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49. VERBRANNTE ERDE
50. MADAME SIDONIE IN JAPAN
51. BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF
52. DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS
53. IVO
54. SLEEP WITH YOUR EYES OPEN
Donnerstag 18.07.2024
VERBRANNTE ERDE
Ab 18. Juli 2024 im Kino
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Zwölf Jahre, nachdem der Berufskriminelle Trojan aus Berlin flüchten musste, führt ihn die Suche nach Aufträgen erneut in die Stadt. Er hat kaum noch Geld und braucht dringend einen neuen Job. Berlin hat sich verändert, Trojans alte Kontakte geben nicht mehr viel her.
Und seine Maxime, nur Bargeld-Jobs durchzuführen, lässt sich in einer immer komplexer digitalisierten Welt kaum noch durchhalten. Es dauert einige Zeit, bis sich ihm schließlich durch die Vermittlerin Rebecca die Aussicht auf einen lukrativen Job bietet. Ein Gemälde von Caspar David Friedrich soll aus einem Museum gestohlen werden. Der Coup bringt Trojan mit der Fluchtfahrerin Diana, seinem ehemaligen Weggefährten Luca und dem jungen Chris zusammen. Das Projekt lässt sich vielversprechend an. Doch der undurchsichtige Auftraggeber Victor hat seine eigenen Pläne mit dem Gemälde. Bald geht es weniger ums Geld, sondern vor allem darum, mit dem Leben davonzukommen.
VERBRANNTE ERDE ist nach IM SCHATTEN der zweite Teil von Thomas Arslans Trojan-Trilogie.

Ein Film von Thomas Arslan
Mit Mišel Mati?evi?, Marie Leuenberger, Alexander Fehling u.a.


INTERVIEW MIT THOMAS ARSLAN

Wie kam es dazu, dass Sie sich 13 Jahre nach „Im Schatten“ wieder der Geschichte von Trojan zugewandt haben?
Das waren mehrere Faktoren. Ich hatte Lust, an dieser Form von Genre weiterzuarbeiten und ich hatte Lust, wieder etwas mit Mišel Mati?evi? zu machen. Das hat sich auch damit verbunden, dass ich seit „Im Schatten“ nicht mehr in Berlin gedreht hatte. Ich hatte große Lust darauf, mir die Stadt, in der ich lebe und in der ich bereits mehrere Filme gemacht habe, wieder genauer anzugucken. Das ist ähnlich wie bei Trojan, der nach Berlin zurückkehrt, obwohl er diese Stadt nach dem Geschehen von „Im Schatten“ eigentlich um jeden Preis meiden wollte. Aber ein Job führt ihn dann eben doch wieder zurück.

Was fasziniert Sie an diesem Genre?
Ich habe eine spezielle Faszination für Heist-Filme, in denen Überfälle sorgfältig vorbereitet und durchgeführt werden, mit den entsprechenden Komplikationen danach. Das sind Geschichten, in denen die Arbeit der Protagonisten eine große Rolle spielt. Mich interessieren diese Filme, in denen diese kriminelle Arbeit sehr ernst genommen wird, in allen Details, wie z.B. in „Rififi“ von Jules Dasin, „Le cercle rouge“ von Melville, oder „Thief“ und „Heat“ von Michael Mann.

Erzählt die Gangster-Welt Trojans etwas über unsere bürgerliche Welt?
Nein, das läuft komplett auseinander. Zumindest bei Trojan, der bewusst nicht für die organisierte Kriminalität arbeitet. Er ist daher auch kein „Gangster“. Trojan ist jemand, der versucht, nach eigenen Regeln zu leben und eine Existenz zu führen, die in gewissem Sinne selbstbestimmt
ist, mit den entsprechenden Schwierigkeiten und Entbehrungen. Und da er ein professioneller Krimineller ist, ist das natürlich weit weg von jeder Form von bürgerlicher Existenz. Eine Figur wie Trojan hat gar keine Berührungspunkte im Hinblick auf regelmäßige Arbeit, Familie, festen
Wohnsitz, dem Wunsch nach Eigentum. Das interessiert ihn alles nicht. Bei seinen Jobs ist Trojan ganz bei sich selbst. Reine Präsenz. Was er hat, ist ein gewisser Moralkodex, was seine Arbeit anbelangt, auch im Hinblick auf den Umgang mit den Leuten, mit denen er zusammenarbeitet. Da geht es um das Verständnis von Präzision und Professionalität und letzten Endes auch um moralische Linien. Er ist jemand, der sich abseits der bürgerlichen Norm oder des Gesetzes bewegt, aber trotzdem versucht, eine Art Moralkodex für sich aufrecht zu halten.

Wie wichtig war „Im Schatten“ als Referenz und Bezugspunkt für „Verbrannte Erde“?
Das war natürlich ständig präsent, auch die Frage, was jetzt im neuen Film anders ist, was sich verändert hat. Es ist ja viel Zeit vergangen seither. Das spielt eine große Rolle, aber es ist die gleiche Figur, Trojan ist 13 Jahre älter geworden. Über die Zeit dazwischen erfährt man nicht viel, nur durch ein paar Andeutungen, dass er im Grunde so weitergemacht hat. An seiner Existenzform hat sich nichts geändert, außer dass es immer weniger Gelegenheiten für diese Jobs gibt, die er bevorzugt: Sachen, die man möglichst gut kontrollieren kann, klassische Jobs, wo das Haptische eine Rolle spielt.
Die Gelegenheiten dafür werden immer weniger, weil inzwischen vieles digitalisiert ist, weil Computer und Technologie auf allen Feldern eine riesige Rolle spielen. Das verkleinert seinen Spielraum, es wird für ihn immer schwieriger, geeignete Jobs zu finden und zu realisieren.

Man hat fast den Eindruck, dass den älter gewordenen Trojan ein Hauch von Melancholie umweht, gerade in der Szene mit Diana im Café; dass vielleicht sogar die Liebe möglich ist.
Das ist tatsächlich ein Unterschied. Die Figur der Dora von „Im Schatten“ ist in erster Linie eine Komplizin, zu der Trojan ein pragmatisches und distanziertes Verhältnis hat. Und für Dora ist die Einbindung in ein kriminelles Projekt eher die Ausnahme. Sie nimmt nur am Rand daran Teil. In „Verbrannte Erde“ ist das anders. Diana hat zwar auch einen nicht-kriminellen AlltagsJob, aber sie ist auch gleichzeitig professionelle Fluchtfahrerin. Trojan und Diana begegnen sich bei der gemeinsamen Arbeit auf Augenhöhe. Das schafft die Basis für eine emotionale Nähe zwischen den beiden. Es gibt zumindest einen Raum oder die Möglichkeit, dass sich etwas in diese Richtung öffnen könnte.

Wenig verändert hat sich bei den Autos: Gangster fahren immer noch Verbrenner.
Es gibt auch andere Autos im Film: Der „Erlkönig“, den Diana als Testfahrerin über die Strecke jagt, ist ein neuer Hybridwagen. Und Rebecca, die Jobvermittlerin, fährt ein E-Auto. Ich fand das stimmig, dass die in der Wahl ihrer Autos einfach moderner sind, während es in der konkreten Praxis bei der Durchführung der kriminellen Jobs um andere Kriterien geht. Diana fährt bei ihren Fluchtfahrerin-Jobs ältere Verbrenner. Auch für Trojan ist die Wahl seines Wagens keine Nostalgie oder Liebhaberei. Neue Wagen sind voller Elektronik. Elektronik ist anfällig, wenn da etwas nicht stimmt, kann man es nicht selber beheben. Und die neuen Wagen sammeln zu viele Daten.

Welche Rolle spielt die Veränderung, die Berlin seit „Im Schatten“ erlebt hat?
Die Stadt hat sich in den letzten 15 Jahren drastisch geändert. Das spielt nicht explizit eine Rolle in „Verbrannte Erde“, ist aber ein Aspekt, der uns sehr interessiert hat und der auch für die Auswahl der Orte eine Rolle gespielt hat. Es gibt Gegenden in der Stadt, die komplett neu gebaut wurden, und Stadtteile, in denen die Bevölkerungsstruktur durch Gentrifizierungs-Prozesse weitestgehend ausgetauscht worden ist. Ich habe vor kurzem einen Kurzfilm gedreht, der sich auf einen Film bezieht, den ich 1990 entlang des innerstädtischen Mauerstreifen gemacht habe, „Am Rand“. Die Mauer war damals bereits abgetragen. Das war damals teilweise ein bizarres Niemandsland, das mitten durch die Stadt geführt hat. Viele dieser damals verlassenen Areale sind inzwischen weitgehend zugepflastert worden, und zwar primär mit Büro- und Eigentumswohnungskomplexen, die eigentlich alle gleich aussehen. Das sind völlig unbelebte Areale, die keine organische Verbindung mit anderen Teilen der Stadt oder mit der unmittelbaren Nachbarschaft haben und eigentlich immer noch oder schon wieder Niemandsland sind. Das spielt bei „Verbrannte Erde“ zumindest im Hintergrund eine Rolle.
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Donnerstag 11.07.2024
MADAME SIDONIE IN JAPAN
Ab 11. Juli 2024 im Kino
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Japan, heute. Sidonie Perceval (Isabelle Huppert), eine gefeierte französische Schriftstellerin, trauert noch immer um ihren verstorbenen Ehemann. Anlässlich der Wiederveröffentlichung ihres ersten Buchs wird sie nach Japan eingeladen, wo sie von ihrem dortigen Verleger empfangen wird. Er nimmt sie mit nach Kyoto, in die Stadt der Schreine und Tempel. Während die beiden gemeinsam durch die japanische Frühlingsblüte fahren, beginnt sie langsam, sich Kenzo (Tsuyoshi Ihara) gegenüber zu öffnen. Doch der Geist ihres Ehemannes Antoine (August Diehl) folgt Sidonie. Erst wenn sie endlich bereit dazu ist, ihn gehen zu lassen, wird sie wieder bereit für die Liebe sein.


Ein Film von Élise Girard
Mit Isabelle Huppert, Tsuyoshi Ihara und August Diehl

Élise Girards dritter Kinofilm, MADAME SIDONIE IN JAPAN, ist eine poetische Liebesgeschichte, eine Hymne an das Leben, getragen von der Ausnahmeschauspielerin Isabelle Huppert (DIE KLAVIERSPIELERIN, 8 FRAUEN, ELLE). Das Sichtbare und das Unsichtbare, das Wachen und das Schlafen existieren in dieser feingeistigen, tiefgründigen und immer wieder humorvollen Erzählung nebeneinander. Ein kleiner, großer Film, der minimalistisch wirkt, dabei aber große Emotionen auslöst.
Neben Huppert sind in weiteren Rollen der bekannte japanische Schauspieler Tsuyoshi Ihara (BRIEFE AUS IWOJIMA) und August Diehl (NACHTZUG NACH LISSABON, DER JUNGE KARL MARX, EIN VERBORGENES LEBEN) zu sehen. Regisseurin Élise Girard schrieb zusammen mit Maud Ameline (DIE PURPURSEGEL) und Sophie Fillières (DER FLOHMARKT VON MADAME CLAIRE) das Drehbuch, Céline Bozon (MADAME HYDE, FÉLICITÉ) zeichnete für die Bildgestaltung verantwortlich, Thomas Glaser (SCHRÄGE VÖGEL) übernahm die Montage und Gérard Massini die Musik.
Weltpremiere feierte MADAME SIDONIE IN JAPAN im Rahmen der Giornate degli Autori auf den Filmfestspielen von Venedig. Seitdem hat sich der Film mit vielen Festivalpremieren in bislang 11 Ländern zum Festivalliebling entwickelt.
MADAME SIDONIE IN JAPAN ist eine Koproduktion von 10:15 Productions, Lupa Film, Fourier Films, Box Productions, TOEI Company, Film-In-Evolution, Mikino und Les Films du Camélia, mit der Unterstützung von Bunkach?, CNC, mit der Beteiligung der FFA, in Koproduktion mit Bayerischer Rundfunk, RTS Radio Télévision Suisse und SRG SSR, in Zusammenarbeit mit Arte, mit der Unterstützung von der Région Île-de-France, des Medienboard Berlin Brandenburg, des Bundesamt für Kultur (BAK), mit der Beteiligung von Cinéforom und der Unterstützung der Loterie Romande.

