sie diese Umgebung als Ausgangspunkt für den Film gewählt?
Wenn ich einen Film beginne, gehe ich immer von einem Gefühl aus, das ich erlebt habe, das mich fasziniert und das ich erforschen möchte. Als ich etwa 20 Jahre alt war, wurde ich krank und musste sechs Monate lang in der Klinik bleiben. Nach meiner Genesung spürte ich eine Distanz zu den Menschen in meinem Alter, ich fühlte nicht mehr dieselbe Unbeschwertheit. Ich überlegte, wie ich der Welt und den anderen von dieser Distanz erzählen könnte. Ich dachte an die Grandes Ecoles, wo sich die Schüler manchmal von ihrer Außenwelt abschotten, sich auf ihr Studium fokussieren, und sehr schnell erschien mir das Umfeld der Mathematik als naheliegend. Die Welt der Mathematik – und im weiteren Sinne auch die „Ecole Normale Supérieure“, kurz ENS – wurde selten im Film dargestellt, und schon gar nicht mit einer Mathematikerin als Heldin. Ausschlaggebend war meine Begegnung mit Ariane Mézard, einer der wenigen großen französischen Mathematikerinnen. Zwischen uns entwickelte sich sofort eine Freundschaft, es war, als ob wir uns wiedererkannt hätten, was mich überwältigt hat.
Sie ist einfühlsam, direkt, ehrlich, offen für andere. Sie strahlt eine beeindruckende Stärke aus, in der viel Verletzlichkeit steckt, ein offensichtliches Selbstbewusstsein, das sich dennoch immer dafür zu entschuldigen scheint, dass es da ist. Sie war die erste, die mit mir auf künstlerische Weise über Mathematik sprach, indem sie Poesie, Fantasie und all das, was mich auch in meinem Beruf antreibt, nannte. Indem sie mir von ihrer Leidenschaft erzählte, erzählte sie mir auch von meiner.

Gilles Deleuze sagte sehr treffend, dass ein Wissenschaftler genauso viel erfindet und erschafft wie ein Künstler ...
Mit Mathieu Robin, meinem Co-Drehbuchautor, haben wir eine Figur geschrieben, die sich sehr stark an Ariane orientierte und gleichzeitig von mir erzählte. Regisseurin zu sein bedeutet, nie etwas loszulassen. Marguerite hat einen starken Willen, eine Form der Selbstverleugnung und eine
Leidenschaft, in der ich mich wiedererkenne. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Engagement und die Hartnäckigkeit, die unsere Berufe erfordern. Mathematiker können ihr ganzes Leben lang versuchen, ein Problem zu lösen, ohne dass sie sicher sind, dass es ihnen gelingt. Auch Filmemacher gehen das Risiko ein, dass ihr Projekt jederzeit scheitern kann. Es hat etwas von einem Glaubensakt. Mathematiker zu sein, ist wie der Eintritt in eine Religion. Im Film hat Marguerite eine sehr reine Beziehung zur Mathematik, eine Art Hingabe.

Werner ist nicht nur ein Mentor für Marguerite, sondern auch ein Bezugspunkt zu dieser „Religion“. Seiner Meinung nach sollte „die Mathematik frei von Gefühlen sein“.
In der Mathematik ist die Konkurrenz groß. Diejenigen, die in der Forschung tätig sind, wissen, dass sie zur Elite gehören. Das ist auch bei Werner der Fall. Er ist ein ehrgeiziger Mann, der das Gefühl hat, dass sein Talent nicht anerkannt wurde. Daraus hat er Ressentiments geschöpft. Er glaubt zwar immer noch an die Mathematik, aber die Frustration nagt an ihm. Werner ist eine Machtfigur, die Marguerite an der Selbstverwirklichung hindert. Seit ihrem Eintritt in die ENS sieht sie ihn als Beschützer und beschwört Gefühle herauf, wo er ihr Distanz auferlegt. Sie versucht, ihm zu gefallen, so wie eine Tochter von ihrem Vater geliebt werden möchte. Werner ist nicht in der Lage, diesen Platz einzunehmen, und es ist auch nicht seine Rolle. Marguerite fühlt sich an einem bestimmten Punkt von ihm betrogen. Ich urteile nicht: Marguerite ist nicht das Opfer und Werner nicht der Henker. Beide haben ihre eigene Wahrheit.

