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1. Zora del Buono „Seinetwegen“
2. René Aguigah „James Baldwin: Der Zeuge – Ein Porträt“
3. Ein Bild und seine Geschichte: Thomas Hoepker „Blick von Williamsburg, Br...
4. James Ellroy „Die Bezauberer“
5. Szczepan Twardoch „Kälte“
6. Stefan Franzen „Ohren auf Weltreise“
Bilder
Dienstag 17.09.2024
Zora del Buono „Seinetwegen“
Im August 1963 verunglückte der junge Arzt Dr. Manfredi del Buono auf einer Schweizer Landstraße tödlich. Ein großer Chevrolet knallte in einer Kurve bei einem Überholmanöver in den VW Käfer, in dem der Arzt und sein Schwager saßen. Der Fahrer des Chevrolet und der Schwager überlebten, Manfredi del Buono starb einige Tage später im Krankenhaus. Er hinterließ eine Frau und eine acht Monate alte Tochter.
Sechzig Jahre später hat Zora del Buono, eine Schweizer Architektin und Schriftstellerin, ein beeindruckendes Buch geschrieben, in dem sie den Unfalltod ihres Vaters aufzuarbeiten versucht. „Seinetwegen“ ist eine autobiographische Recherche, die vom Verlag nicht als Roman bezeichnet wird. Denn das Buch ist weitgehend nicht fiktional. Namen und Daten von Vater, Mutter, Großeltern und der Autorin selbst sind nicht verändert; nur die Daten von Personen, die nicht zur Familie gehören, wurden verfremdet. Authentische Schwarz-Weiß-Fotos illustrieren das Geschehen.
Zora del Buono stellt sich selbst die Frage, ob es nicht egozentrisch und für andere uninteressant sei, wenn sie von ihrer ganz eigenen Geschichte berichtet. Doch sie findet eine Herangehensweise, die weit über das rein Autobiographische hinausführt. In kurzen Abschnitten beleuchtet sie die unterschiedlichsten Aspekte des Dramas ihrer Familie und bezieht häufig Gesellschafts- und Zeitgeschichte mit ein. Sie schreibt z.B. über ihre Angst vor Nähe, die sie auf den frühen Verlust ihres Vaters zurückführt. Sie erzählt von prominenten Unfallopfern wie Isadora Duncan und Albert Camus. Oder sie äußert den Verdacht, dass das Urteil im Prozess gegen den Unfallverursacher deshalb so milde ausgefallen ist, weil ihr Vater Italiener war. Darauf folgt ein Kapitel über Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz der 1960er-Jahre.
Immer wieder sind Kaffeehausunterhaltungen mit Freunden eingeschoben, einer Psychiaterin und einem Künstler, die - wie der Chor im antiken Drama - Zoras Recherche interpretieren und kommentieren.
Trotz der Schwere des Stoffes schreibt die Autorin in einem lockeren, meist sachlichen, manchmal humorvollen, immer jedoch völlig unsentimentalen Ton. So gestaltet sie ein vielfältiges Mosaik aus Erinnerungen, Gesprächen, Reflexionen und zeitgeschichtlichen Bezügen.
Ihr Buch hat Zora del Buono ihrer Mutter gewidmet, die „mit so viel Würde ihr Leben allein geschafft hat“. Die Mutter, eine attraktive Frau, hat nicht wieder geheiratet, ihre Tochter alleine großgezogen und Karriere als Kunsthistorikerin gemacht. Ihr Leben lang hat sie um Zoras Vater getrauert, aber kaum über ihn gesprochen. Schweigen war ihre Überlebensstrategie. Im Alter sinkt sie zunehmend in eine schwere Demenz. In dieser Situation, als ihr auch die Mutter entgleitet, empfindet die 60-jährige Autorin eine tiefe Einsamkeit und eine große Sehnsucht nach ihrem unbekannten Vater. Das gibt ihr den Anstoß für ihre Spurensuche. Beim Stöbern in alten Briefen, Fotos und Filmen begegnet er ihr als ein charmanter, allseits geschätzter Arzt und Wissenschaftler. Doch, wie sie gegen Ende ihres Buches feststellen muss: Der Einzige, dem sie wirklich nähergekommen ist, ist nicht ihr Vater, sondern der Mann, der ihn auf dem Gewissen hatte.