FESTIVALPREMIEREN
Weltpremiere auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig (2023)
FEST Internationales Filmfestival von Belgrad (Serbien)
Dublin International Film Festival (Irland)
Göteborg Film Festival (Schweden)
Internationales Filmfestival Marrakesch (Marokko)
Internationales Filmfestival Genf (Schweiz)
Reykjavík International Film Festival (Island)
Thessaloniki Film Festival (Griechenland)
Love International Film Festival Mons (Belgien)
Istanbul Film Festival (Türkei)
SFFILM San Francisco International Film Festival (USA)
STATEMENT DER REGISSEURIN ÉLISE GIRARD

MADAME SIDONIE IN JAPAN entstand aus den Gefühlen, die ich empfand, als ich 2013 zum ersten Mal Japan entdeckte. Sobald ich mit dem Schreiben begann, dachte ich an das Gesicht von Isabelle Huppert, und ich wählte den Namen Sidonie wegen seines japanischen Gleichklangs, aber auch als Hommage an Colette, eine Schriftstellerin, die ich besonders schätze.
Mit dieser Filmreise wollte ich über die Trauer sprechen, aber auch über die Wiedergeburt, über die Liebe, die zurückkommt, wenn man sie nicht mehr erwartet. Sidonie in Japan filmt diese "Verbindung" zwischen Vergangenheit und Gegenwart, das Ende der Trauer und den Beginn der Liebe, die Begegnung von zwei Figuren, die Frankreich und Japan verkörpern könnten.
Mein Film ist auch eine Liebeserklärung an dieses Land, dem ich mich sowohl nahe als auch fremd fühle, wobei meine Vorliebe für das Antike und das Ultramoderne ein echtes Echo findet, wie ein ständiges Kommen und Gehen zwischen den beiden, was Japan für mich zu einem Land der Wahl für das Kino macht.



PRODUCER´S NOTE DES CO-PRODUZENTEN FELIX VON BOEHM

Mit SIDONIE IN JAPAN wird uns die Regisseurin Elise Girard (BELLEVILLE TOKYO, DRÔLES D’OISEAUX) in die ihr vertraute, aber immer noch geheimnisvolle Welt Japans entführen, wo sie bereits ihr Spielfilmdebüt realisierte und 2017 im Rahmen des Louis Lumière Stipendiums des Institut Francais ein weiteres halbes Jahr verbrachte. Im Rahmen dieses Stipendiums entstanden die ersten Ideen für das Spielfilmvorhaben SIDONIE AU JAPON für dessen Hauptrolle die Regisseurin ihre enge Freundin Isabelle Huppert gewinnen konnte, an deren Seite mit August Diehl und Tsuyoshi Ihara zwei ebenso hervorragende Schauspieler aus Deutschland und Japan spielen werden.
Wir sind davon überzeugt, dass MADAME SIDONIE IN JAPAN ein schauspielerisch und ästhetisch auf höchstem Niveau unterhaltender Spielfilm werden kann. Außerdem verspricht die im Buch angelegte und aus der japanischen Kultur stammende Geister-Thematik eine ebenso berührende wie spannende Kino-Erfahrung, die sowohl ein Arthouse affines Kinopublikum ansprechen wird als auch durch die zentralen Themen Liebe, Abschied und Trauerbewältigung ein breites Primetime-Publikum unterhalten kann.
Mit LUPA FILM begeistern wir uns seit vielen Jahren für internationale Koproduktionen (EDEN, THF-CENTRAL AIRPORT, L’AUDITION) und freuen uns auch mit diesem Projekt einen Beitrag zum interkulturellen Dialog zwischen Europa und Japan leisten zu können. Gemeinsam mit unseren Koproduktionspartnern möchten wir SIDONIE im Herbst 2021 in Japan, Frankreich und Deutschland realisieren und planen eine Fertigstellung für eine Premiere auf einem der internationalen A Festivals. Wir freuen uns mit INDIE SALES bereits einen exzellenten und zu diesem besonderen Projekt passenden Weltvertrieb an unserer Seite zu wissen sowie auf deutscher Seite den Verleih DCM und hoffen nun auf weitere Finanzierungspartner.



INTERVIEW MIT REGISSEURIN ÉLISE GIRARD

MADAME SIDONIE IN JAPAN ist Ihr dritter Spielfilm. Ihr erster hieß 2011 BELLEVILLE TOKYO. Ihre Liebe zu Japan existiert also schon etwas länger…
Tatsächlich ist allerdings BELLEVILLE TOKYO ein komplett französischer Film, der auch nur dort spielt. Der Protagonist belügt seine Freundin und erzählt ihr, er würde beruflich nach Japan reisen, während er sich in Wirklichkeit in einem anderen Pariser Stadtteil vor ihr versteckt. Belleville steht für die Realität, Tokyo für die Fiktion. In diesem Film war Japan nur eine Fantasie, so wie es das Land für viele Cinephile ja häufig ist. Als ich früher die Pressearbeit für die Action-Kinos in Paris machte, habe ich auch die Wiederaufführung diverser alter japanischer Filmklassiker von Ozu, Mizoguchi oder Naruse organisiert. Der erste Bezug, den ich zu diesem Land hatte, war also immer schon vom Kino geprägt.

Letztlich war dann BELLEVILLE TOKYO der Grund, warum Sie tatsächlich das erste Mal selbst nach Japan gereist sind, richtig?
2013 lud mich der japanische Verleih des Films ein. Ich verbrachte eine Woche in Japan und war in Osaka, Kyoto und Tokyo. Für mich war es das allererste Mal, dass ich überhaupt in einem asiatischen Land war. Obwohl es nur ein kurzer Aufenthalt war, erwies er sich als enorm wichtig und berührend für mich. Ich war die einzige französische Person, umgeben von lauter Japaner*innen. Und genau wie Sidonie in meinem Film musste auch ich etliche Interviews geben und habe erfahren, wie seltsam es sein kann, wenn dein Französisch ins Japanische übersetzt wird und umgekehrt.
Während dieser Woche habe ich erlebt, was für ein ungewöhnliches Land Japan ist, in dem alles ganz anders zu laufen scheint als bei uns in Frankreich. Außerdem war ich überrascht davon, wie still und zart die Menschen dort sind. Die Emotionen, die ich während meiner Reise spürte, waren für mich nicht nur neu, sondern auch unglaublich tief. Ohne dass es mir damals unbedingt sofort bewusst war, hat mich die Reise sehr aufgewühlt.
Nach meiner Rückkehr nach Paris begann ich, ein wenig klarer zu sehen. Ich fing an, alles, was ich erlebt hatte, aufzuschreiben, und alle Gefühle, die der Trip in mir ausgelöst hatte, in Worte zu fassen. Das war mir ein echtes Bedürfnis, wie ich überhaupt oft den Drang verspüre, meine Erfahrungen irgendwie festzuhalten. Die Idee für den Film entstand dann ziemlich schnell – und ich verstand auch mehr, warum die Reise nach Japan so viel in mir ausgelöst hatte.
In den Tagen dort hatte ich zum ersten Mal wirklich auf mein bisheriges Leben zurückgeblickt, was viel damit zu tun hatte, dass BELLEVILLE TOKYO ein mehr oder weniger autobiografischer Film war, dem ich dort zwei Jahr nach dem französischen Kinostart zum letzten Mal all meine Aufmerksamkeit widmete.
Aber vor allem lag es daran, dass ich mich plötzlich meines alltäglichen Lebens so entfremdet fühlte, geographisch wie spirituell. Mit einem Mal merkte ich, dass es mir – entgegen meiner vorherigen Wahrnehmung – eigentlich nicht schlecht ging. Sicher, ich hatte ein paar schwierige Erfahrungen hinter mir, nicht zuletzt als alleinerziehende Mutter. Doch die lagen hinter mir und es ging mir gut. So verstand ich auch, was eines der größten Geschenke ist, die das Kino uns machen kann: es kann uns dabei helfen zu leben, zu akzeptieren und zu verstehen, was wir durchgemacht haben.

Einerseits ist das Kino für Sie ein Weg, Ihre eigene Geschichte zu erzählen, und andererseits hilft es Ihnen dabei, eben diese Geschichte zu überwinden. Können Sie das noch ein wenig ausführen?
Jeder Film, den ich drehe, entsteht aus dem Wunsch, dass ich eine Emotion aufschreiben und greifbar machen will, um sie besser zu verstehen. Mit DRÔLES D‘OISEAUX wollte ich jene Aspekte einer Liebesgeschichte zeigen, die in Filmen sonst eher nicht zu sehen sind: die kleinen Details, das Schweigen, wie langsam und ruhig Liebe wachsen kann. Und in MADAME SIDONIE IN JAPAN ging es mir darum zeigen, was passiert, wen jemand sich plötzlich sehr weit weg von zuhause wiederfindet. Sidonie kommt praktisch bei sich selbst an, obwohl es fast so ist, als habe sie jemand wie ein Möbelstück einfach genommen und wo ganz anders hingestellt. Genau so habe ich mich damals jedenfalls gefühlt!
Wohl auch deswegen hat es mich sehr bewegt, irgendwann Isabelle Huppert die Worte sagen zu hören, die ich für sie geschrieben habe. Worte, die davon zeugen, wie es sich anfühlt, wenn man sich fehl am Platz oder verloren fühlt und nicht recht zu begreifen scheint, was um einen herum passiert. Ich sage immer, dass ich nicht wirklich gut darin bin, zu verstehen, was in meinem Leben passiert. Aber ich halte das auch nicht für ein Problem. Im Gegenteil, die Schwierigkeit oder gar das Unvermögen, etwas zu verstehen, genieße ich eigentlich sehr. Man muss nicht alles begreifen. Trotzdem bin ich sehr dankbar, dass mir Fiktion, Kino und Kunst allgemein zumindest zu ein bisschen mehr Verständnis verhelfen.

Ihre erste Reise nach Japan fand 2013 statt. Wann fuhren Sie das nächste Mal hin?
Das war 2017, ein halbes Jahr nach dem französischen Kinostart von DRÔLES D‘OISEAUX. Danke eines Stipendiums des Institut Français konnte ich anderthalb Monate in Kyoto verbringen. Dort habe ich dann das Drehbuch zu SIDONIE IN JAPAN geschrieben. Meine eigenen Erfahrungen waren dafür die Inspiration, aber natürlich habe ich auch einiges verändert. Mir war es zum Beispiel wichtig, dass Sidonie entdeckt, wie modern Japan sein kann. Deswegen verbrachte ich ein bisschen Zeit auf der Insel Naoshima, wo ich das berühmte, von Tadao Ando gebaute Benesse House Museum besuchte. Anfang 2019 unternahm ich dann eine dritte Reise nach Japan, um die Schauspieler*innen zu casten.
Im August 2021 reiste ich wieder hin, weil wir eigentlich einen Monat später mit den Dreharbeiten beginnen wollten. Doch dann mussten wir wegen Covid noch einmal verschieben und drehten schließlich im Juni und Juli 2022. Es war ziemlich anstrengend: erst waren wir in Japan, dann drei Tage in Frankreich, anschließend zwei Wochen in Deutschland und schließlich noch einmal in Frankreich. Die erste Szene des Films, wenn Sidonie in ihrem Apartment Zweifel kommen, ob sie wirklich abreisen soll, war die letzte, die wir gedreht haben.