Das Thema der Abstammung nimmt in all Ihren Filmen einen zentralen Platz ein. Wie erklären Sie sich das?
Es hängt mit meiner persönlichen Geschichte zusammen, zweifellos mit der Beziehung, die ich zu meinem Vater habe. Es ist kein Zufall, dass meine Filme mit Figuren beginnen – die von Jean-Pierre Darroussin und hier die von Ella Rumpf verkörperten –, die in ihren Gewissheiten festgeschraubt sind und Angst haben, sich zu öffnen. Dann kommt es zu einem Ereignis, das sie zwingt, einen Schritt zur Seite zu machen, loszulassen und ihre Verletzlichkeit in eine Stärke zu verwandeln.
Ich möchte meine Figuren auf eine Entwicklungsreise mitnehmen, sie dabei beobachten, wie sie sich der Welt öffnen, erwachsen werden und sich von Autoritätspersonen lösen. In WIR SIND ALLE ERWACHSEN ist es eine Teenagerin (gespielt von Anaïs Demous?er), die sich während der Ferien auf einer kleinen schwedischen Insel von ihrem Vater emanzipiert. In RENDEZ-VOUS IN KIRUNA wird die Geschichte aus der Sicht des Vaters erzählt, wobei das Thema der Anerkennung im Vordergrund steht. In DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS ist es Marguerite, die die Erzählung anführt, sie ist es, die sich durch ihre Arbeit quält, um Werner zu beweisen, dass sie seinen Platz verdient. Und diese Überzeugung nährt seine Wut. Marguerite macht nach und nach deutlich, was sie von Werner erwartet: Anerkennung als vollwertige Mathematikerin. Sie ist nicht hier, um die
Quoten zu erfüllen!

Wie in jeder Coming-of-age-Geschichte begegnet Marguerite Menschen, hier den Figuren Noa und Lucas, die den Lauf ihres Lebens verändern und die sie auch selbst beeinflussen wird.
Noa und Lucas stehen mehr im Leben als Marguerite. Noa ist Tänzerin, sie drückt sich durch ihren Körper aus, sie hat daraus eine Kunst gemacht, während Marguerite sich nie um ihr Äußeres gekümmert hat. Noa stürmt wie ein kleiner Wirbelsturm in Marguerites Leben, aber sie haben Gemeinsamkeiten. Sie sind beide leidenscha?lich in ihrem Beruf, haben keine Vorurteile, sie sind überrascht über die Unterschiede der anderen, aber jede akzeptiert die andere so, wie sie ist. Marguerites Redefreiheit verblüfft Noa, Noas Freiheit als Frau inspiriert Marguerite. Lucas ist geselliger und weniger ernsthaft als Marguerite, er studiert mit dem Ziel, erfolgreich zu sein und eine gewisse Form von Ruhm zu erlangen. Es ist die Leidenschaft für Mathematik, die sie verbindet.
Marguerite hingegen erlaubt es sich nicht, von etwas anderem zu träumen, sie hat sogar das Gefühl, dass ihre Weiblichkeit ihr Talent abwerten könnte. An der ENS hat sie alles getan, um sich in die Masse einzufügen, d. h. Wie die männlichen Studierenden zu sein, die ihre Schwächen und ihre Sensibilität verbergen müssen. Lucas bemüht sich, Marguerite davon zu überzeugen, dass Gefühle zu haben sie nicht schwächen wird. Für Marguerite besteht das Problem darin, dass Gefühle von Natur aus irrational sind und sie sie nicht wie eine wissenschaftliche Argumentation beherrschen kann. Die beiden sind der perfekte Stoff für eine romantische Komödie und eine Komödie über das Zurückfinden zur Mathematik!