Anfangs kennt sie nur die Initialen seines Namens. Ihre intensive Recherche führt Zora del Buono über die Gerichtsakten zum Unfall schließlich bis in das Dorf, in dem er lebte und starb, und zu Personen, die ihn noch kannten. Je mehr sie über ihn weiß, desto weniger erscheint er ihr als empathieloser Töter, sondern als Mensch, mit dem sie Mitgefühl hat. Sie erfährt, dass er nach der Katastrophe mit ihrer Mutter korrespondiert hat und mehrmals ins Krankenhaus gefahren ist, um sich nach ihrem Vater zu erkundigen; dass er als Kind adoptiert wurde und immer alleine gelebt hat. Vor allem ihre Vermutung, er könnte – wie sie selbst - homosexuell gewesen sein, bringt ihn ihr nahe und „hebt ihn in ihre Welt“, wie sie schreibt. Könnte er vielleicht sogar einmal Gast im subkulturellen Berlin der 1980er- und 1990er-Jahre gewesen sein, wo sie die intensivste Zeit ihres Lebens verbracht hat? „Du hattest so ein schlimmes Bild von ihm…. Dich hat deine Recherche auch verändert.“ sagt ein Freund zu ihr.
„Seinetwegen“, ein faszinierendes, sehr humanes Buch, steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024. Zu Recht.
Lilly Munzinger, Gauting

Zora del Buono
„Seinetwegen“
C.H.Beck
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Donnerstag 29.08.2024
René Aguigah „James Baldwin: Der Zeuge – Ein Porträt“
James Baldwin gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Autoren, mit stark politischem und sozialem Anliegen. Und wenn er auch als Romanautor, Essayist, Dramatiker und Lyriker im 20. Jahrhundert bekannt geworden ist, tritt er in seinen Texten vor allem als ein überzeugter Menschenrechtsaktivist in Erscheinung. Anlässlich seines 100. Geburtstages ist im C.H.Beck Verlag die Biographie „James Baldwin – Der Zeuge“ von René Aguigah erschienen. Ein Porträt des Autors und Menschen und eben auch des Menschenrechtsaktivisten.
Baldwins (literarische) Inhalte kreisen immer um die eigenen Diskriminierungen und damit um die ihn ganz persönlich betreffenden Themen. Rassismus und Sexualität als Stigmatisierung begegnete ihm ein Leben lang. Dieses Gefühl erfahrener Ungerechtigkeit erzeugt eine spürbare Wut, die er in literarischen Texten zu kanalisieren verstand und in späteren Diskussionsforen beeindruckend zum Ausdruck brachte.
Im März 1978 gab James Baldwin dem Kritiker der Zeit Fritz J. Raddatz ein Interview und der Schriftsteller antwortete auf die Frage, ob er denn das Leben in Amerika nicht mittlerweile weniger rassistisch erleben würde: „Die Weißen haben uns, seit wir auf dem Sklavenblock zur Auktion standen, benutzt und weggeworfen, wie sie es heute mit ihren Autos oder Kleenex-Tüchern tun. Wir waren und sind Ware. Rassenkampf ist Klassenkampf. Jede Arbeitslosenstatistik noch heute, 1978, bestätigt das. Sie haben uns gedemütigt, unsere Identität zerstört.“
Der Blickwinkel, aus dem René Aguigah in „Der Zeuge – Ein Porträt“ James Baldwins Leben skizziert, ist entsprechend auch der des politisch engagierten und sexuell diffamierten Menschen.
Zwar beschreibt Aguigah chronologisch die Umstände, die Baldwin zum anerkannten Autor haben werden lassen. Zugleich arbeitet er aber auch faszinierend heraus, dass sich überzeugtes Eintreten für Menschenrechte und literarisch anspruchsvolle Texte als Romancier nicht unbedingt ausschließen. Im Gegenteil: Gerade Baldwin versteht es, wie nur wenige andere, bodenständige Geschichten zu erzählen, die weitab jedweden propagandistischen Niveaus stehen.