MADAME SIDONIE IN JAPAN ist nicht nur ein französischer Film, sondern auch ein japanischer – und ein deutscher!
Zunächst arbeitete ich mit der japanischen Produzentin Michiko Yoshitake zusammen, die häufig mit dem Regisseur Nobuhiro Suwa kollaboriert hatte. Wir erhielten auch einen Förderzuschuss. Leider verstarb Michiko im Juni 2019. In dem Wissen, dass sie krank war, hatte sie bereits eine Partnerschaft mit Sébastien Haguenauer aufgebaut, der unser französischer Produzent wurde. Außerdem kam mit Felix von Boehm ein deutscher Produzent an Bord, dazu noch ein japanischer und ein Schweizer.

Woher stammte die Crew?
Während des Drehs in Japan war das Team halb Japanisch, halb Französisch, jeweils zehn Leute. Später in Frankreich und Deutschland sah die Zusammenstellung ein wenig anders aus.

Was Ihre Protagonistin angeht, sind Sie von der autobiografischen Inspiration ein wenig abgewichen. Warum ist Sidonie nun älter als Sie – und statt Regisseurin eine Schriftstellerin?
Ich wollte, dass Sidonie auf ihre Vergangenheit zurückblickt, so wie ich das auf meiner ersten Reise nach Japan getan habe. Aber mir war wichtig, dass sie deutlich mehr Erfahrung hat als ich, damit ihre Geschichte auch wirklich genug hergibt für einen Film. So kam mir die Figur einer französischen Schriftstellerin in den Sinn, die mal sehr berühmt war und sich später dazu entschloss, das Schreiben aufzugeben. Ein bisschen so wie J.D. Salinger, den ich sehr bewundere. Diese Frau musste ich dann nur noch nach Japan schicken und dort beobachten, wenn man so will. Ich wollte sehen, wie sie in dieser Umgebung reagiert, psychisch wie physisch. Ihre Körperlichkeit und ihre Gesichtsausdrücke waren wirklich etwas, womit wir viel gespielt haben.

In Japan trifft Sidonie unerwartet auf den Geist ihres verstorbenen Ehemannes…
Als ich damals das erste Mal in Japan war, wurde mir plötzlich sehr klar, warum es im japanischen Kino nur so wimmelt von Geistern. Und ich wollte, dass auch in meinem eigenen Film einer vorkommt. Allerdings sollte mein Geist mehr gemein haben mit dem von Rex Harrison gespielten in Mankiewiczs EIN GESPENST AUF FREIERSFÜSSEN als mit den Geistern bei Akira Kurosawa. 2017 lud mich in Japan eine Freundin zum Essen bei ihrer Mutter ein, die schon seit Jahren verwitwet war. Trotzdem war der Tisch für vier gedeckt – und die vierte Person war ihr verstorbener Mann. Für die Mutter meiner Freundin war das der Weg, wie sich ihr Leiden leichter ertragen ließ. Und tatsächlich war das auch kein bisschen seltsam, alle haben das mit großer Selbstverständlichkeit mitgemacht. Durch dieses Abendessen kam mir der Einfall eines ruhigen, freundlichen Geists, der das alles andere als ruhige Leben seiner Frau heimsucht. Diesen Gegensatz fand ich reizvoll und lustig. Antoines Geist ist letztlich eine ganz normale Person, was auch an einer tiefen Grundüberzeugung von mir liegt: der Tod ändert nicht wirklich etwas daran, was wir für einen geliebten Menschen empfinden oder wie wir an ihn denken.

Jedes Mal, wenn Antoine auftaucht, sieht das sehr unspektakulär und fast natürlich aus…
Praktisch jede von Antoines Szenen ist mit Greenscreen entstanden. Für die stand Isabelle Huppert tatsächlich allein vor der Kamera und ich habe ihr Antoines Sätze zugerufen. Überhaupt habe ich für diesen Film bewusst und sehr gerne mit Greenscreen gearbeitet, um einige Bilder zu erzeugen, die auf anderem Wege unmöglich gewesen wären. Wenn etwa Sidonie und Kenzo auf der Insel Naoshima mit dem Taxi fahren, sieht man auf beiden Seiten des Autos durchs Fenster die gleiche Landschaft.
Das Japan, das ich in diesem Film zeige, ist ein anderes als das, das man sonst in Filmen sieht. Normalerweise geht es hektisch und laut und verrückt zu, doch „mein“ Japan ist ein seltsamer, sehr friedlicher Ort. Fast ein wenig matt. Genau so habe ich das Land nämlich beim ersten Mal wahrgenommen. Ich empfinde es auch nicht als verstörend, wenn etwas seltsam ist. Wie schon gesagt: damit, nicht alles zu begreifen, habe ich gar kein Problem. Täglich mit Unverständnis und Missverständnissen umgehen zu müssen, erscheint mir nur natürlich. Die japanische Mentalität ist für uns schwer nachvollziehbar, aber den Japanern geht es umgekehrt mit uns genauso. Und das ist doch nicht schlimm. Daraus entstehen interessante und witzige Situationen, was mich sehr reizt.
Ich hatte auch schon immer etwas übrig für fremdländische Akzente, die ja auch im Zusammenhang mit einer Form von Unverständnis stehen. Nicht dass das etwas ist, was in SIDONIE zwingend in den Vordergrund rückt. Aber es ist auf jeden Fall spannend, wie die Protagonistin hier zwischen zwei Akzenten pendelt, dem deutschen ihres verstorbenen Mannes und dem japanischen von Kenzo, ihrem Verleger.

Sidonies Weg führt sie ja letztlich von einem Mann und einer Liebe zum nächsten…
Wege, Übergänge, Passagen – für mich gibt es in einer Lebensgeschichte nichts Entscheidenderes. Und das gilt natürlich nicht zuletzt für den Wechsel von einem Mann zum nächsten. Der Hauptgrund für die Existenz von Antoines Geist ist, dass er Sidonie dabei hilft, Kenzo wirklich wahrzunehmen. In DRÔLES D‘OISEAUX gab es eine ähnliche Geschichte: da entpuppte sich der von Pascal Cervo gespielte Aktivist irgendwann als jüngere Version des von Jean Sorel verkörperten Protagonisten Georges. Sie sind letztlich dieselbe Person, an verschiedenen Stellen ihrer Geschichte.
Solange Sidonie noch um Antoine trauert, wird sie sich nie auf einen anderen Mann einlassen können. Das ist eine sehr japanische Herangehensweise an die Liebe. Solange eine Frau gedanklich von einem Mann besessen ist, kann sie sich in keinen anderen verlieben. Womöglich könnte man sagen, dass Sidonie sich Antoines Geist nur erträumt, um loslassen zu können… Oder vielleicht ist es wirklich Antoine, der in Sidonies Zimmer immer das Fenster aufmacht und ihren Koffer an den Fuß der Treppe stellt. Einfach um zu ermöglichen, dass sie und Kenzo sich näherkommen.

Warum besetzten Sie die Rolle des Antoine mit dem deutschen Schauspieler August Diehl?
Zunächst einmal sieht er einfach sehr besonders und speziell aus. Anders als viele habe ich ihn nicht das erste Mal in Tarantinos INGLOURIOUS BASTERDS gesehen, sondern in SCHWARZER DIAMANT, dem Debüt von Arthur Harari. Und später wieder in Terrence Malicks EIN VERBORGENES LEBEN. Von einer Rolle zur nächsten scheint er nicht nur sein Aussehen, sondern auch sein Alter zu verändern. August hat außerdem etwas sehr Westliches an sich, mit seinen großen Augen und diesen gleichermaßen verschmitzten wie engelsgleichen Blicken. Abgesehen davon ist er sehr lebhaft und witzig. Einen Teil seiner Kindheit hat er in Frankreich verbracht, deswegen spricht er fließend Französisch. Außerdem ist er ein echter Theaterschauspieler. Zu Isabelles Freude stellte sich heraus, dass er während unserer Dreharbeiten gerade an jenem Theater spielte, wo sie einst mit Michael Haneke DIE KLAVIERSPIELERIN gedreht hatte.

Wie trafen Sie auf Tsuyoshi Ihara, der nun den Kenzo spielt?
Im März 2019 organisierten wir in Japan ein Casting, zu dem alle großen japanischen Stars kamen. Ich suchte nach jemandem, der eine imposante Erscheinung war. Tsuyoshi Ihara ist ein sehr attraktiver Mann – und ziemlich groß, während Isabelle Huppert ja eher klein ist. Dieser Gegensatz gefiel mir gut. Außerdem ist Tsuyoshi sehr berühmt, als Kino- und Fernsehstar, aber auch als Sänger und Model. Er ist zum Beispiel die männliche Muse von Yoshi Yamamoto. Er dürfte um die 60 Jahre alt sein, sieht aber auf jeden Fall jünger aus. Ähnlich wie bei August kann man sein Alter praktisch nicht einschätzen. Weil er in Los Angeles lebt, spricht er hervorragend Englisch, was die Kommunikation zwischen uns deutlich einfacher machte. Und es half ihm auch dabei, seinen französischen Text zu lernen.
Ich liebe es, wie seltsam sein Französisch klingt. Georges in DRÔLES D‘OISEAUX hatte auch eine ungewöhnliche Art zu sprechen. Ich mag es sehr, wenn Menschen auf der Leinwand nicht so reden, wie wir es gewohnt sind. Mir gefällt es, wenn ihre Sprache etwas Musikalisches hat. Überhaupt liebe ich Dialoge: ich schreibe sie gerne und ich höre sie gerne. Tsuyoshi und ich haben viel via Skype geprobt; das half mir dabei, diese besagte Musikalität zu finden.

Für die Hauptrolle hatten Sie immer Isabelle Huppert im Sinn, richtig?
Isabelles Tochter Lolita Chammah spielte die Hauptrolle in meinem Film DRÔLES D‘OISEAUX und stellte mich ihrer Mutter vor. Ich kannte Isabelle also schon, wenn auch weniger aus einem beruflichen Kontext. Aber gerade deswegen reifte die Idee in mir, mit ihr arbeiten zu wollen. Eben weil ich sie in einem privaten Setting kennen gelernt habe, nehme ich sie anders wahr als viele andere. Ich habe sie als sehr warmherzige, witzige Person kennen und schätzen gelernt, die kein bisschen kühl oder einschüchternd wirkt. Vielmehr würde ich sagen, dass sie privat eine ähnliche Art hat wie ich.
Mir war wichtig, dass Sidonie sehr französisch wirkt, um den Gegensatz zu Kenzo zu betonen. Anfangs habe ich gezögert und sicherlich ein Jahr gewartet, bis ich Isabelle gefragt habe. Aber sie war einfach die naheliegendste Wahl. Jeder, der das Drehbuch las, hatte als erstes sie im Kopf. Unmittelbar vor Drehbeginn war ich dann nochmals unsicher und fragte mich, ob sie wohl bei der Arbeit ganz anders sein würde als ich sie kennen gelernt hatte. Aber damit hätte ich nicht verkehrter liegen können.
Sobald sie Sidonies Kostüme trug, war es unübersehbar, dass Isabelle genau wusste, was sie tat. Und als hätte sie meine Sorge gespürt, versicherte sie mir, dass sie alles dafür tun würde, genau den Film zu machen, der mir vorschwebte. Was sie auch tat. Wir drehten sogar früh morgens ohne Genehmigung im Shinkansen, Japans legendärem Schnellzug. Isabelle war wirklich zu allem bereit, ohne dass ich auch nur das kleinste Detail an meinen Plänen ändern musste. Man kann mit ihr alles machen, was vermutlich auch daran liegt, dass sie es aus ganzem Herzen liebt, Schauspielerin zu sein und Zeit am Set zu verbringen. Wenn wir Sidonie in Naoshima schlafen sehen, dann ist das Isabelle, wie sie tatsächlich schläft. Die Arbeit mit ihr hat mir vor Augen geführt, was für ein bemerkenswert talentierter Star sie ist. Sobald sie vor der Kamera in die Ferne blickt, kann man als Zuschauer*in gar nicht anders als sich vorzustellen, woran sie wohl denkt oder wovon sie träumt. Ihr Gesicht ist eine wahre Landschaft.