Eines von Marguerites ersten Erlebnissen nach dem Verlassen der Universität ist der Sex mit einem Fremden, dem sie zufällig begegnet. Wie sind Sie auf diese überraschende und witzige Szene gekommen?
Mathieu und ich haben uns einen Spaß daraus gemacht, die üblichen Verführungscodes umzukehren. Marguerite ist subversiv, ohne es zu wissen: Indem sie Yanis auf die Straße folgt, wird sie zu einer Art Raubtier, das ziemlich beängstigend ist! Sie geht auch Risiken ein, verspürt aber keine Angst. Das ist es, was Marguerite manchmal komisch macht: Sie sagt und tut Dinge, die sich niemand erlauben würde. In diesem Sinne habe ich auch die Szene mit Yanis geschnitten und gedreht. Wenn Sexszenen nichts anderes als Sex erzählen, finde ich sie peinlich. Das hat nichts mit Scham zu tun, sondern ist eine Frage der erzählerischen Relevanz. Die Szene im Film erzählt, wie Marguerite ihren Lustgewinn sucht, ohne auf ihren Partner Rücksicht zu nehmen. Er schaut sie ziemlich fasziniert an und fragt sich, wer diese entschlossene Frau über ihm ist!

Dann stolpert Marguerite in eine andere, ebenso unerwartete Welt: die der Mahjong-Partien!
Und ich bin genauso wenig eine Mahjong-Spielerin wie eine Mathematikerin! Mathieu und ich haben viel darüber nachgedacht, was einer der Dreh- und Angelpunkte des Films ist: Wie würde Marguerite, nachdem sie die ENS verlassen hat, ihre Leidenschaft wieder aufnehmen? Wir stellten fest, dass die großen Mahjong-Spieler oft Mathematiker sind: Es ist ein Spiel, bei dem man außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten braucht, um sich durchzusetzen. Das war ideal für Marguerite. Mir gefiel die Idee, sie wieder in eine reine Männerwelt zu versetzen, in der die Teilnehmer von vornherein der Meinung sind, dass sie keinen Platz hat, dass sie es den Männern nicht gleichtun kann.

Marguerites beharrliche Weigerung zu verlieren, sowohl im Spiel als auch in ihrer Forschung, führt sie an den Rand des Abgrunds. Ist dies eine Form, den Wahnsinn anzudeuten, der Genies droht?
Ich wollte diesen Schwindel für die Zuschauer spürbar machen, zeigen, dass Marguerite aus Stolz vom Weg abkommen und sich schließlich selbst verlieren könnte.
Jeder Mathematiker hat eine Geschichte über einen Kollegen zu erzählen, der verrückt geworden ist, schizophren, nie über einen Fehler hinweggekommen ist oder sich umgebracht hat. Dieser Bereich ist so arbeitsintensiv, dass das Gehirn implodieren kann. Menschen mit einer außergewöhnlichen Geistesgeschwindigkeit wollen ständig auf der Höhe ihrer Fähigkeiten sein; das ist ein andauerndes Hochgefühl und viel Druck. Man kann auch einen Vergleich zu dem ziehen, was Spitzensportler durchmachen.