Dafür sind seine Texte, trotz dem überzeugenden Plädoyer gegen Rassismus und Homophobie, literarisch zu anspruchsvoll.
Baldwins Essays hingegen sind regelrechte Kampfschriften der Bürgerrechtsbewegung. Intelligent verfasst und mit klarer politischer Haltung als ein Realist des Lebens erkennbar. Er konnte präzise analysieren und zugleich Prosatexte von poetischer Überzeugungskraft schreiben.
René Aguigah, Leiter des Literaturressorts im Deutschlandfunk, bringt auf knapp zweihundert Seiten diese verschiedenen wie faszinierenden Facetten Baldwins Persönlichkeit zum Ausdruck. Er beschäftigt sich intensiv mit einigen seiner Texte, zeigt die Widersprüche und Divergenz seines Denkens auf, die Baldwin sehr wohl auch selbst bewusst waren und unter denen er fast ein Leben lang litt. Aguigah macht zudem deutlich, wie sehr der in Harlem geborene Autor ein Suchender war, der sich trotz seiner Nähe zu Martin Luther King und Malcolm X nicht als stolzer Amerikaner fühlte, der in Paris in der Obdachlosigkeit lebte und auch das Laben als erfolgreicher Schriftsteller kennenlernte.
Das jedoch vielleicht wichtigste, was René Aguigah mit „James Baldwin: Der Zeuge – Ein Porträt“ vermittelt, ist die Neugier, die er auf Baldwins Bücher macht. Wer sie kennt, bekommt fast unstillbare Lust, sie noch einmal zu lesen. Und wer Baldwin, aus welchen Gründen auch immer, bisher nicht gelesen hat, wird es jetzt mit Sicherheit tun.
Jörg Konrad

Einige von Baldwins Romanen sind anlässlich seines 100. Geburtstages neu übersetzt jetzt bei dtv erschienen:
Wie lange, sag mir, ist der Zug schon fort (Roman)
Von einem Sohn dieses Landes (Essays)
Kein Name bleibt ihm weit und breit (Essay)
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Donnerstag 22.08.2024
Ein Bild und seine Geschichte: Thomas Hoepker „Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhatten, 11. September 2001“
Bilder
Wir leben in einem Zeitalter der Bilderflut. Aufgrund der digitalen Entwicklung hat deren Umfang in den letzten Jahrzehnten noch einmal enorm zugenommen. Man kann getrost feststellen, dass unsere Aufmerksamkeit mittlerweile im Sekundentakt mit fotografischen Eindrücken überschüttet wird, so dass eine differenzierte Analyse oder auch nur Wahrnehmung des einzelnen Objekts kaum mehr möglich ist. Egal, ob es sich um private Fotos, journalistische Arbeiten, Werbung, Fernsehbilder oder die häusliche Wandkunst handelt - Bilder sind allgegenwärtig und damit wirkmächtig, lösen Emotionen und spontane Gedanken aus, schaffen Erinnerungen und schwören Visionen herauf. Oder sie sind eben, wie die meisten, in Sekundenbruchteilen wieder vergessen.
Der Münchner Schirmer/Mosel Verlag hat jetzt eine kleine Buchreihe ins Leben gerufen, die unter dem Motto „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ ihren Weg zum Publikum sucht. Jeder Band beschäftigt sich einem ikonischen Bild aus den Bereichen Fotografie, Malerei oder Film. Dieses wird von einem Autor, Schriftsteller oder Historiker kommentiert.
Einer der ersten Bände dieser Reihe widmet sich einer Arbeit des deutschen Dokumentarfilmregisseurs und Magnum-Fotografen Thomas Hoepker. Es handelt sich um die Arbeit „Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhatten, 11. September 2001“.
Michael Diers, Kunsthistoriker und Hochschullehrer in Hamburg und Berlin, verfasste zu diesem außergewöhnlichen, den Anschlag auf das World Trade Center dargestellten Foto, ein weitreichendes, hochinteressantes wie nachdenkliches Essay.
