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7. Vor 40 Jahren: Keith Jarrett / Gary Peacock / Jack DeJohnette
8. Shoko Igarashi „Onsen Music“
9. Marilyn Crispell / Gary Peacock / Paul Motian „Amaryllis“
10. Peter Gall „Love Avatar“
11. Annette Peacock „An Acrobat's Heart“
12. Rolf Kühn „Fearless“
Montag 06.01.2025
Vor 40 Jahren: Keith Jarrett / Gary Peacock / Jack DeJohnette
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Am 06. Januar 1983 hatte der damalige Bundespräsident Prof. Dr. Karl Carstens die Auflösung des Deutschen Bundestages angeordnet. Vorausgegangen war ein konstruktives Misstrauensvotum Helmut Kohls (Bundeskanzler, CDU) nach Artikel 67 des Grundgesetzes. Ebenfalls im Januar desselben Jahres fand im Münchner Residenztheater die Uraufführung des Theaterstückes „Bruder Eichmann“ von Heinar Kipphardt statt - ein Skandal. Das Stück schildert den SS-Führer Adolf Eichmann als den Typus eines funktionalen Menschen, der im 20. Jahrhundert zum „Normalfall“ geworden sei.
Ein US-amerikanisches Forscherteam berichtete im Januar 83 über die Entdeckung des ersten Schwarzen Loches außerhalb unserer Galaxie und der schwedische Tennisspieler Björn Borg (11-maliger Grand-Slam Gewinner und 5-maliger Wimbledon-Sieger) erklärte zu jener Zeit seinen Rücktritt vom Profisport. ?
An einem Dienstagvormittag im Januar 1983 trafen sich im New Yorker Stadtteil Brooklyn, in den dortigen Power Station Studios, drei amerikanische Musiker, ein deutscher Produzent, ein norwegischer Toningenieur und ein halbes Dutzend dort angestellter Mitarbeiter. Es sollte die Geburtsstunde einer Formation werden, die mit ihren Veröffentlichungen die nächsten Jahrzehnte im Jazz enorm, um nicht zu sagen legendär bereichern sollte. Unter dem Bandnamen Standard Trio fanden die schon zuvor miteinander vertrauten Keith Jarrett (Piano), Gary Peacock (Bass) und Jack DeJohnette (Schlagzeug) in den holzverschalten Hallenstudios zusammen.
Im Gepäck hatten sie keine neuen, frisch komponierten, spektakulären Songs. Im Gegenteil: Im Studio verteilt lagen ganze Stapel von alten Noten und Manuskripten, die Klassiker des Jazz beinhalteten, „abgenutzte“ Stücke also, die zu den Standards dieser Zunft zählen. Sie wurden schon zuvor unzählige Male eingespielt und verschiedentlich interpretiert. Kompositionen, die aber zur Grundausstattung, zum Rüstzeug eines jeden ernsthaften Jazzmusikers gehörten und bis heute gehören. Es sind Melodien aus Broadway-Shows, aus erfolgreichen Musicals, aus mehr oder weniger bekannten Hollywood-Filmen und sogar Operetten-Hits aus den 1920er, 1930er und 1940er Jahren finden hier Eingang. Alle zusammen könnte man auch zum inneren Kreis der Evergreens des Jazz zählen.
Und mit diesen allseits bekannten Schlachtrössern des Genres wollte man in einer Zeit, als das Abenteuer Weltmusik in voller Blüte stand, als Miles Davis seine Karriere zwar mühsam, aber immerhin wiederholt ankurbelte, als Anthony Braxton seine mathematischen Formeln und sein Schach-know-how in avantgardistische Saxophonformeln goss und James Blood Ulmer mit seinem unvergleichlichen Free Funk die ersten Schritte unter eigenem Namen ging, in dieser Zeit also wollten die drei innovativsten unter den Instrumentalisten mit einem traditionellen Programm dem Zeitgeist neues Leben einhauchen, wollten mit „Oldies“ punkten. Aber Keith Jarrett sagte auch (laut Booklet): „Standards werden deshalb unterschätzt, weil die Leute gar nicht verstehen, wie schwer es ist, Melodien zu schreiben.