Wie fiel Ihre Wahl auf Ella Rumpf, die durch RAW bekannt wurde und unter anderem in der TV-Serie „Tokyo Vice“ zu sehen war?
Es gab mit ihr kein Vorsprechen für die Rolle. Als wir uns trafen, haben wir uns viel unterhalten, ich habe sie beobachtet und wusste, dass sie es ist. Ich spürte, dass es eine faszinierende Verbindung zwischen Ella und der Figur geben könnte, und dass daraus eine spannende Marguerite entstehen würde. Ella strahlte eine Intensität und eine Fähigkeit zur Hingabe aus, die ich filmen wollte.
Wir haben uns überlegt, welches komödiantische Niveau wir mit dieser Figur erreichen wollten. Marguerite ist ein bisschen kauzig, aber sie ist auch keine Außerirdische, und wir mussten vermeiden, ins Groteske oder Karikierende abzugleiten. Vier Monate lang haben wir alle Szenen
geprobt und wiederholt, um das richtige Maß zu finden.
Zum Beispiel gibt Marguerite zu Beginn des Films ein Interview. Als sie nach ihren Hobbys gefragt wird, antwortet sie: „Ich spiele Yahtzee mit meiner Mutter“. Ihre Ernsthaftigkeit macht sie komisch. Neben der Arbeit mit Ariane Mézard, die sie in die Welt der Mathematik, ihrer Philosophie und ihrer Kalligrafie eintauchen ließ, war Ella auch körperlich involviert. Ich hatte große Lust, Marguerites Gang zu filmen. Sie ist gleichzeitig unbeholfen, ein wenig burschikos, und kommt doch direkt zum Punkt. Es ist ihr völlig gleichgültig, was andere Leute denken, und das liebe
ich an ihr. Wir leben alle in einer Welt, in der sich die Menschen gegenseitig unter die Lupe nehmen, in den sozialen Medien werden wir ständig beurteilt. Jemanden zu zeigen, der sich dieser täglichen Tyrannei entzieht, ist Teil meines Diskurses über unsere Gesellschaft.

Auch wenn Marguerite unkonven?onell ist, ist sie eine Frau von heute.
Und sie ist eine starke Frau mit einem hohen intellektuellen Niveau. Sie ist ein Vorbild in dem Sinne, dass sie eine hartnäckige und ausdauernde Kämpferin ist – noch dazu in einem sehr männlich dominierten Umfeld. Es ist schwierig, sich einen Platz zu erobern, wenn man ständig auf sein Geschlecht reduziert wird; dieser Druck treibt sie an, die Beste zu sein. Ich habe das in meinem Beruf am eigenen Leib erfahren, vor allem als ich bei Episoden von „Büro der Legenden“ Regie führte. Wenn man die einzige Frau ist, die diesen Job macht, muss man beweisen, dass man ihn
verdient hat, weil man eine Ausnahme ist, eine Anomalie. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Film so viel von mir selbst erzähle. Er ist nicht autobiografisch, sondern zutiefst persönlich, in meiner Beziehung zur Welt und zur Arbeit.
Am Set nannte man mich ständig Marguerite und Ella, Anna! Man muss eine Kriegerin sein, um in diesem Beruf Erfolg zu haben. Die Wut von Marguerite trage auch ich in mir, angesichts von Dingen im Leben, die man als ungerecht empfindet. Marguerite ist eine kleine Soldatin, die keine Befehle befolgen will, die erwachsen wird und große Macht erlangt. Ich hoffe, dass der Film durch sie Frauen dazu inspiriert, für ihre Leidenschaft zu kämpfen.

Jean-Pierre Darroussins Darstellung von Werners Unnachgiebigkeit und Härte ist beeindruckend, und dies ist ein ungewöhnliches Register für ihn.
Große Schauspieler müssen in der Lage sein, alle Register zu ziehen. Aber das französische Kino neigt manchmal dazu, sie auf die Rollen zu beschränken, die ihren Erfolg ausgemacht haben: Für Jean-Pierre sind es die sympathischen Charaktere, die voller Menschlichkeit sind, die eine sofortige Empathie hervorrufen. Ihn eine Rauheit, mehr Härte spielen zu lassen, macht seine Menschlichkeit noch trüber und lässt eine Ambivalenz entstehen, die spannend zu filmen ist. Werner hätte ein unsympathischer, toxischer Charakter sein können. Jean-Pierre verlieh ihm eine liebenswertere, zweideutige und kontrastreiche Dimension. Jean-Pierre hat viele Versionen des Drehbuchs gelesen, er hat die Figur wachsen sehen, er kennt Werner schon lange! Nach diesem langen Lernprozess hat er viel mit Ella geprobt, um ihre Dynamik zu finden. Bei den Dreharbeiten angekommen, war es wie eine Selbstverständlichkeit: Jean-Pierre hatte erfasst, was Werner sein sollte. Jemand, der keine Zeit zu verlieren hat. Auch mit Gefühlen.