Warum heißt der Film eigentlich MADAME SIDONIE IN JAPAN? Das klingt in seiner Schlichtheit fast nach einem Kinderbuch…
Der Name Sidonie ist, wie schon erwähnt, eine Verneigung vor meiner Lieblingsautorin Colette, die mit echtem Vornamen Sidonie hieß. Aber der Titel ist auch eine Anspielung an Rohmers PAULINE AM STRAND, der ja alles andere als ein Film für Kinder war.
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Mittwoch 03.07.2024
BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF
Ab 4. Juli 2024 im Kino
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Von Ostpreußen an die West Coast – Von Hermann Hesse zu Harley-Davidson
Mit John Kay – der „erfolgreichste deutsche Rocksänger aller Zeiten“ (Die Zeit)
Eine Rockumentary made in Germany

Ein Film von Oliver Schwehm

Steppenwolf ist eine der legendärsten und zugleich rätselhaftesten Bands in der Geschichte der Rockmusik. An der Grenze zwischen Mainstream und psychedelischem Underground eröffnete ihr Song „Born to Be Wild“ den Kultfilm EASY RIDER und wurde zur Hymne einer ganzen Generation. Der neue, harte Sound von Steppenwolf war ein Stich in das Herz des „Summer of Love“ und beendete das Hippie-Zeitalter. Es ist kein Zufall, dass sie die allererste Band war, die das Wort „Heavy Metal“ in ihren Texten verwendete.

Was aber nur wenige Menschen wissen: Die Band Steppenwolf hatte als Gravitationszentrum zwei deutsche Auswandererkinder, die sich zunächst in Toronto trafen, bevor sie gemeinsam nach Kalifornien weiterzogen – Sänger John Kay (geboren als Joachim-Fritz Krauledat) war ein Kriegsflüchtling aus Ostpreußen. Bassist Nick St. Nicholas (geboren als Karl Klaus Kassbaum) stammte aus einer angesehenen hanseatischen Familie.

BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF führt uns vom kriegsgebeutelten Deutschland zu den Straßen der Arbeiterklasse in Toronto und nach Los Angeles, wo die Band zu Ruhm aufsteigt und dann abstürzt. Mit den Steppenwolf-Mitgliedern John Kay, Nick St. Nicholas, Michael Monarch, den Künstlern Mars Bonfire, Alice Cooper, Taj Mahal, Cameron Crowe (ALMOST FAMOUS), Klaus Meine (Scorpions), Jello Biafra (Dead Kennedys), Dale Crover (Melvins) und Bob Ezrin (Produzent von u. a. Kiss, Pink Floyd, Taylor Swift). Musikalisch hat der Film auch einiges zu bieten, so enthält er über ein Dutzend Original-Steppenwolf-Songs.


Oliver Schwehm (Buch & Regie)

Oliver Schwehm wurde 1975 in Mainz geboren. Er studierte Germanistik und Romanistik, gefolgt vom Studiengang Dokumentarfilm an der Universität Straßburg.
Schwehm versteht es, verborgene Geschichten aufzuspüren und diese in akribischer Recherche zu durchdringen und aufzuarbeiten, wie beispielsweise in CINEMA PERVERSO, in dem er die untergegangene Welt der deutschen Bahnhofkinos wieder auferstehen lässt. Seine Werke zeichnen sich stets durch einen hohen Anteil an unbekannten Archivmaterialien aus, sowie Zugang zu besonderen Protagonisten, die „First Hand“ die Geschichte erzählen. So gelang es Schwehm für BORN TO BE WILD beispielsweise den sagenumwobenen Songwriter Mars Bonfire ausfindig zu machen, der einst den gleichnamigen Song schrieb, jahrzehntelang als verschollen galt und den Schwehm schließlich in der Wüste Nevada fand.
In seinen zwei Filmen FLY ROCKET FLY (2018) und DEUTSCHE RAKETEN FÜR GADDAFI (2021) erzählte er die Geschichte der ersten privaten Raumfahrtfirma OTRAG, die Mitte der 1970er-Jahre von Stuttgart aus aufbrach, um erst im kongolesischen Urwald und dann in der libyschen Wüste Raketen zu testen. Die Tagesthemen urteilten über FLY ROCKET FLY: „Der perfekte Stoff für einen Spielfilm – als Dokumentarfilm beinahe zu fantastisch.“
Zuletzt erzählte Schwehm in KALANAG – DER MAGIER UND DER TEUFEL die vergessene Geschichte des deutschen Filmproduzenten und Magiers Helmut Schreiber, der im Nationalsozialismus Karriere als Produzent machte und anschließend zum bekanntesten Zauberkünstler der Nachkriegszeit wurde, der es bis in die amerikanische Ed Sullivan Show schaffte.

Schwehms Filme dienen immer wieder als Vorlage für fiktionale Adaptationen. So lieferte sein Film MILLI VANILLI – FROM FAME TO SHAME (2015) die Inspiration für Simon Verhoeven musikalisches Biopic GIRL YOU KNOW IT’S TRUE, auch eine Adaption von FLY ROCKET FLY ist in Arbeit.


Filmografie (Auswahl)

2024 - BORN TO BE WILD (Buch & Regie)
2021 - KALANAG – DER MAGIER UND DER TEUFEL (Buch & Regie) – bei MFA+ im Verleih
2018 - DER UNERSCHROCKENE: DER BERLINER FILMPRODUZENT ARTUR BRAUNER (Regie, gemeinsam mit Kathrin Anderson)
2018 - FLY, ROCKET, FLY! – MIT MACHETEN ZU DEN STERNEN (Buch & Regie)
2016 - MILLI VANILLI: FROM FAME TO SHAME (Buch & Regie)
2015 - CINEMA PERVERSO – DIE WUNDERBARE UND KAPUTTE WELT DES BAHNHOFSKINOS (Buch & Regie)
2014 - ARNO SCHMIDT – MEIN HERZ GEHÖRT DEM KOPF (Buch & Regie) – bei MFA+ im Verleih
2011 - GERMAN GRUSEL – DIE EDGAR WALLACE-SERIE
2010 - CHRISTOPHER LEE – GENTLEMAN DES GRAUENS
2007 - WINNETOU DARF NICHT STERBEN


Director’s Note

„Nach über fünf Jahren Arbeit an diesem Film freue ich mich, dass BORN TO BE WILD nun in die Kinos kommt. Dieser Film musste einfach gemacht werden, er gehört zu der seltenen Art von Geschichten, bei der die Realität die Fiktion übertrifft.

Neben True Crime und Sport sind aktuell im Doku-Bereich ja vor allem Musikdokus ein gefragtes Genre - wobei die überwiegende Mehrheit dieser Produktionen aus Amerika stammt. Mit BORN TO BE WILD – EINE BAND NAMENS STEPPENWOLF wollten wir den Beweis antreten, dass auch eine Rockumentary made in Germany möglich ist.

BORN TO BE WILD soll natürlich vor allem Spaß machen – das Publikum mit Steppenwolf-Sound volltanken lassen und auf einen gemeinsamen Trip mitnehmen. Wichtig war mir, dass man ein wirkliches Gefühl für die Musik bekommt, diese einzigartige Mischung aus Elementen von Rock, Blues, Funk, Psychedelic und Heavy Metal.

Auch der Humor soll nicht zu kurz kommen. Einer meiner Lieblingsmomente sind gerade auch die Jahre nach der eigentlichen Blütezeit, wenn einzelne Bandmitglieder versuchen, die auseinandergebrochene Gruppe zu reaktivieren und plötzlich mehrere Bands namens Steppenwolf durch die Lande ziehen und sich einen Wettstreit liefern, wer denn nun den härtesten Sound habe.

Ein ganz besonderer Schatz sind die 20 Stunden Super-8-Aufnahmen, die uns der Bassist Nick St. Nicholas zur Verfügung gestellt hat, die wir für den Film aufwendig restaurieren konnten und die uns direkt ins verrückte Kalifornien der späten 1960er-Jahre zurück beamen, in der Steppenwolf mit The Doors, Creedence Clearwater Revival und Janis Joplin auftraten – und der Konsum von LSD allgegenwärtig war und noch nicht unter Strafe stand.

Schließlich ist es uns gelungen – und das war ein ganz besonderer Glücksmoment – die allererste Demo-Aufnahme von "Born to Be Wild" ausfindig zu machen. Ein akustischer, intensiver Rohdiamant und eine Aufnahme von pophistorischer Bedeutung, von der weder John Kay noch die übrigen Band-Mitglieder wussten, dass sie überhaupt noch existiert, und die in diesem Film erstmals für die Öffentlichkeit zu hören sein wird.

Für den deutschen Kinostart haben wir eine eigene deutsche Fassung hergestellt. Anders als in der internationalen, rein englischen Sprachfassung erzählt uns John Kay in dieser Fassung seine Kindheits-und Jugendjahre in Arnstadt und Hannover auf Deutsch. Dieses 50er-Jahre-Straßendeutsch zu hören, das sich John über die Jahrzehnte bewahrt hat, stellt eine große emotionale Nähe zu ihm her. Auch wird John, der in diesem April 80 Jahre alt geworden ist, im Film das erste Mal überhaupt in seiner Muttersprache einen Song singen, den so niemand von ihm erwartet hätte.“
Oliver Schwehm
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Donnerstag 27.06.2024
DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS
Ab 27. Juni 2024 im Kino
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Primzahlen sind Marguerites große Leidenschaft. Die brillante Mathematikstudentin ist die einzige Frau im Promotionsprogramm unter dem renommierten Professor Werner an der École Normale Supérieure in Paris. Doch als sie bei der Präsentation vor einem Forschergremium mit einem gravierenden Fehler in ihrer Arbeit konfrontiert wird und daraufhin die Fassung verliert, lässt ihr Doktorvater sie fallen und widmet sich ganz dem talentierten Promovenden Lucas. Tief erschüttert und voller Selbstzweifel wirft Marguerite alles hin und sucht sich einen Aushilfsjob. Schnell muss sie erkennen, dass auch das Leben außerhalb der Universität überraschende Erkenntnisse bereithält und sich weder die Mathematik noch Lucas so einfach aus ihrem Leben verbannen lassen.

Authentisch und einfühlsam spielt Ella Rumpf (RAW, FREUD, TIGER GIRL) eine hochbegabte junge Frau, die lernen muss, dass sich die großen mathematischen Rätsel nicht allein am Schreibtisch lösen lassen. Der sensible Film um die Schönheit von Zahlen und die vielen Variablen auf dem Weg zur Selbstbestimmung feierte Premiere im Rahmen der Special Screenings bei den Filmfestspielen von Cannes 2023.

Ein Film von ANNA NOVION
Mit ELLA RUMPF, JEAN-PIERRE DARROUSSIN, CLOTILDE COURAU, JULIEN FRISON u.a.



