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1. Barre Phillips (geb. 27. Oktober 1934 San Francisco, gest. 28. Dezember 202...
2. Gilching: Tuija Komi & Band „Joulu & Jul“
3. Zakir Hussain (geb. 09. März 1951 in Bombay, gest. 15. Dezember 2024 in Sa...
4. Fürstenfeld: Sebastian Studnitzky & Andrii Pokaz
5. Landsberg: Anatevka ist überall – Tewje, ein positiver Melancholiker
6. Fürstenfeld: Trailer Park – Wie eine kalte, traurige Welt
Montag 30.12.2024
Barre Phillips (geb. 27. Oktober 1934 San Francisco, gest. 28. Dezember 2024 Las Cruces)
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Foto: Sam Harfouche / ECM Records
Barre Phillips & György Kurtag jr.
„Face à Face“
ECM

Vor über fünf Jahrzehnten spielte Barre Phillips mit seinem Instrumentalkollegen Dave Holland das erste Kontrabass-Duo-Album des Jazz für ECM München ein. Phillips wurde in Kalifornien geboren, hatte sich aber schon ein paar Jahre vor dieser Aufnahme in Europa niedergelassen. Holland wiederum stammt aus dem englischen Wolverhampton und arbeitete seit 1968 kontinuierlich in den USA. „Music From Two Basses“ war damit ein transatlantischer Dialog, der einem kreativen Abtasten von Musikern der damals noch jungen freien Szene gleichkam. Jeder hatte im Laufe der Zeit seine eigenen Erfahrungen gesammelt, hatte Ideen ausprobiert, Klangvorstellungen entwickelt und wollte zugleich aus allem Vertrauten ausbrechen und sich musikalisch neue Horizonte erschließen. Der hellwache und phantasiereiche Austausch, plus einer Dosis persönlichkeitsgebundener Offenheit ließ dieses Bestreben akustisch prächtige Früchte tragen.
Heute, so viele Jahre später, gehen beide Musiker einen etwas anderen Weg, in dem sie ihr Wissen und ihren Horizont mit der Neugier und Energie junger Instrumentalisten zusammen bringen. Sie geben damit völlig uneigennützig etwas von ihrem Können an junge Instrumentalisten weiter und partizipieren andererseits von deren Wissensdurst und Tatendrang. Man könnte auch sagen: Altes kommt so auf den Prüfstand, Neues erhält ein traditionelles Fundament – und schon ist man mittendrin im Spannungsfeld der Generationen.
Barre Phillips arbeitet auf „Face à Face“ mit György Kurtag jr. zusammen, dem Sohn des großen ungarisch-französischer Komponisten und Pianisten. Von Angesicht zu Angesicht sozusagen suchen sie nach den passenden Formeln und Mustern für ihren Austausch. Sie gehen vorsichtig und behutsam miteinander um, reagieren spontan aufeinander, musizieren konzentriert und finden dann auch wieder beherzt und mit explodierender Leidenschaft den Konsens. Barre Phillips streicht, zupft, reißt und stößt seinen Kontrabass. György Kurtag findet darauf am Synthesizer und digitaler Percussion entsprechende Antworten und neue Einwürfe. Die Interaktion steht im Mittelpunkt dieses Duos, meist in kürzeren Ansätzen in verdichteten und entschlackten Passagen. Immer der Freiheit als oberstes Prinzip dienend. Improvisationsabenteuer, die die geistigen Grenzen musikalisch sprengen – um die Phantasie zu beflügeln.
Jörg Konrad
(KultKomplott August 2022)
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Samstag 21.12.2024