Jarrett, Peacock und DeJohnette einigten sich auf ein umfassendes Repertoire und am 11. Januar um 11.25 Uhr begann die gemeinsame Session, die für zwei Tage angesetzt war, mit „Meaning Of The Blues“ von Bobby Troup. Drei Individualisten, die in den zurückliegenden Jahren jeder für sich Meilensteine des Jazz aufgenommen hatten, mussten hier ad hoc eine gemeinsame Basis finden, sich auf Augenhöhe begegnen, ohne Starallüren, und ohne sich solistisch jeweils in den Vordergrund zu spielen - um einen Gemeinschaftsfluss zu entwickeln. Das lief letztendlich weitaus besser und zügiger als gedacht – es waren eben absolute Profis am Werk. Nach dem ersten Stück hörten sie sich das Ergebnis an. Fazit: „Meaning Of The Blues“ geriet mit gut zwölf Minuten zu lang. Also noch einmal das Ganze, etwas bluesiger und etwas kompakter. Das zweite Ergebnis war perfekt – das erste Stück für das kommende Album somit im Kasten.
Das Trio nahm kontinuierlich ein Stück nach dem anderen auf und fast durchgehend gelang ihnen jeweils der erste Take brillant. So entstanden neben „Meaning Of The Blues“, ein furios explodierendes „All The Things You Are“ (Kern/Hammerstein), ein traumhaft getragenes „It Never Entered My Mind“ (Rodgers/Hart), ein in tänzerischer Gospelatmophäre interpretiertes „God Bless The Child“ (Herzog/Holiday) und am nächsten frühen Nachmittag „So Tender“ (Wilder/Engvick/Palitz) im mehr exotischen Bossa Nova Rhythmus. Elf Titel waren letztendlich eingespielt, die durchweg außergewöhnlich klangen (Jarrett: „Ich glaube, die Typen, die das damals geschrieben haben, hätten ihre Freude gehabt").
Keith Jarrett jedenfalls durchpflügt und zerpflückt die Melodien, setzt sie geschickt neu zusammen, findet Verweise zu anderen Songs und etlichen Zitaten aus der reichhaltigen Jazzgeschichte. Er bringt Lyrik und Swing spielerisch zusammen, arbeitet mit Kontrapunkten, beschränkten Pathos und hinreißenden Arpeggien. Es sind regelrechte Exkursionen, die er unternimmt, von den Zentren ohrwurmhafter Kompositionen, bis an die Ränder des freien Musikantentums.
All dies wird elegant begleitet, bekommt eine körperlich rhythmische Note, wird von Gary Peacock am Bass entschiedend unterstützt, verknüpft, aus dem Zusammenhang gerissen und wieder in Beziehung gesetzt. Er schafft eine Atmosphäre des Fundamentalen, von eingängigen Phrasen weit entfernt. Alles in allem groovende Intimität.
Jack DeJohnette nimmt all die rhythmischen Fäden und Chargen, die harmonischen Strukturen und taktartigen Verästelungen auf, webt neue Verbindungen und knüpft individuelle Koalitionen. Diese sensible Leidenschaft bringt die Musik tatsächlich zum Fliegen. Manchmal leise und behutsam, dann aber auch temperamentvoll und kontrastreich. Jack DeJohnette ist und bleibt das trommelnde Epizentrum im Jazz.
Doch noch immer war Studiozeit vorhanden und so improvisierten Jarrett, Peacock und DeJohnette mit „Flying“ und „Prism“ in furioser Spielfreude zwei freie Stücke, in denen noch einmal der ganze Druck dieser Aufnahmesession von ihnen fiel und sie im freien Spiel jede Angespanntheit von sich schüttelten. Spontanität, Dynamik und Dramaturgie sind hier die einzig bestimmenden Wegmarken. Und alle drei beherrschen diese perfekt, haben in den Aufnahmen zuvor genügend von ihrem jeweiligen Mitmusiker erkundet, um jetzt mit vollem Risiko musikalisches Neuland zu erschaffen.
Geplant war von Beginn an nur ein einziges Album in dieser Besetzung und mit diesem Material. Auch war keine größere Tournee geplant. Doch aufgrund der Fülle und der Qualität der Einspielungen entschloss sich das Label letztendlich für mehrere Veröffentlichungen. So erschien „Standards Volume 1“ am 1. September 1983, „Standards Volume 2“ am 29. April 1985. Das Album „Changes“, mit den Titeln „Flying 1“, Flying 2“ und „Prism“ kam am 01. September 1984 auf den Markt.
Bis heute gehört das Standard-Trio zu den ganz großen Formationen des Jazz. Wie kaum eine andere Band verbinden Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette hier Tradition und Moderne. Die Veröffentlichungen unterstreichen durchweg die Zeitlosigkeit des Jazz und machen deutlich, zu welchen musikalischen Glanztaten Solisten auch in Gemeinschaft in der Lage sind.