Interview mit ANNA NOVION

Die „Ecole Normale Supérieure“ (ENS) ist ein geschlossener Kosmos, der für Außenstehende geheimnisvoll erscheint. Warum haben Sie diese Umgebung als Ausgangspunkt für den Film gewählt?
Wenn ich einen Film beginne, gehe ich immer von einem Gefühl aus, das ich erlebt habe, das mich fasziniert und das ich erforschen möchte. Als ich etwa 20 Jahre alt war, wurde ich krank und musste sechs Monate lang in der Klinik bleiben. Nach meiner Genesung spürte ich eine Distanz zu den Menschen in meinem Alter, ich fühlte nicht mehr dieselbe Unbeschwertheit. Ich überlegte, wie ich der Welt und den anderen von dieser Distanz erzählen könnte. Ich dachte an die Grandes Ecoles, wo sich die Schüler manchmal von ihrer Außenwelt abschotten, sich auf ihr Studium fokussieren, und sehr schnell erschien mir das Umfeld der Mathematik als naheliegend. Die Welt der Mathematik – und im weiteren Sinne auch die „Ecole Normale Supérieure“, kurz ENS – wurde selten im Film dargestellt, und schon gar nicht mit einer Mathematikerin als Heldin. Ausschlaggebend war meine Begegnung mit Ariane Mézard, einer der wenigen großen französischen Mathematikerinnen. Zwischen uns entwickelte sich sofort eine Freundschaft, es war, als ob wir uns wiedererkannt hätten, was mich überwältigt hat.
Sie ist einfühlsam, direkt, ehrlich, offen für andere. Sie strahlt eine beeindruckende Stärke aus, in der viel Verletzlichkeit steckt, ein offensichtliches Selbstbewusstsein, das sich dennoch immer dafür zu entschuldigen scheint, dass es da ist. Sie war die erste, die mit mir auf künstlerische Weise über Mathematik sprach, indem sie Poesie, Fantasie und all das, was mich auch in meinem Beruf antreibt, nannte. Indem sie mir von ihrer Leidenschaft erzählte, erzählte sie mir auch von meiner.

Gilles Deleuze sagte sehr treffend, dass ein Wissenschaftler genauso viel erfindet und erschafft wie ein Künstler ...
Mit Mathieu Robin, meinem Co-Drehbuchautor, haben wir eine Figur geschrieben, die sich sehr stark an Ariane orientierte und gleichzeitig von mir erzählte. Regisseurin zu sein bedeutet, nie etwas loszulassen. Marguerite hat einen starken Willen, eine Form der Selbstverleugnung und eine
Leidenschaft, in der ich mich wiedererkenne. Eine weitere Gemeinsamkeit ist das Engagement und die Hartnäckigkeit, die unsere Berufe erfordern. Mathematiker können ihr ganzes Leben lang versuchen, ein Problem zu lösen, ohne dass sie sicher sind, dass es ihnen gelingt. Auch Filmemacher gehen das Risiko ein, dass ihr Projekt jederzeit scheitern kann. Es hat etwas von einem Glaubensakt. Mathematiker zu sein, ist wie der Eintritt in eine Religion. Im Film hat Marguerite eine sehr reine Beziehung zur Mathematik, eine Art Hingabe.

Werner ist nicht nur ein Mentor für Marguerite, sondern auch ein Bezugspunkt zu dieser „Religion“. Seiner Meinung nach sollte „die Mathematik frei von Gefühlen sein“.
In der Mathematik ist die Konkurrenz groß. Diejenigen, die in der Forschung tätig sind, wissen, dass sie zur Elite gehören. Das ist auch bei Werner der Fall. Er ist ein ehrgeiziger Mann, der das Gefühl hat, dass sein Talent nicht anerkannt wurde. Daraus hat er Ressentiments geschöpft. Er glaubt zwar immer noch an die Mathematik, aber die Frustration nagt an ihm. Werner ist eine Machtfigur, die Marguerite an der Selbstverwirklichung hindert. Seit ihrem Eintritt in die ENS sieht sie ihn als Beschützer und beschwört Gefühle herauf, wo er ihr Distanz auferlegt. Sie versucht, ihm zu gefallen, so wie eine Tochter von ihrem Vater geliebt werden möchte. Werner ist nicht in der Lage, diesen Platz einzunehmen, und es ist auch nicht seine Rolle. Marguerite fühlt sich an einem bestimmten Punkt von ihm betrogen. Ich urteile nicht: Marguerite ist nicht das Opfer und Werner nicht der Henker. Beide haben ihre eigene Wahrheit.

Das Thema der Abstammung nimmt in all Ihren Filmen einen zentralen Platz ein. Wie erklären Sie sich das?
Es hängt mit meiner persönlichen Geschichte zusammen, zweifellos mit der Beziehung, die ich zu meinem Vater habe. Es ist kein Zufall, dass meine Filme mit Figuren beginnen – die von Jean-Pierre Darroussin und hier die von Ella Rumpf verkörperten –, die in ihren Gewissheiten festgeschraubt sind und Angst haben, sich zu öffnen. Dann kommt es zu einem Ereignis, das sie zwingt, einen Schritt zur Seite zu machen, loszulassen und ihre Verletzlichkeit in eine Stärke zu verwandeln.
Ich möchte meine Figuren auf eine Entwicklungsreise mitnehmen, sie dabei beobachten, wie sie sich der Welt öffnen, erwachsen werden und sich von Autoritätspersonen lösen. In WIR SIND ALLE ERWACHSEN ist es eine Teenagerin (gespielt von Anaïs Demous?er), die sich während der Ferien auf einer kleinen schwedischen Insel von ihrem Vater emanzipiert. In RENDEZ-VOUS IN KIRUNA wird die Geschichte aus der Sicht des Vaters erzählt, wobei das Thema der Anerkennung im Vordergrund steht. In DIE GLEICHUNG IHRES LEBENS ist es Marguerite, die die Erzählung anführt, sie ist es, die sich durch ihre Arbeit quält, um Werner zu beweisen, dass sie seinen Platz verdient. Und diese Überzeugung nährt seine Wut. Marguerite macht nach und nach deutlich, was sie von Werner erwartet: Anerkennung als vollwertige Mathematikerin. Sie ist nicht hier, um die
Quoten zu erfüllen!

Wie in jeder Coming-of-age-Geschichte begegnet Marguerite Menschen, hier den Figuren Noa und Lucas, die den Lauf ihres Lebens verändern und die sie auch selbst beeinflussen wird.
Noa und Lucas stehen mehr im Leben als Marguerite. Noa ist Tänzerin, sie drückt sich durch ihren Körper aus, sie hat daraus eine Kunst gemacht, während Marguerite sich nie um ihr Äußeres gekümmert hat. Noa stürmt wie ein kleiner Wirbelsturm in Marguerites Leben, aber sie haben Gemeinsamkeiten. Sie sind beide leidenscha?lich in ihrem Beruf, haben keine Vorurteile, sie sind überrascht über die Unterschiede der anderen, aber jede akzeptiert die andere so, wie sie ist. Marguerites Redefreiheit verblüfft Noa, Noas Freiheit als Frau inspiriert Marguerite. Lucas ist geselliger und weniger ernsthaft als Marguerite, er studiert mit dem Ziel, erfolgreich zu sein und eine gewisse Form von Ruhm zu erlangen. Es ist die Leidenschaft für Mathematik, die sie verbindet.
Marguerite hingegen erlaubt es sich nicht, von etwas anderem zu träumen, sie hat sogar das Gefühl, dass ihre Weiblichkeit ihr Talent abwerten könnte. An der ENS hat sie alles getan, um sich in die Masse einzufügen, d. h. Wie die männlichen Studierenden zu sein, die ihre Schwächen und ihre Sensibilität verbergen müssen. Lucas bemüht sich, Marguerite davon zu überzeugen, dass Gefühle zu haben sie nicht schwächen wird. Für Marguerite besteht das Problem darin, dass Gefühle von Natur aus irrational sind und sie sie nicht wie eine wissenschaftliche Argumentation beherrschen kann. Die beiden sind der perfekte Stoff für eine romantische Komödie und eine Komödie über das Zurückfinden zur Mathematik!

Eines von Marguerites ersten Erlebnissen nach dem Verlassen der Universität ist der Sex mit einem Fremden, dem sie zufällig begegnet. Wie sind Sie auf diese überraschende und witzige Szene gekommen?
Mathieu und ich haben uns einen Spaß daraus gemacht, die üblichen Verführungscodes umzukehren. Marguerite ist subversiv, ohne es zu wissen: Indem sie Yanis auf die Straße folgt, wird sie zu einer Art Raubtier, das ziemlich beängstigend ist! Sie geht auch Risiken ein, verspürt aber keine Angst. Das ist es, was Marguerite manchmal komisch macht: Sie sagt und tut Dinge, die sich niemand erlauben würde. In diesem Sinne habe ich auch die Szene mit Yanis geschnitten und gedreht. Wenn Sexszenen nichts anderes als Sex erzählen, finde ich sie peinlich. Das hat nichts mit Scham zu tun, sondern ist eine Frage der erzählerischen Relevanz. Die Szene im Film erzählt, wie Marguerite ihren Lustgewinn sucht, ohne auf ihren Partner Rücksicht zu nehmen. Er schaut sie ziemlich fasziniert an und fragt sich, wer diese entschlossene Frau über ihm ist!

Dann stolpert Marguerite in eine andere, ebenso unerwartete Welt: die der Mahjong-Partien!
Und ich bin genauso wenig eine Mahjong-Spielerin wie eine Mathematikerin! Mathieu und ich haben viel darüber nachgedacht, was einer der Dreh- und Angelpunkte des Films ist: Wie würde Marguerite, nachdem sie die ENS verlassen hat, ihre Leidenschaft wieder aufnehmen? Wir stellten fest, dass die großen Mahjong-Spieler oft Mathematiker sind: Es ist ein Spiel, bei dem man außergewöhnliche intellektuelle Fähigkeiten braucht, um sich durchzusetzen. Das war ideal für Marguerite. Mir gefiel die Idee, sie wieder in eine reine Männerwelt zu versetzen, in der die Teilnehmer von vornherein der Meinung sind, dass sie keinen Platz hat, dass sie es den Männern nicht gleichtun kann.

Marguerites beharrliche Weigerung zu verlieren, sowohl im Spiel als auch in ihrer Forschung, führt sie an den Rand des Abgrunds. Ist dies eine Form, den Wahnsinn anzudeuten, der Genies droht?
Ich wollte diesen Schwindel für die Zuschauer spürbar machen, zeigen, dass Marguerite aus Stolz vom Weg abkommen und sich schließlich selbst verlieren könnte.
Jeder Mathematiker hat eine Geschichte über einen Kollegen zu erzählen, der verrückt geworden ist, schizophren, nie über einen Fehler hinweggekommen ist oder sich umgebracht hat. Dieser Bereich ist so arbeitsintensiv, dass das Gehirn implodieren kann. Menschen mit einer außergewöhnlichen Geistesgeschwindigkeit wollen ständig auf der Höhe ihrer Fähigkeiten sein; das ist ein andauerndes Hochgefühl und viel Druck. Man kann auch einen Vergleich zu dem ziehen, was Spitzensportler durchmachen.

Wie fiel Ihre Wahl auf Ella Rumpf, die durch RAW bekannt wurde und unter anderem in der TV-Serie „Tokyo Vice“ zu sehen war?
Es gab mit ihr kein Vorsprechen für die Rolle. Als wir uns trafen, haben wir uns viel unterhalten, ich habe sie beobachtet und wusste, dass sie es ist. Ich spürte, dass es eine faszinierende Verbindung zwischen Ella und der Figur geben könnte, und dass daraus eine spannende Marguerite entstehen würde. Ella strahlte eine Intensität und eine Fähigkeit zur Hingabe aus, die ich filmen wollte.
Wir haben uns überlegt, welches komödiantische Niveau wir mit dieser Figur erreichen wollten. Marguerite ist ein bisschen kauzig, aber sie ist auch keine Außerirdische, und wir mussten vermeiden, ins Groteske oder Karikierende abzugleiten. Vier Monate lang haben wir alle Szenen
geprobt und wiederholt, um das richtige Maß zu finden.
Zum Beispiel gibt Marguerite zu Beginn des Films ein Interview. Als sie nach ihren Hobbys gefragt wird, antwortet sie: „Ich spiele Yahtzee mit meiner Mutter“. Ihre Ernsthaftigkeit macht sie komisch. Neben der Arbeit mit Ariane Mézard, die sie in die Welt der Mathematik, ihrer Philosophie und ihrer Kalligrafie eintauchen ließ, war Ella auch körperlich involviert. Ich hatte große Lust, Marguerites Gang zu filmen. Sie ist gleichzeitig unbeholfen, ein wenig burschikos, und kommt doch direkt zum Punkt. Es ist ihr völlig gleichgültig, was andere Leute denken, und das liebe
ich an ihr. Wir leben alle in einer Welt, in der sich die Menschen gegenseitig unter die Lupe nehmen, in den sozialen Medien werden wir ständig beurteilt. Jemanden zu zeigen, der sich dieser täglichen Tyrannei entzieht, ist Teil meines Diskurses über unsere Gesellschaft.