Gilching: Tuija Komi & Band „Joulu & Jul“
Bilder
Foto: Klaus-Dieter Klein
Gilching. Jedes Jahr verlässlich das gleiche Spiel: Ab Mitte November die ersten Weihnachtslieder - im Kaufhaus, im Radio, in den Charts. Die Weihnachtsmärkte öffnen mittlerweile schon weit vor Totensonntag und das sentimentale „Ihr Kinderlein kommet“ flutet den ganzen glitzernden Budenzauber. Und in den Lebensmittelabteilungen? Da sind die ersten Chargen an Dominosteinen und Schokoweihnachtsmännern längst ausverkauft. Gibt es denn nichts, das um diese Zeit Tradition mit Stil präsentiert? Vielleicht erfüllen ja die Jazzmusikerinnen und die Jazzmusiker, die sich auch um Weihnachten verlässlich positionieren, diesen Anspruch. Denn ihnen gelingt das seltene Kunststück mit weit weniger Pathos und heiligem Ernst.
Tuija Komi ist ein Beispiel für diese Verbindung von Vitalität und Weihnachtsfest. Am Freitag trat die finnische Jazzeuse mit ihrem Trio im Rahmen der Rathauskonzerte in Gilching auf. Und es wurde ein Abend, der sowohl das vorweihnachtliche Miteinander, als auch die Folklore ihres Heimatlandes Finnland mit Genuss beschwor. Vielleicht ähneln ja die finnischen Volkslieder zum Fest ein wenig den hiesigen Traditionen. Viel wichtiger waren aber an diesem Abend die Interpretationen der Songs, die von getragener Balladenkunst, über Blues und Blue Notes, bis hin zum Swing fast alles präsentierten, was das Jazzherz begehrt. Tuijas wunderbar klare und ausdrucksstarke Stimme stand im Zentrum des Konzerts. Äußeres Metrum und innerer Rhythmus waren bei ihr in Harmonie, wie auch Beiläufigkeit und Perfektion. Man spürte eine vocale Hingabe, ein abenteuerliches Ertasten von Songs, die nicht unbedingt für diesen Jazzkontext entstanden sind.
Tuija gab den Liedern nicht zuletzt durch ihre Frohnatur und ihre bezaubernde Ausstrahlung eine gewisse Bodenständigkeit und Empathie, die in diesen Zeiten besonders stark berühren. Keine billigen Sentimentalitäten, sondern ein mutiges, charmantes, mit Freundlichkeiten und präziser Intonation gespicktes Vorweihnachtskonzert.
An ihrer Seite hatte Tuija ein Trio der Extraklasse. Stefan Weiser (Klavier), Peter Cudek (Bass) und Martin Kolb (Schlagzeug) waren einerseits eine großartige unterstützende, eine inspirierende Formation. Andererseits „funktioniert“ diese Band auch als Trio in unglaublich kreativer Perfektion. Sie beherrschen die stillen, die ruhigen Passagen des Sets in magischer Geschlossenheit, sind aber auch in der Lage, furios und ideenreich zu improvisieren. Ein Trio, dass eine eigene Aura entwickelt, das individuelle Poesie und Eklektizismus spielerisch miteinander verzahnt und das Publikum ebenfalls begeisterte..
Insgesamt ein zauberhafter Musikabend, der unterschiedlichste Befindlichkeiten vermittelte und letztendlich das Publikum in eine (leider) wieder grausame (Nachrichten-)Realität entließ.
Jörg Konrad
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Dienstag 17.12.2024
Zakir Hussain (geb. 09. März 1951 in Bombay, gest. 15. Dezember 2024 in San Francisco)
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Shakti with John McLaughlin
(Album erschienen 1976)