Warum war es so wichtig, Ihre Inszenierung auf Marguerites Weg abzustimmen?
Meine früheren Filme waren impressionistisch, die Gefühle tauchten langsam auf, man musste sie mit kleinen Pinselstrichen und langen Einstellungen begleiten. Marguerite ist roher, direkter, was mich dazu veranlasst hat, bei der Regie den Expressionismus zu bevorzugen. Wir gehen von der ENS aus, die monochrom und still ist. Die Rahmen sind geometrisch, wie die Ordnung, die in der Einrichtung herrscht. Danach dringen Unordnung und Irrationalität in das Leben von Marguerite ein. Es gibt mehr Farben, mehr Aufnahmen mit der Schulterkamera, mehr Bewegungen, die Kamera wird leichter. Die Mathematiker sprechen auch von Spaß und Experimentierfreude. Ihr Vergnügen besteht darin, ihre Zeit dem Lösen von Rätseln zu widmen. Es ist ein Teil der Kindheit, den ich dem Film einprägen wollte. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst in Richtung eines spielerischen Kinos gehe. Meine Inspiration habe ich aus einem bestimmten amerikanischen Kino geschöpft, das die Freude des Zuschauers berücksichtigt und dafür sorgt, dass er nicht frustriert wird. Wenn ich die Filme von Paul Thomas Anderson, den Coen-Brüdern oder Tarantino sehe, ist ihre Schadenfreude spürbar. Meine Referenzen für die Darstellung der Marguerite waren ebenfalls amerikanisch: Elle Fanning, Emma Stone, Saoirse Ronan. In Europa wird eher ein naturalistischer Schauspielstil bevorzugt, es wird nach knallhartem Realismus gestrebt, bis zu dem Punkt, an dem man das Verspielte in der Interpretation auslöscht. Ich habe mich für eine Inszenierung entschieden, die ständig in Bewegung ist, wie das Gehirn von Marguerite, das konstant in Aufruhr ist. Der Film kanalisiert so die mentale Energie der Figur.

Es gelingt Ihnen sogar, die Mathematik filmisch darzustellen!
Das war eine der anderen Herausforderungen bei der Umsetzung. Wie kann man die Mathematik, die niemand versteht, organisch darstellen? Ich musste die Leidenschaft und das Engagement von Marguerite und Lucas übernehmen. Beide arbeiten sehr hart. Dies nicht zu zeigen, wäre ein Mangel an Respekt und Wahrheit gegenüber den Mathematikern gewesen. Wenn sie die Wände im Wohnzimmer schwarz anstreichen, um Gleichungen darauf zu schreiben, wollte ich, dass man den Eindruck hat, sie würden die Sixtinische Kapelle neu streichen! Diese Schriften sind wie Hieroglyphen, sie sind faszinierend anzusehen, es liegt Schönheit in dieser Abstraktion. Die Gleichungen, die man im Film sieht, sind alle authentisch, Ariane Mézard hat sich dafür eingesetzt.
Die Goldbachsche Vermutung, die Marguerite beweisen will, ist ein Problem, das noch nicht gelöst wurde. Und das Verrückte daran ist, dass Ariane im Vorfeld der Dreharbeiten echte Fortschritte zu diesem Thema gemacht hat. Mathematiker, die in der Zukunft Goldbach beweisen wollen, können den Film sehen und darin Schlüsselelemente finden!