Auch wenn Marguerite unkonven?onell ist, ist sie eine Frau von heute.
Und sie ist eine starke Frau mit einem hohen intellektuellen Niveau. Sie ist ein Vorbild in dem Sinne, dass sie eine hartnäckige und ausdauernde Kämpferin ist – noch dazu in einem sehr männlich dominierten Umfeld. Es ist schwierig, sich einen Platz zu erobern, wenn man ständig auf sein Geschlecht reduziert wird; dieser Druck treibt sie an, die Beste zu sein. Ich habe das in meinem Beruf am eigenen Leib erfahren, vor allem als ich bei Episoden von „Büro der Legenden“ Regie führte. Wenn man die einzige Frau ist, die diesen Job macht, muss man beweisen, dass man ihn
verdient hat, weil man eine Ausnahme ist, eine Anomalie. Es ist das erste Mal, dass ich in einem Film so viel von mir selbst erzähle. Er ist nicht autobiografisch, sondern zutiefst persönlich, in meiner Beziehung zur Welt und zur Arbeit.
Am Set nannte man mich ständig Marguerite und Ella, Anna! Man muss eine Kriegerin sein, um in diesem Beruf Erfolg zu haben. Die Wut von Marguerite trage auch ich in mir, angesichts von Dingen im Leben, die man als ungerecht empfindet. Marguerite ist eine kleine Soldatin, die keine Befehle befolgen will, die erwachsen wird und große Macht erlangt. Ich hoffe, dass der Film durch sie Frauen dazu inspiriert, für ihre Leidenschaft zu kämpfen.

Jean-Pierre Darroussins Darstellung von Werners Unnachgiebigkeit und Härte ist beeindruckend, und dies ist ein ungewöhnliches Register für ihn.
Große Schauspieler müssen in der Lage sein, alle Register zu ziehen. Aber das französische Kino neigt manchmal dazu, sie auf die Rollen zu beschränken, die ihren Erfolg ausgemacht haben: Für Jean-Pierre sind es die sympathischen Charaktere, die voller Menschlichkeit sind, die eine sofortige Empathie hervorrufen. Ihn eine Rauheit, mehr Härte spielen zu lassen, macht seine Menschlichkeit noch trüber und lässt eine Ambivalenz entstehen, die spannend zu filmen ist. Werner hätte ein unsympathischer, toxischer Charakter sein können. Jean-Pierre verlieh ihm eine liebenswertere, zweideutige und kontrastreiche Dimension. Jean-Pierre hat viele Versionen des Drehbuchs gelesen, er hat die Figur wachsen sehen, er kennt Werner schon lange! Nach diesem langen Lernprozess hat er viel mit Ella geprobt, um ihre Dynamik zu finden. Bei den Dreharbeiten angekommen, war es wie eine Selbstverständlichkeit: Jean-Pierre hatte erfasst, was Werner sein sollte. Jemand, der keine Zeit zu verlieren hat. Auch mit Gefühlen.

Warum war es so wichtig, Ihre Inszenierung auf Marguerites Weg abzustimmen?
Meine früheren Filme waren impressionistisch, die Gefühle tauchten langsam auf, man musste sie mit kleinen Pinselstrichen und langen Einstellungen begleiten. Marguerite ist roher, direkter, was mich dazu veranlasst hat, bei der Regie den Expressionismus zu bevorzugen. Wir gehen von der ENS aus, die monochrom und still ist. Die Rahmen sind geometrisch, wie die Ordnung, die in der Einrichtung herrscht. Danach dringen Unordnung und Irrationalität in das Leben von Marguerite ein. Es gibt mehr Farben, mehr Aufnahmen mit der Schulterkamera, mehr Bewegungen, die Kamera wird leichter. Die Mathematiker sprechen auch von Spaß und Experimentierfreude. Ihr Vergnügen besteht darin, ihre Zeit dem Lösen von Rätseln zu widmen. Es ist ein Teil der Kindheit, den ich dem Film einprägen wollte. Es ist das erste Mal, dass ich bewusst in Richtung eines spielerischen Kinos gehe. Meine Inspiration habe ich aus einem bestimmten amerikanischen Kino geschöpft, das die Freude des Zuschauers berücksichtigt und dafür sorgt, dass er nicht frustriert wird. Wenn ich die Filme von Paul Thomas Anderson, den Coen-Brüdern oder Tarantino sehe, ist ihre Schadenfreude spürbar. Meine Referenzen für die Darstellung der Marguerite waren ebenfalls amerikanisch: Elle Fanning, Emma Stone, Saoirse Ronan. In Europa wird eher ein naturalistischer Schauspielstil bevorzugt, es wird nach knallhartem Realismus gestrebt, bis zu dem Punkt, an dem man das Verspielte in der Interpretation auslöscht. Ich habe mich für eine Inszenierung entschieden, die ständig in Bewegung ist, wie das Gehirn von Marguerite, das konstant in Aufruhr ist. Der Film kanalisiert so die mentale Energie der Figur.

Es gelingt Ihnen sogar, die Mathematik filmisch darzustellen!
Das war eine der anderen Herausforderungen bei der Umsetzung. Wie kann man die Mathematik, die niemand versteht, organisch darstellen? Ich musste die Leidenschaft und das Engagement von Marguerite und Lucas übernehmen. Beide arbeiten sehr hart. Dies nicht zu zeigen, wäre ein Mangel an Respekt und Wahrheit gegenüber den Mathematikern gewesen. Wenn sie die Wände im Wohnzimmer schwarz anstreichen, um Gleichungen darauf zu schreiben, wollte ich, dass man den Eindruck hat, sie würden die Sixtinische Kapelle neu streichen! Diese Schriften sind wie Hieroglyphen, sie sind faszinierend anzusehen, es liegt Schönheit in dieser Abstraktion. Die Gleichungen, die man im Film sieht, sind alle authentisch, Ariane Mézard hat sich dafür eingesetzt.
Die Goldbachsche Vermutung, die Marguerite beweisen will, ist ein Problem, das noch nicht gelöst wurde. Und das Verrückte daran ist, dass Ariane im Vorfeld der Dreharbeiten echte Fortschritte zu diesem Thema gemacht hat. Mathematiker, die in der Zukunft Goldbach beweisen wollen, können den Film sehen und darin Schlüsselelemente finden!


Die Energie von Marguerite, die Sie gerade erwähnt haben, wird von der gefühlvollen Musik widergespiegelt. Wie hat Pascal Bideau sie komponiert?
Wir arbeiten seit WIR SIND ALLE ERWACHSEN zusammen. Pascal war von einer mathematischen, zerebralen Musik ausgegangen, die wie Philip Glass klingen sollte, aber wir stellten fest, dass das nichts zum Bild beitrug. Ich hatte ständig „L'enfer“ im Kopf, das Lied von Stromae, in dem er seine Selbstmordgedanken thematisiert. Mir wurde klar, dass es die bulgarischen Chöre am Anfang des Liedes waren, die mich berührten. Das war wie eine Initialzündung für Pascal und mich: Wir brauchten eine lyrische, romanhafte Musik, die Marguerites Seelenreichtum, ihre „hautnahe“ Seite, die sie zu verbergen versucht, zum Ausdruck bringt.
Die von Pascal komponierte Musik trägt dazu bei, der Erzählung Romantik zu verleihen, und vervollständigt das Verständnis der Figur.
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Mittwoch 19.06.2024
IVO
Ab 20. Juni 2024 im Kino
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Ivo arbeitet als ambulante Palliativpflegerin. Täglich fährt sie in unterschiedliche Haushalte. Zu Familien, Eheleuten und Alleinstehenden. In kleine Wohnungen und große Häuser. In immer verschiedenes Leben und Sterben, in immer verschiedenen Umgang mit der Zeit, die bleibt. Zuhause haben sich ihre pubertierende Tochter und ihr Hund wegen Ivos Arbeitszeiten längst selbstständig gemacht.
Von früh bis spät ist Ivo in ihrem alten Skoda unter- wegs, die Freisprechanlage stets in Betrieb. Das Auto ist ihr zum persönlichen Lebensraum geworden, hier nimmt sie ihre Mahlzeiten zu sich, arbeitet, singt, flucht und träumt.

Ein Film von Eva Trobisch
Mit Minna Wündrich, Pia Hierzegger, Lukas Turtur, Lilli Lacher, Pierre Siegenthaler u.a.



PRESSESTIMMEN

Minna Wündrich ist eine Offenbarung in diesem Film... Jeder Film, der sich mit dem Tod befasst, wird polarisieren, vor allem, wenn er so umstrittene Themen wie Sterbehilfe anspricht. „Ivo“ stellt sich dieser Herausforderung: Ein außerordentlich komplexer und berührender Film, schön, eindringlich, wahrhaftig, herzzerreißend und herausfordernd.
ICS FILM

Ein entwaffnend wahrhaftiger Film... Eva Trobisch ist unbestreitbar eine wichtige neue Stimme im deutschen Kino.
VARIETY

Wie navigiert man den dünnen Raum zwischen privat und professionell? Zwischen Leben und Tod? „Ivo“ erkundet diese Fragen mit einer intelligenten und präzisen Mise-en-scène und beschreibt nuanciert die vielfältigen sozialen Realitäten einer ganzen Gesellschaft im Wartezustand. So entsteht eine Welt, in der keiner Angst vor dem Tod hat, aber alle fürchten das Leben.
JURYBEGRÜNDUNG FILM FESTIVAL BOZEN – BESTER FILM

Ein herausragender, fesselnder Film in der Grauzone zwischen Ohnmacht und Allmacht.
TÉLÉRAMA

Ohne jeden Sensationalismus stellt Eva Trobisch eine einfache, aber tiefgehende Frage: Wer kümmert sich um die, die sich kümmern? Ivos emotionale Gratwanderung wird von Kameramann Adrian Campean in fesselnden visuellen Metaphern und ruhigen, kraftvoll aufgeladenen Bilder
unterstrichen, die das vitale Spektrum zwischen Leben und Tod, in dem sich Ivo bewegt, spürbar machen. „Ivo“ ist eine eindringliche Erinnerung an den Mut, den die Auseinandersetzung mit der Sterblichkeit verlangt.
GAZETTELY

Eva Trobisch wählt ein anderes Tempo als in ihrem Debüt „Alles ist gut“, um den inneren Kampf ihrer Heldin zu chronifizieren: das der Ausdauer. Das kluge Szenario leistet sich dabei von Anfang an einen merkwürdigen kleinen Stein im Schuh: Ist es die Art und Weise, wie Ivo durch die Macht der Gewohnheit dazu gezwungen wird, Distanz zum Schmerz anderer zu zeigen? Ist es diese Art, alltägliche Tragödien und kleine, heimliche Freuden auf eine Ebene zu stellen?
Wenn Ivo heimlich mit dem Ehemann ihrer todkranken Freundin und Patientin schläft: Ist sie dann ein zynisches Monster oder ist es – einfach nur das Leben?
LE POLYESTER, FRANCE