Hoepke „schoss“ dieses Foto nicht zufällig. Er arbeitete damals in New York, hörte von der Katastrophe und suchte mit seinem Fahrzeug den schnellstmöglichen Weg nach Manhatten. Doch alle Straßen waren verstopft. So fotografierte Hoepke auf dem Weg in die Innenstadt am anderen Ufer des East River fünf Jugendliche, „die unbekümmert in der Sonne sitzen und miteinander plaudern, während hinter ihnen die Stadt in Schutt und Asche fällt – sie schauen nicht einmal hin“. So die folgenreiche Deutung dieses Bildes.
Erstmals aufgefallen ist dieses Foto erst 2005, also über vier Jahre nach dem eigentlichen Ereignis. Hoepke ließ es erst nicht veröffentlichen. Bis dahin wurden überwiegend spektakuläre Aufnahmen ausgewählt und gezeigt, jene Bilder, die die damalige Stimmungslage der Nation, die noch frischen Wunden, den Hass, die Wut und die Rachegelüste ausdrückten.
Doch die Einschätzung des Bildes und seines Inhalts traf nur bedingt zu. Als Hoepke es dann freigab, zu einer Ausstellung unter dem Titel „Political Photography“ im Münchner Stadtmuseum, entbrannte in den USA über die New York Times ein scharfer Disput, ob man denn genau wisse, was diese fünf Jugendlichen am East River in diesem Moment tatsächlich gedacht und gefühlt haben. Von nicht wenigen wurden die Personen auf dem Bild als ein Teil der typischen, durch übereifrigen (Medien-)Konsum abgestumpften, gefühllosen amerikanischen Generation fehlinterpretiert.
Interessanterweise meldeten sich nach der New York Times-Debatte zwei der dort abgebildeten Jugendlichen (Walter Sipser und Chris Schiavo) zu Wort und erläuterten ihren damaligen Seelenzustand: „Wir waren zutiefst geschockt und fassungslos, wie alle anderen, denen wir an diesem Tag begegneten.“ Hinzu kommt eine etwas diffuse Einschätzung der Szenerie von Thomas Hoepker, der die fünf damals so beschrieb: „Möglicherweise haben sie Menschen verloren und es hat sie beschäftigt, aber es hat sie nicht erschüttert“.
Die weitere Diskussion ausgehend von diesem Bild beschäftigte sich mit Stellungnahmen von Fotojournalisten gegenüber ihren eigenen Arbeiten, oder derer ihrer Kollegen. „Fotojournalisten sollten wie Künstler nicht versuchen, ihre eigene Arbeit zu interpretieren.
Letztendlich kommt auch Hoepke bezüglich der Aufnahme zu der Überzeugung: Man solle niemals Vermutungen anstellen.
Jörg Konrad

Die anderen beiden Bücher der Reihe „Ein Bild und seine Geschichte“:
Die Öffnung des Brandenburger Toresb am 22. Dezember 1989“ und
Schwäne im Schilf von Caspar David Friedrich“ zum Inhalt.

Thomas Hoepker
„Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhatten, 11. September 2001“
Ein Bild und seine Geschichte
Michael Diers / Ulrich Pohlmann
Schirmer/Mosel Verlag
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Mittwoch 14.08.2024
James Ellroy „Die Bezauberer“
Der Hohepriester der Hardboiled-Literatur hat wieder zugeschlagen. James Ellroys neuer Roman „Die Bezauberer“ spielt in den frühen 1960er Jahren und ist einmal mehr randvoll mit knappen Hauptsätzen – auch hier eines der Erkennungsmerkmale auf den über 660 Seiten des Amerikaners. Fakten und Fiktionen gehen bei Ellroy wie gewohnt Hand in Hand, wenn er sich intensiv mit dem Mythos Marilyn Monroe beschäftigt. Fred Otash, der wegen seiner Niedertracht und Brutalität aus dem Los Angeles Police Departments entlassene Privatdetektiv, recherchiert in der ihm eigenen typisch korrupten und charakterlich kaltblütigen Weise über die Schauspielerin, deren Tod, ihrem (Liebes-)Verhältnis zum amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy und dem seines Bruders, Generalstaatsanwalt Robert „Bobby“ Kennedy. Weitere handelnde Personen in Nebenrollen: Liz Taylor, Richard Burton, Rock Hudson, Peter Lawford, Jimmy Hoffa und ungezählte andere.