1975 war John McLaughlin gerade einmal 33 Jahre alt, hatte aber bis dato alles erreicht, was man als elektrischer Gitarrist im Zwischenreich von Jazz und Rock erreichen konnte. Er war Mitglied in den Bands von Miles Davis während dessen Bitches-Brew Phase, hat (erfolgreich) freie Musik aufgenommen, mit dem Mahavishnu Orchestra eine der härtesten Rockbands der Musikgeschichte gegründet (vergessen sie Led Zeppelin!), an der Seite von Jimi Hendrix gejamt und mit dem London Symphony Orchestra auch seinen klassischen Anspruch akustisch eingelöst. Welch eine Steigerung sollte es noch geben? Der Engländer überraschte mit einem Projekt, das als Sensation gehandelt wurde. McLaughlin gründete Shakti und spielte indische Musik. Das Quintett bestand neben ihm an der akustischen(!) Gitarre, die mit zusätzlichen Resonanzsaiten ausgerüstet waren, aus dem indischen Geiger Lakshminarayana Shankar und den Perkussionisten R. Raghavan, T.S. Vinayakaram und Zakir Hussain. Der Name Shakti stammt aus dem Hinduismus und steht ganz allgemein für die weibliche Urkraft des Universums.
Der in Doncaster geborene Gitarrist beschäftigte sich zu jener Zeit schon eine Weile mit indischer Kultur, gehörte zu Beginn der 1970er Jahre zu den Anhängern der spirituellen Lehre Sri Chinmoi. „Ich liebe Indien“, sagte McLaughlin anläßlich eines Interviews, „- seine Musik und seine Spiritualität und seine Religionen. Die Spiritualität ist die Musik: Du kannst die beiden nicht voneinander trennen – wie man es im Westen kann.
Insofern mag dieser Schritt nur logisch erscheinen. Aber indische Ragas mit Jazzimprovisationen in musikalische Beziehung zu bringen, sich der Herausforderung einer Symbiose von östlicher und westlicher Harmonik zu stellen, war in dieser vollzogenen Intensität etwas völlig neues.
Und auch gleich das erste Album, eingespielt während eines Auftritts der Band im Sommer 1975 an der Universität von South Hampton, strafte alle Lügen, die meinten, eine derartige musikalische Verschmelzung sei nicht möglich, oder wenn, dann nur auf der Grundlage meditativer Konzentrationsübungen.
Der Titel „Joy“, eine knapp 20 minütige musikalische Tour de Force, ist das Herzstück dieser Produktion. Shankar und McLaughlin spielen eine komplex komponierte Themenmelodie, um anschließend in beseelter Virtuosität auf den Skalen ihrer Instrumente regelrecht zu schäumen. Schwindelerregende Solo-Pasagen, rauschhafte Improvisationen, längere Spannungsbögen und Interaktionen in immer kürzer werdenden Zeitintervallen sind das Erkennungsmerkmal dieses Stücks, unterlegt von ununterbrochenen traditionell-indischem Percussionsfeuerwerk.
Bei den zwei übrigen Titeln (das etwas seichte Lotus Feet wird schon nach knapp fünf Minuten ausgeblendet) handelt es sich um Raga-ähnliche Improvisationen, die wohl aufgrund noch fehlenden kompositorischen Materials von der Band ins Repertoire aufgenommen wurden.
Das änderte sich mit den Alben „A Handful Of Beauty“ (1977) und „Natural Elements“ (1977), auf denen mehr die themenbezogenen und auf Harmonien aufgebauten kompakteren Kompositionen in den Vordergrund traten. Bezeichnend aber auch hier die überragende Homogenität, welche die Mitspieler untereinander an den Tag legen. Wer eine Anleitung zu meditativen Yogaübungen sucht, wird eindeutig enttäuscht. Ständige Taktwechseln, Tempivariationen und die perlenden Tabla-Rhythmen des überragenden Zakir Hussain. Die Wechsel zwischen westlichen Ideen und östlichem Klangbild, zwischen kurzen Monologen und ausgedehnten Dialogen sind fließend. Manche Sequenzen klingen bei McLaughlin sogar nach Django Reinhardt, dem legendären Sinti-Gitarristen, dem Mitglied des Hot Club De France und „Begründer“ des europäischen Jazz.
Nichts scheint dieser Formation entfernt genug, als das es in ihrer Musik Platz hätte. Ein Kontinente und Stile übergreifender Spagat, der den Kontrast von Kulturen als eine bereichernde Einheit verstehen lässt und sich ganz dem Anspruch McLaughlins verschrieb, auf einzigartige Weise Intelligenz, Schönheit und Kraft innerhalb der Musik zu verbinden.
Jörg Konrad
(KultKomplott August 2015)