Minna Wündrich ist das Herz des Films, sie verleiht ihrer Figur eine Aura der Offenheit, indem sie nach und nach die verschiedenen Schichten von Ivos Abwehrhaltung abträgt. Mit diesem herausragenden Film gelingt es Eva Trobisch auf souveräne Weise, sich mit Ambivalenzen zu
beschäftigen. Am stärksten ist der Film da, wo er Widersprüche als unüberbrückbar anerkennt, auf eine ruhige, akzeptierende Art und Weise, als eine weitere Kuriosität, die das Leben mit sich bringt.
CINEUROPA

„Ivo“ wagt es, dem Sterben seine Sensation und Plötzlichkeit, das Besondere zu rauben, nach dem viele Filme so hitzig suchen. Ein dicht erzähltes Drama, das immer wieder nach winzigen Brüchen sucht, die Minna Wündrich mit ihrem kontrollierten, feinfühligen Spiel auf packende Weise nach außen projiziert.
KINOZEIT


PRODUKTIONSNOTIZEN VON EVA TROBISCH

Dieser Film ist mir passiert. Am Anfang von „Ivo“ stand ein Zufall. Ich hatte die Anfrage, einen Pitch für eine Polizeiruf-Folge zu schreiben, und hielt Ausschau nach ambivalenten Kriminalfällen. Verbrechen, die mich interessieren, weil sie einer Eindeutigkeit entbehren. Das Böse, das Falsche interessiert mich erzählerisch nicht. Es ist abgeschlossen und damit schnell langweilig. So bin ich, unter anderem, auf den „Todesengel der Charité“ gestoßen, eine Krankenschwester, die etliche schwerkranke Menschen durch Verabreichung von Medikamenten tötete – in ihrer Wahrnehmung war das eine Hilfe, ein Erlösen. Nach dem Gesetz wurde sie als Serienmörderin verurteilt. Über diese Recherche bin ich zur ambulanten Palliativpflege gekommen, wobei mir schnell klar wurde, dass ich daraus keinen Krimistoff machen wollte. Denn die Arbeitswelt der Palliativmedizin, die mir völlig neu war, faszinierte mich – der Ton, die Direktheit, der respektvolle Umgang, diese Form der Selbstverständlichkeit und Inklusion von Leben und Sterben. Ich merkte, dass ich eigentlich keine Ahnung davon hatte, keine Sprache und keinen Umgang mit dem Tod. Das beschämte mich
und das wollte ich ändern.

Ich recherchierte über einige Monate in diesem Bereich und erlebte viel, das mich aufgewühlt und berührt hat und für immer begleiten wird. Es gab Momente, in denen ich die Angst vorm Sterben verloren habe, weil die Palliativmedizin stereotype Bilder vom würdelosen Dahinsiechen teils mit alternativen, schmerzfreien und friedlichen Prozessen zu überschreiben weiß. Ich erlebte tragische Situationen, aber eben auch viel Humor, viel Wärme, viel Absurdes, viel Alltag. Der Blick auf mein Leben veränderte sich, setzte Dinge ins Verhältnis, stieß grundsätzliche Fragen an. Neben der Scham darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit ich Gesundheit voraussetze, die eigene wie die der anderen, wuchs die Demut gegenüber ebendieser. Allerdings gab es auch Momente, die mich völlig überforderten. Große Verzweiflung. Erschreckende Momente, jämmerliche und garstige.
Momente, in denen ich dem Tod gegenüber nichts als Verachtung und kalten Hass empfunden habe. Was für ein mieses Arschloch kann Krankheit sein!

Ich hatte viele Fragen und Unsicherheiten im Umgang mit diesem, dem letzten, Lebensabschnitt, und deshalb wollte ich mich, ohne Anspruch auf Antworten, weiter damit auseinandersetzten. In einem kleinen, eingespielten Team, bestehend aus einer Handvoll Mitstreitern und Freunden. Menschen, denen ich vertraue und deren Haltung und Meinung ich schätze. Allen voran war das mein langjähriger Freund und Kameramann Adrian Campean.
Adrians Vater Johann Campean ist Palliativarzt im Ruhrgebiet und hat zusammen mit einigen Kollegen einen Verbund von Einrichtungen der „Spezialisierten Ambulanten Palliativen Versorgung“ (SAPV) gegründet und mehrere Hospize mit aufgebaut. Er war unser medizinischer, lebensweltlicher und ethischer Berater und in seiner unaufgeregt großherzigen Art eine wichtige und inspirierende Persönlichkeit auf dem Weg dieses Projektes. Wir besuchten ihn oft und sprachen viel miteinander, er las jede Fassung, beriet und verbesserte. Im Film tritt Johann als der, der er ist, in Erscheinung, als Ivos Chef.

Bei allem Anspruch auf Realismus in der Darstellung der Arbeitswelt ist Ivo eine eigenständige Figur in einer fiktionalen Konstellation. Ihr Privatleben ist frei erfunden: Die selbstständige Tochter, mit der sie aufgrund ihrer langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten, eher in einer Art WG lebt. Ihre Lust am Rausch und am Kontrollverlust, die im klaren Gegensatz zur ihrer beruflichen Rolle steht, bei der sie so häufig souveräne Führung in Extremsituationen übernehmen muss. Zudem ist sie stark involviert in eine sehr besondere Patientenbeziehung. Auch diese ist fiktional. Obwohl solche Verhältnisse, laut der Teams, mit denen ich gesprochen habe, keineswegs unüblich sind. Durch die unbekannte und intime Lebenssituation kommt man sich schnell sehr nah, viel Contenance gibt es nicht zu wahren, es entstehen oft enge Verbindungen, Freundschaften und starke Gefühle.

Ich habe eine Figurenkonstellation entwickelt, die ich aus meinem eigenen Umfeld kannte. Die Geschichte einer Affäre, bei der eine der Liebenden, parallel zur rauschhaften Begegnung, mit der schweren Krankheit ihres Ehepartners belastet war. Das heimliche Verhältnis nährte sie für die Mühseligkeit des Alltags, gab Leichtigkeit und Kraft, um das Unglück zu ertragen, einen geliebten Menschen zu verlieren. Es setzte dem Ableben das Leben entgegen. In dem Moment aber, als der Kranke starb, starb auch die Affäre. Für uns alle war das eine Überraschung, nicht ganz einleuchtend – jetzt, wo der Weg doch frei gewesen wäre. Ein Freund, der Teil dieser Geschichte war, schlussfolgerte: Manchmal sind die Toten mächtiger als die Lebenden. Diese Umwege von Loyalität und Treue fand ich anrührend und interessant. Und die Geschichte in ihrer irrationalen Logik höchst menschlich und erzählenswert.
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Donnerstag 13.06.2024
SLEEP WITH YOUR EYES OPEN
Ab 13. Juni 2024 im Kino
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Eine Küstenmetropole in Brasilien. Kai landet mit gebrochenem Herzen aus Taiwan, um Ferien zu machen. Eine kaputte Klimaanlage führt sie in das Regenschirmgeschäft von Fu Ang. Er könnte ein Freund werden, doch die Regenzeit bleibt aus und sein Geschäft verschwindet. Auf der Suche nach Fu Ang entdeckt Kai die Geschichte von Xiaoxin und einer Gruppe chinesischer Arbeiter in einem noblen Wolkenkratzer. Importprodukte made in China treffen auf Probleme mit den reichen, weißen Nachbarn. In Xiaoxins Erzählung findet Kai sich merkwürdig gespiegelt.
Hauptfiguren kommen und gehen unverhofft in dieser leisen Komödie der Missverständnisse, dargestellt durch Laien und Schauspieler:innen. Von einer fremden Stadt in die nächste folgen sie mehr den Notwendigkeiten der Arbeit als einer klassischen Dramaturgie. Aber im Laufe eines heißen, langsamen Sommers wachsen zarte Bindungen zwischen ihnen wie Inseln in einem Meer voller Haie.

EIN FILM VON NELE WOHLATZ
Mit Chen Xiao Xin ( Xiao Xin), Wang Shin-Hong (Fu Ang), Liao Kai Ro (Kai), Nahuel Pérez Biscayart (Leo), Lu Yang Zong (Yang Zong) u.a.

DIRECTOR’S NOTE
Meinen ersten Spielfilm habe ich mit chinesischen Laiendarsteller:innen in Buenos Aires gedreht, ausschließlich an Wochenenden, denn unter der Woche arbeiteten alle in chinesischen Supermärkten und Importgeschäften. Oft fehlte am nächsten Wochenende jemand, war in eine andere Stadt oder ein anderes Land gezogen oder zurück nach China. Eine Darstellerin sagte zu mir: Ich könnte jetzt überall hingehen und mich anpassen, wenn es sein muss. Aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.
Zu diesem Zeitpunkt lebte ich selbst seit vielen Jahren als Ausländerin in Argentinien. Aus verschiedenen Gründen war auch mir das Gefühl für ein Zuhause abhandengekommen. Zu wem, zu was gehört man? Mit DORMIR DE OLHOS ABERTOS wollte ich einen Film machen, der in jeder Stadt der Welt spielen könnte, mit Darsteller:innen, die überall hingehen würden und nirgends dazugehören. Wie sähe ein Film aus, der das unstete Dasein und die flüchtigen Beziehungen der Figuren zu seinen Prinzipien erklärt, gegen die Regeln der klassischen Dramaturgie? Was wären das für Gemeinsamkeiten, mit denen wir arbeiten, wenn wir alle einander fremd sind?
Im Film beschreibt Xiaoxin, was um sie herum geschieht. Sie gibt den Dingen Namen und abstrakten Gefühlen Ausdruck. Kai wird zu ihrer Leserin. Ohne sich je zu begegnen, sind sie füreinander da.
Für mich sind Filme Orte, an die wir immer zurückkehren können. Wir können sie bewohnen und in ihnen ein Zuhause finden.

BIOGRAFIE NELE WOHLATZ
Die Filmemacherin Nele Wohlatz (1982, Deutschland) studierte Szenografie und Philosophie an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe und Film an der Universität Torcuato Di Tella in Buenos Aires, wo sie 12 Jahre lang lebte. In ihren Filmen erforscht sie das Verhältnis von Sprache und Filmsprache sowie die Grenze zwischen Dokumentarfilm und Fiktion. Ihre Arbeiten wurden auf Festivals wie Locarno, Rotterdam, Viennale, Mar del Plata und in Institutionen wie dem New Yorker Lincoln Center und dem MoMA gezeigt. Ihr Spielfilmdebüt EL FUTURO PERFECTO wurde mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Goldenen Leoparden für das beste Debüt in Locarno, und wurde zu mehr als 70 internationalen Filmfestivals eingeladen.


INTERVIEW MIT NELE WOHLATZ

Was hat diesen Film und seinen Entstehungsprozess inspiriert?
Mein vorheriger Film EL FUTURO PERFECTO behandelt spielerisch Fragen von Sprache und Identität nach der Migration. Es ist ein optimistischer Film. Eine Weile nachdem wir den Film fertig gestellt hatten, sagte mir Xiaobin Zhang, die Hauptdarstellerin: “Jetzt bin ich hier in Buenos Aires, es geht mir gut. Ich glaube, ich könnte überall hingehen und mich anpassen, aber es gibt keinen Ort mehr, an den ich gehöre.”
Ich lebte damals selbst mehr als zehn Jahre in Argentinien. Zehn Jahre sind lang genug, um das Gefühl der Zugehörigkeit zu dem Land, aus dem man kommt, zu verlieren. Aber auch, um zu erkennen, dass man nie zu einem un- sichtbaren Teil der neuen Gesellschaft werden wird.
Aus diesem Erleben entstand der Wunsch einen Film zu machen, der überall auf der Welt spielen könnte, mit Menschen, die irgendwo anders hingehen könnten und nirgends dazu gehören.
Auf einem Filmfestival erzählte mir der brasilianische Regisseur Kleber Mendoça Filho von den sogenannten „Zwillingstürmen“, einem illegal errichteten Luxus-Wohnkomplex in seiner Heimatstadt Recife. Zwischen den ‚rechtmäßigen‘ brasilianischen Bewohner:innen und den ‚neuen‘ chinesischen Bewohner:innen, die in der sozialen Ordnung nicht vorgesehen waren, kam es zu rassistisch konnotierten Konflikten. Die „Zwillingstürme“ schienen ein absurder urbaner Mythos. Sie versprachen den Hintergrund, nach dem ich gesucht hatte.
Xiaobin reiste zweimal mit mir nach Recife. So hat alles angefangen: zwei Ausländerinnen, die sich in ihrer Wahlheimat Buenos Aires nicht mehr wohl fühlen, interviewen die chinesische Community von Recife zu ihrem Leben zwischen Alltag und Fremdheit.

