Sechzig Jahre später hat Zora del Buono, eine Schweizer Architektin und Schriftstellerin, ein beeindruckendes Buch geschrieben, in dem sie den Unfalltod ihres Vaters aufzuarbeiten versucht. „Seinetwegen“ ist eine autobiographische Recherche, die vom Verlag nicht als Roman bezeichnet wird. Denn das Buch ist weitgehend nicht fiktional. Namen und Daten von Vater, Mutter, Großeltern und der Autorin selbst sind nicht verändert; nur die Daten von Personen, die nicht zur Familie gehören, wurden verfremdet. Authentische Schwarz-Weiß-Fotos illustrieren das Geschehen.
Zora del Buono stellt sich selbst die Frage, ob es nicht egozentrisch und für andere uninteressant sei, wenn sie von ihrer ganz eigenen Geschichte berichtet. Doch sie findet eine Herangehensweise, die weit über das rein Autobiographische hinausführt. In kurzen Abschnitten beleuchtet sie die unterschiedlichsten Aspekte des Dramas ihrer Familie und bezieht häufig Gesellschafts- und Zeitgeschichte mit ein. Sie schreibt z.B. über ihre Angst vor Nähe, die sie auf den frühen Verlust ihres Vaters zurückführt. Sie erzählt von prominenten Unfallopfern wie Isadora Duncan und Albert Camus. Oder sie äußert den Verdacht, dass das Urteil im Prozess gegen den Unfallverursacher deshalb so milde ausgefallen ist, weil ihr Vater Italiener war. Darauf folgt ein Kapitel über Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz der 1960er-Jahre.
Immer wieder sind Kaffeehausunterhaltungen mit Freunden eingeschoben, einer Psychiaterin und einem Künstler, die - wie der Chor im antiken Drama - Zoras Recherche interpretieren und kommentieren.
Trotz der Schwere des Stoffes schreibt die Autorin in einem lockeren, meist sachlichen, manchmal humorvollen, immer jedoch völlig unsentimentalen Ton. So gestaltet sie ein vielfältiges Mosaik aus Erinnerungen, Gesprächen, Reflexionen und zeitgeschichtlichen Bezügen.
Ihr Buch hat Zora del Buono ihrer Mutter gewidmet, die „mit so viel Würde ihr Leben allein geschafft hat“. Die Mutter, eine attraktive Frau, hat nicht wieder geheiratet, ihre Tochter alleine großgezogen und Karriere als Kunsthistorikerin gemacht. Ihr Leben lang hat sie um Zoras Vater getrauert, aber kaum über ihn gesprochen. Schweigen war ihre Überlebensstrategie. Im Alter sinkt sie zunehmend in eine schwere Demenz. In dieser Situation, als ihr auch die Mutter entgleitet, empfindet die 60-jährige Autorin eine tiefe Einsamkeit und eine große Sehnsucht nach ihrem unbekannten Vater. Das gibt ihr den Anstoß für ihre Spurensuche. Beim Stöbern in alten Briefen, Fotos und Filmen begegnet er ihr als ein charmanter, allseits geschätzter Arzt und Wissenschaftler. Doch, wie sie gegen Ende ihres Buches feststellen muss: Der Einzige, dem sie wirklich nähergekommen ist, ist nicht ihr Vater, sondern der Mann, der ihn auf dem Gewissen hatte.
Anfangs kennt sie nur die Initialen seines Namens. Ihre intensive Recherche führt Zora del Buono über die Gerichtsakten zum Unfall schließlich bis in das Dorf, in dem er lebte und starb, und zu Personen, die ihn noch kannten. Je mehr sie über ihn weiß, desto weniger erscheint er ihr als empathieloser Töter, sondern als Mensch, mit dem sie Mitgefühl hat. Sie erfährt, dass er nach der Katastrophe mit ihrer Mutter korrespondiert hat und mehrmals ins Krankenhaus gefahren ist, um sich nach ihrem Vater zu erkundigen; dass er als Kind adoptiert wurde und immer alleine gelebt hat. Vor allem ihre Vermutung, er könnte – wie sie selbst - homosexuell gewesen sein, bringt ihn ihr nahe und „hebt ihn in ihre Welt“, wie sie schreibt. Könnte er vielleicht sogar einmal Gast im subkulturellen Berlin der 1980er- und 1990er-Jahre gewesen sein, wo sie die intensivste Zeit ihres Lebens verbracht hat? „Du hattest so ein schlimmes Bild von ihm…. Dich hat deine Recherche auch verändert.“ sagt ein Freund zu ihr.
„Seinetwegen“, ein faszinierendes, sehr humanes Buch, steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024. Zu Recht.
Lilly Munzinger, Gauting
Zora del Buono
„Seinetwegen“
C.H.Beck
„Seinetwegen“
C.H.Beck