Die Energie von Marguerite, die Sie gerade erwähnt haben, wird von der gefühlvollen Musik widergespiegelt. Wie hat Pascal Bideau sie komponiert?
Wir arbeiten seit WIR SIND ALLE ERWACHSEN zusammen. Pascal war von einer mathematischen, zerebralen Musik ausgegangen, die wie Philip Glass klingen sollte, aber wir stellten fest, dass das nichts zum Bild beitrug. Ich hatte ständig „L'enfer“ im Kopf, das Lied von Stromae, in dem er seine Selbstmordgedanken thematisiert. Mir wurde klar, dass es die bulgarischen Chöre am Anfang des Liedes waren, die mich berührten. Das war wie eine Initialzündung für Pascal und mich: Wir brauchten eine lyrische, romanhafte Musik, die Marguerites Seelenreichtum, ihre „hautnahe“ Seite, die sie zu verbergen versucht, zum Ausdruck bringt.
Die von Pascal komponierte Musik trägt dazu bei, der Erzählung Romantik zu verleihen, und vervollständigt das Verständnis der Figur.
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Mittwoch 19.06.2024
IVO
Ab 20. Juni 2024 im Kino
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Ivo arbeitet als ambulante Palliativpflegerin. Täglich fährt sie in unterschiedliche Haushalte. Zu Familien, Eheleuten und Alleinstehenden. In kleine Wohnungen und große Häuser. In immer verschiedenes Leben und Sterben, in immer verschiedenen Umgang mit der Zeit, die bleibt. Zuhause haben sich ihre pubertierende Tochter und ihr Hund wegen Ivos Arbeitszeiten längst selbstständig gemacht.
Von früh bis spät ist Ivo in ihrem alten Skoda unter- wegs, die Freisprechanlage stets in Betrieb. Das Auto ist ihr zum persönlichen Lebensraum geworden, hier nimmt sie ihre Mahlzeiten zu sich, arbeitet, singt, flucht und träumt.

Ein Film von Eva Trobisch
Mit Minna Wündrich, Pia Hierzegger, Lukas Turtur, Lilli Lacher, Pierre Siegenthaler u.a.



PRESSESTIMMEN

Minna Wündrich ist eine Offenbarung in diesem Film... Jeder Film, der sich mit dem Tod befasst, wird polarisieren, vor allem, wenn er so umstrittene Themen wie Sterbehilfe anspricht. „Ivo“ stellt sich dieser Herausforderung: Ein außerordentlich komplexer und berührender Film, schön, eindringlich, wahrhaftig, herzzerreißend und herausfordernd.
ICS FILM

Ein entwaffnend wahrhaftiger Film... Eva Trobisch ist unbestreitbar eine wichtige neue Stimme im deutschen Kino.
VARIETY

Wie navigiert man den dünnen Raum zwischen privat und professionell? Zwischen Leben und Tod? „Ivo“ erkundet diese Fragen mit einer intelligenten und präzisen Mise-en-scène und beschreibt nuanciert die vielfältigen sozialen Realitäten einer ganzen Gesellschaft im Wartezustand. So entsteht eine Welt, in der keiner Angst vor dem Tod hat, aber alle fürchten das Leben.
JURYBEGRÜNDUNG FILM FESTIVAL BOZEN – BESTER FILM

Ein herausragender, fesselnder Film in der Grauzone zwischen Ohnmacht und Allmacht.
TÉLÉRAMA

Ohne jeden Sensationalismus stellt Eva Trobisch eine einfache, aber tiefgehende Frage: Wer kümmert sich um die, die sich kümmern? Ivos emotionale Gratwanderung wird von Kameramann Adrian Campean in fesselnden visuellen Metaphern und ruhigen, kraftvoll aufgeladenen Bilder
unterstrichen, die das vitale Spektrum zwischen Leben und Tod, in dem sich Ivo bewegt, spürbar machen. „Ivo“ ist eine eindringliche Erinnerung an den Mut, den die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit verlangt.
GAZETTELY