Welche Bedeutung hat der Titel des Films?
Ich war überrascht, wie informell das Wissen weitergegeben wird, das man braucht, um ein Geschäft für chinesische Importartikel zu führen. Die Menschen ziehen auf die andere Seite der Erdkugel, ohne Sprachkenntnisse oder Ausbildung. Verwandte oder Bekannte unterstützen sie, um mit einem Touristenvisum nach Brasilien zu reisen, bringen sie bei sich unter und lassen sie zunächst unbezahlt für sich arbeiten. Dabei lernen sie das Notwendigste und eröffnen so bald wie möglich ihr eigenes Geschäft. Es ist ein komplexes System wechselseitiger Abhängigkeiten, das von außen manchmal als Ausbeutung missgedeutet wird.
Das Wissen und die Regeln stehen nirgends geschrieben. Und Fu Ang schwirrt der Kopf von diesem ungeschriebenen ‚Manual for Chinese Immigrants‘. Eine Regel darin könnte lauten: Sleep with Your Eyes Open. Schlaf nicht ein, zumindest nicht tief.
Solche Ideen kamen aus den Gesprächen in der Recherche. Die Besitzerin des Stoffblumenladens, in dem wir gedreht haben, plagten nachts Heimweh, die Sorge um das Geschäft und um die Familie in China, die von ihr abhängt.
Wir sehen auch Xiaoxin und Kai nachts wachliegen. Schlaflosigkeit ist ein seltsamer Zustand, in dem Traum, Alptraum und Wachheit ineinander übergehen und der sich wie ein Schleier um alles Erlebte wickelt.

Können Sie Einblick in das gesellschaftliche Gefüge der Küstenstadt in Brasilien geben, vor deren Hintergrund der Film spielt?
Das Hochhaus, in dem Xiaoxin und die anderen leben, spielt auf die „Zwillingstürme“ von Recife an. Sie stehen sinnbildlich für eine Stadtplanung, die den öffentlichen Raum vernachlässigt und sich den Bedürfnissen der Reichen anpasst. Die Türme stehen am Rand der Altstadt, am Meer, und kehren der Stadt den Rücken zu. Natürlich gibt es städtebauliche Bestimmungen, die es verbieten, hier 37 Stockwerke hoch zu bauen - zumal auf öffentlichem Grund. Korruption ermöglicht es, trotzdem zu bauen. Politiker:innen und Richter:innen werden bezahlt - teils mit Wohnungen in den Türmen - und was erst einmal steht, wird nicht abgerissen.
Es gibt Swimmingpools und Gyms und Partyräume und mit dem Auto fährt man aus der Tiefgarage in andere private Türme, Shopping Malls oder zu Privatstränden. Die einzigen Personen, die die Türme zu Fuß betreten, sind die Bediensteten und die chinesischen Bewohner:innen, die auf der anderen Seite der mehrspurigen Straße in der Altstadt arbeiten.
Um die 2000er, während die „Zwillingstürme“ geplant werden, kommen vermehrt chinesische Einwander:innen nach Recife. Viele haben zuvor in Argentinien gelebt, bis dort die Wirtschaft zusammenbrach. Sie beginnen als informelle Händler:innen und verkaufen billige Importwaren wie gefälschte Designer-Handtaschen. Einige werden als Importeur:innen reich und kaufen Wohnungen in den „Zwillingstürmen“, die praktischerweise nahe am Arbeitsplatz liegen.
Die Wohnungen im Turm sind riesengroß. Reiche brasilianische Familien haben üblicherweise Bedienstete bei sich wohnen. Die Chines:innen nutzen den Platz, um Neuankömmlinge bei sich unterzubringen, häufig Menschen vom Land oder aus der Arbeiterschicht. Diese Konstellation sorgt für Stress mit den brasilianischen Bewohner:innen, die nicht wissen, wer arm und wer reich ist,
die keine Geduld für kulturelle Missverständnisse haben und Fahrstühle und Gemeinschaftsräume nicht mit Migrant:innen teilen wollen. Sie beschweren sich über Küchengerüche und ihre Mitbewohner:innen im Swimming Pool. Die Chines:innen bringen die Ordnung der Dinge durcheinander, die klare Abgrenzung gegen Arme. Obwohl sie keine politische Motivation haben, bilden sie eine Art subversive Kraft in den Türmen.

Wie ist die Erzählung aufgebaut, insbesondere das Portrait zweier chinesischer Frauen, die sich nie wirklich begegnen, deren Wege sich aber auf unerwartete Weise kreuzen?
Der Film spielt in Brasilien, aber er nimmt eine ausländische Perspektive ein. Die Hauptfiguren sind alle fremd in der Stadt. Kai ist eine Touristin, eine Besucherin, sie spiegelt auch meine Perspektive.
Kai findet die Postkarten mit Xiaoxins Notizen, daraufhin tauchen wir in deren Geschichte. Aber nach zwei Dritteln, wenn der letzte Akt beginnen müsste, verschwindet Xiaoxin aus der Stadt und aus dem Film, entgegen den traditionellen Regeln der Dramaturgie. Ein klassischer Held kehrt am Ende geläutert an den Ausgangspunkt zurück. Aber bei meiner Arbeit mit chinesischen Migrant:innen habe ich eine andere Art der Reise beobachtet. Die Menschen zogen oft sehr plötzlich um: in eine andere Stadt, ein anderes Land oder zurück nach China.
Wir konstruieren Geschichten, um unseren Erfahrungen einen Sinn zu geben. Dafür will ich auch die Muster und Dramaturgien hinterfragen, mit denen wir gelernt haben, unsere Erzählungen zu strukturieren. Die Heldenreise basiert auf einer Perspektive, die nicht die meine ist. Mich interessieren die multiplen Gründe für Migration, andere Formen der Familie, des Zusammenlebens, der Zugehörigkeit.
Nachdem Xiaoxin verschwindet, bleibt ihre Stimme und überlagert sich mit Kais Erlebnissen. Die Person, die schreibt und die Person, die liest, brauchen einander. Indem sie die Dinge benennen, durch das Geschichtenerzählen selbst, schaffen sie einen Raum der Zugehörigkeit.

Können Sie über Ihre Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit Schauspieler:innen aus verschiedenen Kulturkreisen in diesem Film sprechen?
Ohne die Erfahrung, die ich mit Xiaobin in meinem ersten Film EL FUTURO PERFECTO gemacht habe, hätte ich mich nie an diese Arbeit gewagt. Damals war es nicht meine Intention, die chinesische Community von Buenos Aires zu erkunden oder Xiaobins Herkunft. Doch mit Xiaobin als Übersetzerin passierte beides. Sie hat nicht nur die Sprache übersetzt, sondern mir auch ein emotionales Verständnis für ihren Hintergrund ermöglicht.
Es braucht Vertrauen und gegenseitiges Wohlwollen, um die immer neuen Missverständnisse zu klären und eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Während der Proben haben die Darsteller:innen die Dialoge und Übersetzungen diskutiert und sich dadurch angeeignet. Sie haben mich auf Unstimmigkeiten in Details der chinesischen oder brasilianischen Kultur hingewiesen. Einige der chinesischen Darsteller:innen musste ich anfangs dazu auffordern.
Ich habe ihnen versichert, dass es nicht unhöflich, sondern im Gegenteil unverzichtbar ist, dass sie mich verbessern.
Natürlich blieben Fragen offen. Ich war es nicht gewohnt, so sehr die Kontrolle abzugeben, so vielen Stimmen gleichzeitig zuzuhören. Aber das interessiert mich: nicht aus einer einzigen Perspektive zu arbeiten, sondern dass der Text in Gemeinschaft wächst.
Gleichzeitig waren die vielen Sprachen die größte Herausforderung. Wir mussten unser eigenes Übersetzungssystem entwickeln. Ich komme auf Portugiesisch zurecht, aber Mandarin verstehe ich nicht. Ich habe es nicht ernsthaft versucht zu lernen. Es interessiert mich mehr, mit dem zu arbeiten, was entsteht, wenn wir nicht meinen, einander zu verstehen. Wieso sollten wir nicht an die Grenzen der Verständigung gehen und ihre Möglichkeiten ausdehnen?

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit erfahrenen Schauspielern wie Nahuel Pérez Biscayart und Wang Shin-Hong?
In Dormir de olhos abertos haben wir erfahrene Schauspieler:innen und Menschen, die noch nie mit Film zu tun hatten, zusammengebracht. Es lief ganz organisch. Shin-Hong und Nahuel bringen beide eine Sensibilität für diese hybride Art der Arbeit mit. Shin-Hong produziert zum Beispiel auch Dokumentarfilme in seinem Herkunftsland Myanmar. Sie sind dazu bereit, ihr Spiel dem der Laien-Darsteller:innen anzupassen.
Sie sind ein bisschen wie Geheimagenten vor der Kamera, die dabei helfen, kompliziertere Szenen am Laufen zu halten. Nahuel hat eine große Sensibilität für Rhythmus und Komposition. In einem Bild mit vielen verschiedenen Menschen sorgt er ganz beiläufig dafür, dass alles in stetiger Bewegung bleibt, ohne im Chaos zu enden.

Was hat es mit der Präsenz von Hochhäusern und Aufzügen in dem Film auf sich?
In der Stadtsoziologie sind mit ‚Nicht-Orten‘ Infrastrukturen gemeint, die überall auf der Welt gleich aussehen und eine Identität oder Geschichtlichkeit negieren. Oft haben sie eine transitorische Funktion: Flughäfen, Shopping Malls, Stadt-Autobahnen, Überführungen. In Recife sind mir ein Hochhaus-Typ aufgefallen, der überall auf der Welt stehen könnte. Auch er negiert den lokalen Kontext.
Ich finde die Symbiose reizvoll, die Filme mit ‚Nicht-Orten‘ eingehen: Filme belegen noch die kältesten Orte mit Eigenartigkeit, indem sie von dem Leben und den Gefühlen zeugen, die hier stattfinden.
Ich sehe auch eine Analogie zwischen Ausländer:innen und ‚Nicht-Orten‘: wer als erwachsener Mensch in eine fremde Stadt in einem neuen Land zieht, für den hat kein Ort eine Geschichte und er selbst ist geschichtslos in der Stadt. Sich selbst und die neue Stadt zusammenzuführen ist eine Aufgabe, die nie ganz beendet wird.
Nahuel hatte einen kleinen Auftritt in meinem ersten Film. Ich wusste, dass seine Präsenz den Laien-Darsteller:innen dabei hilft, sich auf das Spiel einzu- lassen. Ich liebe es, wenn ich im Filmschnitt darüber rätsele, ob jemand gerade etwas spielt oder einfach nur da ist. Irgendwie haben sie es alle geschafft, mir dieses Rätsel mitzugeben, die erfahrenen Schauspieler:innen ebenso wie die Laien. Ich hoffe, dass dieses Rätsel sich nie auflöst.
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