Jörg Konrad

Die „Ausbeute“ aus 26 Jahren Standards-Trio:

1983: Standards, Vol. 1 (recorded 1983, Power Station New York) 1LP / 1CD
1984: Changes (recorded 1983, Power Station New York) 1LP / 1CD
1985: Standards, Vol. 2 (recorded 1983, Power Station New York) 1LP / 1CD
1987: Standards Live (recorded 1985, Live Palais des Congrès Paris) 1LP / 1CD
1986: Still Live (recorded 1986; Live Philharmonie, München) 2LP / 2CD
1987: Changeless (recorded 1987, Live Denver, Dallas, Lexington, Houston) 1LP / 1CD
1989: Tribute (recorded 1989, Live Philharmonie Köln) 2LP / 2CD
1991: The Cure (recorded 1991, Live at Town Hall New York) 1CD
1993: Bye Bye Blackbird (recorded 1991, Power Station New York) 1CD
1995: At The Blue Note (recorded 1994, Live The Blue Note New York) 6CD Box
1995: Standards in Norway (recorded 1989, Live Konserthus Oslo) 1CD
1998: Tokyo ’96 (recorded 1996, Live Orchard Hall Tokyo) 2CD
2000: Whisper Not (recorded 1999, Live Paris) 2CD
2001: Inside Out (recorded 2000, Live Royal Festival Hall London) 1CD
2002: Always Let Me Go (recorded 2001, Live Orchard Hall and Bunka Kaikan Tokyo) 2CD
2003: Up For It (recorded July 2002, Live Festival de Jazz d'Antibes, Juan-les-Pins) 1CD
2004: The Out-Of-Towners (recorded 2004 Live State Opera, Munich) 1CD
2007: My Foolish Heart (recorded 2001, Live Stravinski Auditorium, Montreux) 2CD
2009: Yesterdays (recorded 2001, Live Tokyo’s Metropolitan Festival Hall) 2LP / 2CD
2013: Somewhere (recorded 2009 Live KKL Luzern) 1CD
2018: After The Fall (recorded 1998, Live New Jersey) 2CD
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Freitag 20.12.2024
Shoko Igarashi „Onsen Music“
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Shoko Igarashi verbindet Funk und Soul, japanischen City-Pop und europäische Avantgarde, Fusion und Filmmusik zu einer ganz eigenen musikalischen Synthese. Die Saxophonistin, Flötistin, Elektrospezialistin und Sängerin begibt sich mit ihrem zweiten Album „Onsen Music“ auf eine überzeugende harmonische Reise – entlang auf- und anregender Musiklandschaften. Good Vibrations meets Groove könnte man dieses schillernde Klangspektrum zusammenfassend bezeichnen. In Japan nennt sich schon ein eigener Stil nach dieser farbenfrohen Tonkunst: Onsen Music. Unter Onsen versteht man seit Jahrhunderten ein gemeinschaftliches Thermalbad, das von einer heißen Quelle gespeist wird und Gelegenheiten der Entspannung bietet, um gleichzeitig die Natur zu genießen.
Shoko ist in der Präfektur Yamagata in der Stadt Tsuruoka in Japan geboren. Am Berklee College of Music in Boston hat sie studiert und dort auch ihren Bachelor-Abschluss gemacht. Eine Zeitlang lebte sie in New York, seit 2018 in Brüssel, Belgien, wo sie im Alleingang das Album „Onsen Music“ einspielte, das dann wiederum beim Pariser Label Tigersushi Records veröffentlicht wurde. Das klingt nach eingeschworenem Weltbürgertum, nach einem Leben mit unterschiedlichsten kulturellen Erfahrungen, die in Shokos Kunst entsprechend ihren Ausdruck findet. Sie schafft eine hinreißende elektronische Musik, die zugleich vitalisiert und inspiriert, die sich zum Tanzen eignet und deren komplexe Differenziertheit neue popmusikalische Horizonte öffnet.