Aus all diesen Personen und dem menschlichen Sumpf aus Drogen, Sexismus, Rassismus, Gewalt und Korruptin schafft Ellroy in „Die Bezauberer“ eine alptraumhafte Symphonie, in der es keine „Guten“ und keine wahren „Helden“ gibt. Höchstens Opfer, die immer aus dem Blickwinkel des Verbrechens beschrieben werden, in dem die Grenzen zwischen Korruption und Korrektheit, zwischen Vergeltung und Gerechtigkeit, zwischen Gewalt und Gier, Skrupellosigkeit und Heuchelei fließend sind.
In über zwei Dutzend Romanen, von denen allein sieben zum Teil erfolgreich verfilmt wurden, beschäftigt sich der Autor seit gut vier Jahrzehnten mit den größten Mythen der US-amerikanischen Gesellschaft. In seinen Büchern wird abgehört, beschattet, betrogen, gedealt, verletzt, korrumpiert, konsumiert und umgebracht. In den hochvirtuosen wie komplex erzählten Handlungsträngen entladen sich nicht selten regelrechte Orgien aus Gewalt und Hass. Letztendlich dienen diese Schilderungen jedoch allein der Bewältigung seines eigenen Traumas - der Ermordung seiner Mutter, als er zehn Jahre alt war (der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt).
Auch sind Ellroys Texte, die ebenso von skrupellosen Widerlingen, als auch hoffnungslos Gestrandeten erzählen, als ein Spiegel der amerikanischen Gesellschaft an ihren Rändern zu verstehen, die am scheinbaren gesellschaftlichen Glück anderer teilhaben wollen aber letztendlich im eigenen Morast versinken.
Übrigens besitzt Fred Otash, die Hauptfigur auch in dem Ellroy-Roman „Allgemeine Panik“, deutliche Bezüge zu einer realen Figur gleichen Namens, der als Polizist, Privatdetektiv und Autor, sein Geld hauptsächlich mit Intrigen, Korruption, Bestechung, Erpressung und deren Veröffentlichung in Klatschmagazinen verdiente und 1992 starb. Auch diente diese Gestalt dem Privatdetektiv Jake Gittes in Roman Polanskis Film „Chinatown“ (gespielt 1974 von Jack Nicholson) als Vorlage.
Auch „Die Bezauberer“ beinhaltet das „Sittengemälde einer Welt im Abwärtsstrudel“. Wer Ellroy liest braucht Nerven wie Drahtseile.
Jörg Konrad

James Ellroy
„Die Bezauberer“
Ullstein
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Montag 05.08.2024
Szczepan Twardoch „Kälte“
Kälte“ ist ein erschütternder Roman. Er erzählt die mehrmals gebrochene Biographie eines Menschen, der den Schrecknissen und Wirren der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesetzt war. Er beinhaltet die gesellschaftlichen Katastrophen, die ihre Spuren bis in die Gegenwart hinterlassen haben. Konrad Widuch, aus dem kleinen schlesischen Ort Pilchowice stammend, ging im Ersten Weltkrieg aus Überzeugung zur preußisch-kaiserlichen Marine und nahm am Kieler Matrosenaufstand 1918 teil. Aus Enttäuschung über den Ausgang der Novemberrevolution wurde er Trotzkist, ging mit seiner Frau, der Revolutionärin Sofie und ihrer gemeinsamen Tochter in den Osten, um als Bolschewiki für eine kommunistische Neuordnung der Welt zu kämpfen.
Unter Stalin fiel er in Ungnade und landete als russischer Gefangener in einem ostsibirischen, völlig entmenschlichten Gulag. Von dort floh er bei eisigen Stürmen und zweistelligen Minusgraden durch die unwegsame Taiga und wurde von einem unbekannten Urvolk, den Ljaudis, gefunden und gerettet. Bei ihnen lebte er einige Jahre – bis eines Tages russische Flieger das entfernt jeder Zivilisation lebende Taigavolk, die Cholod-Gesellschaft, entdeckten und Widuch gezwungen war, seine von Grauen gezeichnete Flucht fortzusetzen.