Eva Trobisch wählt ein anderes Tempo als in ihrem Debüt „Alles ist gut“, um den inneren Kampf ihrer Heldin zu chronifizieren: das der Ausdauer. Das kluge Szenario leistet sich dabei von Anfang an einen merkwürdigen kleinen Stein im Schuh: Ist es die Art und Weise, wie Ivo durch die Macht der Gewohnheit dazu gezwungen wird, Distanz zum Schmerz anderer zu zeigen? Ist es diese Art, alltägliche Tragödien und kleine, heimliche Freuden auf eine Ebene zu stellen?
Wenn Ivo heimlich mit dem Ehemann ihrer todkranken Freundin und Patientin schläft: Ist sie dann ein zynisches Monster oder ist es – einfach nur das Leben?
LE POLYESTER, FRANCE

Minna Wündrich ist das Herz des Films, sie verleiht ihrer Figur eine Aura der Offenheit, indem sie nach und nach die verschiedenen Schichten von Ivos Abwehrhaltung abträgt. Mit diesem herausragenden Film gelingt es Eva Trobisch auf souveräne Weise, sich mit Ambivalenzen zu
beschäftigen. Am stärksten ist der Film da, wo er Widersprüche als unüberbrückbar anerkennt, auf eine ruhige, akzeptierende Art und Weise, als eine weitere Kuriosität, die das Leben mit sich bringt.
CINEUROPA

„Ivo“ wagt es, dem Sterben seine Sensation und Plötzlichkeit, das Besondere zu rauben, nach dem viele Filme so hitzig suchen. Ein dicht erzähltes Drama, das immer wieder nach winzigen Brüchen sucht, die Minna Wündrich mit ihrem kontrollierten, feinfühligen Spiel auf packende Weise nach außen projiziert.
KINOZEIT


PRODUKTIONSNOTIZEN VON EVA TROBISCH

Dieser Film ist mir passiert. Am Anfang von „Ivo“ stand ein Zufall. Ich hatte die Anfrage, einen Pitch für eine Polizeiruf-Folge zu schreiben, und hielt Ausschau nach ambivalenten Kriminalfällen. Verbrechen, die mich interessieren, weil sie einer Eindeutigkeit entbehren. Das Böse, das Falsche interessiert mich erzählerisch nicht. Es ist abgeschlossen und damit schnell langweilig. So bin ich, unter anderem, auf den „Todesengel der Charité“ gestoßen, eine Krankenschwester, die etliche schwerkranke Menschen durch Verabreichung von Medikamenten tötete – in ihrer Wahrnehmung war das eine Hilfe, ein Erlösen. Nach dem Gesetz wurde sie als Serienmörderin verurteilt. Über diese Recherche bin ich zur ambulanten Palliativpflege gekommen, wobei mir schnell klar wurde, dass ich daraus keinen Krimistoff machen wollte. Denn die Arbeitswelt der Palliativmedizin, die mir völlig neu war, faszinierte mich – der Ton, die Direktheit, der respektvolle Umgang, diese Form der Selbstverständlichkeit und Inklusion von Leben und Sterben. Ich merkte, dass ich eigentlich keine Ahnung davon hatte, keine Sprache und keinen Umgang mit dem Tod. Das beschämte mich
und das wollte ich ändern.