Jörg Konrad

Shoko Igarashi
„Onsen Music“
Tigersushi
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Montag 16.12.2024
Marilyn Crispell / Gary Peacock / Paul Motian „Amaryllis“
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Freiheit im Jazz ist nicht immer gleich zu setzen mit Lautstärke, Unkontrolliertheit, Eigensinn, oder Provokation. Freiheit kann ebenso auch Introvertiertheit, Emotionalität, Schlichtheit und Poesie beinhalten. Von letzterem besitzt das im Februar des Jahres 2000 in New York aufgenommene Album „Amaryllis“ der Pianistin Marilyn Crispell, des Bassisten Gary Peacock und des Schlagzeugers Paul Motian so einiges. Alle drei waren zum damaligen Zeitpunkt vertraut miteinander, befanden sich schon zuvor gemeinsam im Studio und waren auch miteinander auf Tour. Ihre Musizierweise, ihre instrumentale Kommunikation ist, bei aller wesenhaften Selbstständigkeit, geprägt von enormen Respekt voreinander, von dem Willen getrieben, miteinander ins „Gespräch“ zu kommen - bei aller Verschiedenartigkeit, das Einsame im freien Spiel zur Verfügung zu stellen und gemeinschaftlich zu erkunden.
In intimer Verbundenheit ertastet das Trio zaghaft Räume, nutzt hierfür Kompositionen, die wir schon von anderen Alben kennen, die hier aber wie völlig unverbrauchtes Neuland klingen. Das individuelle musikalische Vokabular scheint einem übergeordneten Diktat der Sparsamkeit und der Transparenz verpflichtet. So wird „Amaryllis“ zu einem Balanceakt zwischen dünnhäutiger Intensität und zurückhaltendem Sichgehenlassen.
Marilyn Crispell ist die mutige Forscherin, die die bewanderten Wege der Harmonien pianistisch verlässt, stattdessen im Unterholz nach sachten Dissonanzen und klanglicher Abstraktion stöbert. Ohne jede avantgardistischen Floskeln oder gar abgedroschenen Phrasen. Bei ihr gibt es keinen Ballast fremder Muster.
Gary Peacock ist am Bass ein Kämpfer für Freiheit und Korrespondenz. Er verliert nie ganz den Anschluss zur Gemeinschaft, nimmt auch deren Gedanken auf, führt sie in seinem rhythmischen Sinn weiter und spiegelt sie wiederum hilfreich seinem Partner. Ein sicherer, ein verlässlicher Wegbegleiter – auf freiem Feld ebenso wie im Dickicht unzugänglicher Wildnis.
Das alles untermalt Paul Motian auf Trommeln und Becken sensibel. Ein Schlagzeuger, der sich zumindest hier zahm und lyrisch windet, der jede Bebop Reminiszenz (fast durchgehend) aus dem Spiel lässt. Der Sohn armenisch-türkischer Einwanderer umkreist den Beat im Stillen, bricht die Rhythmen mit tänzerischem Charme, deutet Wege als Möglichkeiten an und setzt dabei asymmetrische Impulse – wie wir sie seit so vielen Jahren schon schmerzlich vermissen. „Amaryllis“ ist erstmals auf Vinyl erschienen - in der Wiederveröffentlichungs-Reihe Luminessence von ECM, in exzellenter Klangqualität und hochwertigem Gatefold-Cover.
Jörg Konrad

Marilyn Crispell / Gary Peacock / Paul Motian
„Amaryllis“
ECM
LP from the "Luminessence" Series
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Mittwoch 11.12.2024
Peter Gall „Love Avatar“
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Dieses Album ist das Ergebnis einer explosiven Gemeinschaftsarbeit. Fünf Musiker auf Augenhöhe, randvoll mit Spielideen und spürbarer Besessenheit, Selbstbewußt wie auch Abenteuerlustig. Nur so entsteht ein Album wie aus einem Guss: „Love Avatar“.
Peter Gall, Schlagzeuger und Spiritus Rector dieses Unternehmens, bewegt sich mit seinem Quintett im Fahrwasser von Fusion und Improvisation, dabei in Sichtweite von Avantgarde und Kammerjazz. „Love Avatar“ bebt vor Vitalität. Es bringt mannigfaltige Einflüsse zum Ausdruck und klingt letztendlich doch völlig eigenständig. Diese Art des Musizierens begegnet einem heute eher selten. Vielschichtige Harmonien, zerklüftete Takt-Verschiebungen, variierende Skalen und ein immer wieder wechselnder, erfrischender Sound. Musik die in ihren rauschhaften Momenten mitreißt und in ihren ruhigen Momenten verzaubert.