Der kommentierende Erzähler dieses Buches, mit deutlichen Parallelen zur Biographie Szczepan Twardochs, befindet sich während einer persönlichen Lebenskrise auf der Reise in die Arktis. Er lernte eine ältere Dame kennen, die ihm ein handschriftliches Manuskript zu lesen gibt. Dabei handelt es sich um das Tagebuch der Lebensgeschichte Konrad Widuchs.
Soweit die Rahmenhandlung des Romans „Kälte“, in dem Twardoch einen Teil seiner persönlichen Familiengeschichte, politischen Sichtweisen, Visionen und seine Schreibkunst miteinander in Beziehung bringt. Herausgekommen ist ein Roman, dessen Inhalt ebenso aufwühlt, wie er auch tief berührt, der halb Geschichts- halb Abenteuerbuch ist. Man spürt, dass der Autor aktuelle politische Geschehnisse und Entwicklungen in diesen Roman hat einfließen lassen. Twardoch hat sich in der Vergangenheit immer wieder mit geschichtlichen Ereignissen und Abläufen in Polen beschäftigt. In „Kälte“ beschäftigt er sich wie in kaum einem anderen seiner Romane mit der Grundlage dessen, was wir heute als aktuelle Tagespolitik erkennen. Insofern kann man „Kälte“ auch tatsächlich als eine „Jahrhundertbiographie“ bezeichnen, die in folgendem Zitat gipfelt: „Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst.“
Jörg Konrad

Szczepan Twardoch
„Kälte“
Rowohlt
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Montag 29.07.2024
Stefan Franzen „Ohren auf Weltreise“
Der 18. Oktober gehört dem Georg Breinschmid Trio und „Reminiscence“; der 16. Mai ist für den Marokkaner Mehdi Nassouli und sein „Bouch3kouka“ reserviert; am 26. Juni klingt der Brasilianer Gilberto Gil und „Marmundo“ durch den Äther und das katalanisch-norwegische Duo Hirundo Maris füllt mit seinem „El Desembre Congelat“ den 26. Dezember aus. Für jeden Tag des Jahres ein Song - Stefan Franzen macht Vorschläge. In seinem Buch „Ohren auf Weltreise“ gibt der Autor von Radiosendungen, Journalist für Fachzeitschriften und Programmtexter Franzen 366 verschiedene Tipps und liefert zugleich jeweils eine kleine Geschichte zu dem Song gratis. Was für die meisten von Vorteil sein dürfte. Denn nicht jeder weiß auf Anhieb wo Sapmi, Somaliland oder Belize liegt.

Mit 366 globalen Musikgeschichten durchs Jahr – lautet der Untertitel dieses 350-seitigen, kurzweiligen Schmöckers. In Zeiten, in denen uns Weltmusik in fast allen Bereichen des (musikalischen) Lebens begegnet, eigentlich eine nur allzu logische Idee. Die kurzen journalistischen Texte beschäftigen sich ganz allgemein mit Land und Leuten, mit den Kulturen der Interpreten, den Umständen der Entstehung einzelner Songs, oder den Wegen, wie es diese Musik aus den entlegensten Winkeln der Welt bis zu unseren Ohren geschafft hat. Ob Flamenco oder Fado, Salsa oder Samba, Rock'n Roll oder Raga, Maqam oder Reggea. Dabei handelt es sich um populäre Songs, um volkstümliche Klänge oder um klassische Musiktraditionen, Musik aus Protest oder Musik zur Heilung. Manches klingt archaisch, manches experimentell, manches ist laut, anderes sehr still. Per QR-Code kann jeder zudem auf Playlists zugreifen und sich jeweils einen direkten Höreindruck verschaffen und diskographische Angaben abrufen. Die Welt scheint kleiner geworden, ist näher zusammengerückt. Mit ihr auch die landesspezifischen Musikszenen und deren exotisch anmutende Vielfalt. Stefan Franzens Buch ist hierbei ein vorzüglicher Navigator.
Jörg Konrad

Stefan Franzen
„Ohren auf Weltreise“
Hannibal
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