Ich recherchierte über einige Monate in diesem Bereich und erlebte viel, das mich aufgewühlt und berührt hat und für immer begleiten wird. Es gab Momente, in denen ich die Angst vorm Sterben verloren habe, weil die Palliativmedizin stereotype Bilder vom würdelosen Dahinsiechen teils mit alternativen, schmerzfreien und friedlichen Prozessen zu überschreiben weiß. Ich erlebte tragische Situationen, aber eben auch viel Humor, viel Wärme, viel Absurdes, viel Alltag. Der Blick auf mein Leben veränderte sich, setzte Dinge ins Verhältnis, stieß grundsätzliche Fragen an. Neben der Scham darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit ich Gesundheit voraussetze, die eigene wie die der anderen, wuchs die Demut gegenüber ebendieser. Allerdings gab es auch Momente, die mich völlig überforderten. Große Verzweiflung. Erschreckende Momente, jämmerliche und garstige.
Momente, in denen ich dem Tod gegenüber nichts als Verachtung und kalten Hass empfunden habe. Was für ein mieses Arschloch kann Krankheit sein!

Ich hatte viele Fragen und Unsicherheiten im Umgang mit diesem, dem letzten, Lebensabschnitt, und deshalb wollte ich mich, ohne Anspruch auf Antworten, weiter damit auseinandersetzten. In einem kleinen, eingespielten Team, bestehend aus einer Handvoll Mitstreitern und Freunden. Menschen, denen ich vertraue und deren Haltung und Meinung ich schätze. Allen voran war das mein langjähriger Freund und Kameramann Adrian Campean.
Adrians Vater Johann Campean ist Palliativarzt im Ruhrgebiet und hat zusammen mit einigen Kollegen einen Verbund von Einrichtungen der „Spezialisierten Ambulanten Palliativen Versorgung“ (SAPV) gegründet und mehrere Hospize mit aufgebaut. Er war unser medizinischer, lebensweltlicher und ethischer Berater und in seiner unaufgeregt großherzigen Art eine wichtige und inspirierende Persönlichkeit auf dem Weg dieses Projektes. Wir besuchten ihn oft und sprachen viel miteinander, er las jede Fassung, beriet und verbesserte. Im Film tritt Johann als der, der er ist, in Erscheinung, als Ivos Chef.

Bei allem Anspruch auf Realismus in der Darstellung der Arbeitswelt ist Ivo eine eigenständige Figur in einer fiktionalen Konstellation. Ihr Privatleben ist frei erfunden: Die selbstständige Tochter, mit der sie aufgrund ihrer langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten, eher in einer Art WG lebt. Ihre Lust am Rausch und am Kontrollverlust, die im klaren Gegensatz zur ihrer beruflichen Rolle steht, bei der sie so häufig souveräne Führung in Extremsituationen übernehmen muss. Zudem ist sie stark involviert in eine sehr besondere Patientenbeziehung. Auch diese ist fiktional. Obwohl solche Verhältnisse, laut der Teams, mit denen ich gesprochen habe, keineswegs unüblich sind. Durch die unbekannte und intime Lebenssituation kommt man sich schnell sehr nah, viel Contenance gibt es nicht zu wahren, es entstehen oft enge Verbindungen, Freundschaften und starke Gefühle.

Ich habe eine Figurenkonstellation entwickelt, die ich aus meinem eigenen Umfeld kannte. Die Geschichte einer Affäre, bei der eine der Liebenden, parallel zur rauschhaften Begegnung, mit der schweren Krankheit ihres Ehepartners belastet war. Das heimliche Verhältnis nährte sie für die Mühseligkeit des Alltags, gab Leichtigkeit und Kraft, um das Unglück zu ertragen, einen geliebten Menschen zu verlieren. Es setzte dem Ableben das Leben entgegen. In dem Moment aber, als der Kranke starb, starb auch die Affäre. Für uns alle war das eine Überraschung, nicht ganz einleuchtend – jetzt, wo der Weg doch frei gewesen wäre. Ein Freund, der Teil dieser Geschichte war, schlussfolgerte: Manchmal sind die Toten mächtiger als die Lebenden. Diese Umwege von Loyalität und Treue fand ich anrührend und interessant. Und die Geschichte in ihrer irrationalen Logik höchst menschlich und erzählenswert.
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