Peter Gall, dieser perkussive Brandstifter, hat auf ihm vertraute Instrumentalisten zurückgegriffen, die ein enormes Erfahrungspotenzial besitzen. Wanja Slavin gehört zu den großen Virtuosen am Saxophon, der zugleich eigene Gruppen leitete und faszinierende Musik komponierte. Man hat ihn einmal als einen gradlinigen Nonkonformisten bezeichnet.
Reinier Baas gehört mit seinen luftigen Improvisationen, seiner Ideenflut und der kreativen Gelassenheit zu den Ausnahmeerscheinungen unter den europäischen Gitarristen. In Rainer Böhm an den akustischen und elektronischen Tasteninstrumenten spielt hier ein unglaublich erfahrener Instrumentalist. Intensiv wie raffiniert durchkämmt er die Jazzgeschichte, nutzt von dort Zitate und bringt eigene Intuitionen mit ein. Matthias Pichler, Bassist aus Leidenschaft und aus Tirol kommend, gehört zu den Vielbeschäftigten seiner Zunft. Er studierte in New York bei John Patitucci, Larry Grenadier und Marc Johnson, war lange Jahre Teil des Wolfgang Muthspiel Trios und tritt mit eigenem Programm immer wieder solistisch auf. Hier, in dieser Konstellation, kommen seine Dynamik und seine grundierende Wucht zum Ausdruck. Gemeinsam mit Peter Gall bilden sie ein lustvoll agierendes Rhythmus-Duo, das die Musik ständig vorantreibt, die Band im Fluss hält, ihr Esprit verleiht und dabei eine überschäumende Spielfreude vermittelt. So gerät „Love Avatar“ in ein Fahrwasser geballter rhythmischer Power. Letztlich: Musik in Vollendung.
Jörg Konrad

Peter Gall
„Love Avatar“
Compost
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Dienstag 10.12.2024
Annette Peacock „An Acrobat's Heart“
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Annette Peacock besitzt schon seit den frühen 1970er Jahren die seltene Fähigkeit, mit eigenen Werken enorm zu faszinieren – um anschließend wieder gänzlich unterzutauchen. Insofern war es nie ganz einfach, ihrer discographischen Spur zu folgen – bis dann plötzlich wieder so ein akustisches Kleinod von ihr den Raum erstrahlte. Sie war und ist eine dieser kreativen Menschen, die von Ideen und Visionen getrieben sind, mit diesen sehr sparsam umgehen und dabei die Kraft, den Mut, wie den Gestaltungswillen besitzen, ihre klanglichen Vorstellungen überzeugend in die Tat umzusetzen.
Annette Peacock, 1941 in New York geboren, war immer Autodidaktin, sowohl am Klavier, als auch im Noten schreiben. Sie spielte früh „befreite Musik“ mit Albert Ayler und Paul Bley, komponierte etliche Stücke für elektronische Musik (bekam hierfür sogar einst den Prototyp des gerade entwickelten Synthesizers von Robert Moog), experimentierte mit Improvisationen und Rockrhythmen und setzte sich intensiv mit gesellschaftspolitischen Themen auseinander. Dabei war sie stets eine Poetin, eine Frau die allem, was sie anpackte und umsetzte, einen gewissen Zauber verlieh.
Manfred Eicher gab bei ihr 1997 eine Musik in Auftrag, die drei Jahre später bei ECM veröffentlicht wurde. „An Acrobat's Heart“ besteht aus 15 Songs für Klavier, Stimme und Streichquartett. Und es ist wieder eine dieser zeitlosen Aufnahmen geworden, die damals wie aus dem Nichts erschien und zugleich eine völlig andere Seite ihrer musikalischen Persönlichkeit offenbarte. Ein Hauch Jazz, eine Prise Singer-Songwritin, ein exakt ausgearbeitetes Streichquartett im Klassikformat. Und all dies brachte Annette Peacock auf „An Acrobat's Heart“ in Bezug zueinander – in sparsamen Dosen versteht sich. Und auch hier taucht wieder der Begriff der „Freiheit“ auf. Nicht „Freiheit“ in direktem Bezug zur Musik, sondern im Zusammenhang mit dem Anspruch, verschiedene Dinge wie selbstverständlich miteinander zu verschmelzen.
Dabei spinnt sie ihre Hörer in ein lyrisches Kokon von pulsierenden Emotionen und aufrichtigen Gedanken. Mit ihrer hellen und zugleich betörend sirenenhaften Stimme interpretiert sie …dämmrige Gefühlslagen, untermalt diese mit reduzierten Klaviermotiven und nuanciert gefärbten Streichpassagen. Das alles klingt selbst nach knapp einem Vierteljahrhundert noch zeitlos modern, berührt tief und verströmt einen solitairen Glanz. So macht es absolut Sinn „An Acrobat's Heart“ in der Luminessence-Serie von ECM neu zu veröffentlichen.
Jörg Konrad

Annette Peacock
„An Acrobat's Heart“
ECM
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Montag 09.12.2024
Rolf Kühn „Fearless“
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In einem knapp zwanzig-seitigen Interview, das dieser Tage im Jazzpodium erschien, schwärmt Joachim Kühn von der Offenheit und Empathie seines „großen“ Bruders Rolf. Als dieser schon ein Star der Szene war; er hatte in den USA ein 4-jähriges Engagement bei Benny Goodman hinter sich und war Solo-Klarinettist bei Tommy Dorsey, spielte Rolf anschließend in Deutschland mit Joachim freien, avantgardistischen Jazz. Stilgrenzen schien es ab diesem Moment bei Rolf Kühn nicht mehr zu geben.
Es fiel jedoch auf, dass er in seinen Bands gern junge Musiker um sich versammelte – wissbegierige, aufstrebende Instrumentalisten voller Visionen und Temperament. Das ist nicht selbstverständlich, bei jemandem, der mit Kurt Henkels, Friedrich Gulda, Ornette Coleman und Zoot Sims auf den Bühnen dieser Welt stand, der Alben für Amiga, Brunswick, Columbia, Impulse, Atlantic und MPS aufgenommen hatte, der sich im Birdland ebenso wohl fühlte wie beim Newport Festival in Rhode Island, der in Hamburg ebenso voller Hingabe gastierte wie in Rio de Janeiro, der Swingnummern, Hardbop, Third Stream und JazzRock komponierte und, wie nebenher, noch ungezählte Filmmusiken.
Nun sind mit „Fearless“ Kühns letzte Aufnahmen erschienen, eingespielt in den Berliner Hansa Studios im Juni 2022. Sieben eigene Kompositionen, je eine Nummer von Michel Legrand, Eric Clapton und Leonard Bernstein. Ein wunderbar vielfältiges Album ist entstanden, mit einer verschiedenen Generationen angehörenden Band. Jeder einzelne der Formation steht für ein enorm vielfältiges musikalisches Spektrum. Da wäre Pianist Frank Chastenier, der ebenso virtuos Oscar Peterson Paroli bieten könnte, wie er auch zu den großen Poeten am Klavier gehört, der als erfahrener Bandleader fungiert, wie er auch als versierter Sideman gesucht ist. Somit ein idealer Begleiter für Kühn. Denn er gibt Sicherheit und Vertrauen, besitzt Temperament und Einfühlungsvermögen, ist für jede auch noch so „wilde“ Idee zu haben. Lisa Wulff, eine junge Bassistin voller Lebendigkeit und konzentrierter Intensität, spielt sich mit Tupac Mantilla am Schlagzeug die rhythmischen Ideen zu. Mal Swing, mal Blues, mal Avantgarde, mal eine eindrucksvolle Ballade. Alles unterstützen sie beide perfekt, federn jedes Risiko exzellent ab und balancieren die Musik auf einem genialen Scheitel von Ausgewogenheit.
Rolf Kühn hat noch immer diesen brillanten warmen, transparenten Klarinettenton. Dieser lässt selbst musikalische Brüche völlig selbstverständlich erscheinen. Mit ihm schlägt er improvisatorische Haken, imponiert in großen Tonhöhen, oder soliert sinnlich intellektuell. Auf einigen Aufnahmen sorgt das Cuareim Quartet, vier exzellente Streicher aus Uruguay, für eine zusätzlich sehr entspannte, melancholische Atmosphäre. Das klingt dann manchmal wie eine gefühlte Zeitreise, ein Blick zurück in ein reiches musikalisches Leben, als der Jazz noch mit großen Orchestern gespielt wurde.
Kühn lotet auf diesem Album noch einmal sein Können aus, folgt seinen sehr individuellen Klangideen, steckt Räume interpretatorisch ab und gibt allen Beteiligten zugleich eine gewisse Freiheit. Das konnte er – wie kaum ein zweiter. Warum? Weil er aufgrund seines Könnens und seiner Persönlichkeit musikalisch immer furchtlos war: Eben „Fearless“
Jörg Konrad

Rolf Kühn
„Fearless“
MPS
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Autor: Siehe Artikel
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