Mickey Hart & Zakir Hussain
Planet Drum
„In the Groove“
Valley Entertainment
(Album erschienen 2022)

Grateful Dead, das Rock'n Roll-Flaggschiff der Hippiebewegung in den USA, tourte schon 1967 mit zwei Schlagzeugern. Einer der beiden war Mickey Hart, der der Band bei ihren ausufernden, endlos erscheinenden Gitarrenimprovisationen den nötigen rhythmischen Unterbau gab. Doch Michael Steven Hartman, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, war weit mehr als ein dienender Taktgeber. Er befabd sich schon damals als Musikethnologe, als Klangarchäologe auf den Spuren der getrommelten Herzschläge der Menschheit. Er schreibt bis heute Bücher über Schlagwerke und Percussionsinstrumente, reist quer durch die Welt und studiert die verschiedensten Trommeltechniken vor Ort, er taucht in Archiven unter, untersuchte mit Eingeborenen in Afrika, Südamerika und Indien deren Spielweisen und nahm zwischenzeitlich (natürlich stark Rhythmus orientiert) eigene Alben auf, die so ganz nebenher die Billboard Charts anführten und ihm den allerersten Grammy Award für Weltmusik einbrachte.
Nun, nach vier Jahren, hat er mit seinem Quartett Planet Drum ein neues pulsierendes Album veröffentlicht. „In The Groove“ macht seinem Titel alle Ehre. Es ist randvoll mit polyrhythmischen Themen verschiedener Trommeltraditionen und Varianten. Jeder der vier Mitglieder dieser Band steht für einen Kontinent und eine ganz spezifische ethnische Autorität: Zakir Hussain ist Inder und ein Meister der Tablas, spielt auch Röhren- und Kesseltrommeln und singt die selbst gespielten Rhythmen. Sikiru Adepoju stammt aus Nigeria und beherrscht wie kaum ein anderer die Talking Drums. Giovanni Hidalgo ist puerto-ricanischer Perkussionist, der sich schon seit frühester Kindheit den Bongos und Congas verschrieben hat. Mickey Hart hingegen trommelte in seiner Schulzeit Marschmusik(!), kam dann zum Rock'n Roll und später zum Jazz. Zusammen entwerfen Planet Drum, mit wechselnden Gastmusikern und Sängern, beeindruckende und immer wieder sich ändernde Perkussionsmuster und Figuren, vermitteln die Intensität und auch die Schönheit der Trommelkunst. Es ist ein Album voller Frische und Farbigkeit, voller Geheimnisse und Bodenständigkeit. Ihre Art des vor Dynamik strotzenden Miteinanders ist zugleich ein gemeinschaftsstiftendes Element, was zeigt, dass die Trommeln zu den ältesten Kommunikationsmitteln der Menschheit gehören. Ein mitreißendes Album.
Jörg Konrad
(KultKomplott August 2022)

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Donnerstag 05.12.2024
Fürstenfeld: Sebastian Studnitzky & Andrii Pokaz
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Fotos: TJ Krebs
Grenzüberschreitender musikalischer Dialog mit dem Duo Pokaz-Studnitzky

Was verbindet Odessa und Berlin? Vor allem das Duo Andrii Pokaz und Sebastian Studnitzky! Im Rahmen der JazzFirst Reihe im Veranstaltungsforum Fürstenfeldbruck erlebte das Publikum ein unglaublich berührendes, intensives Konzert, mit dem ukrainischen Pianisten Andrii Pokaz und dem Berliner Trompeter Sebastian Studnitzky.

Die beiden Musiker verbindet eine langjährige, tiefgehende Freundschaft, geprägt von gemeinsamen Erlebnissen in Odessa, Berlin und all ihren Auftritten im Duo oder dem Odesa Philharmonic Orchestra. Die Kompositionen auf der Feder von Pokaz und Studnitzky strahlen Optimismus aus in diesen doch eher düsteren Zeiten. Pokaz Klavierspiel ist ungemein kraftvoll und virtuos. Er holt alles aus dem Steinway raus, während Studnitzky voll Fingerspitzengefühl, aber nicht weniger kraftvoll, mit Pokaz kommuniziert und agiert. Auch Standards dürfen an dem Abend nicht fehlen, erst mal keine Klassiker, sondern Stings „Fragile“ oder Radioheads „Reckoner“ werden hier zum Besten gegeben. Das Publikum, sichtlich beeindruckt, wird mit zwei Zugaben belohnt: einem Stück aus Hermeto Pascoals Zyklus „Calendario“ und als krönenden Abschluss Harold Arlens unvergleichliche Ballade „Somewhere over the Rainbow“, einfach die Welt hinter sich lassen, irgendwo hingehen und fernab träumen, am liebsten von Frieden und einer Welt ohne Kriege…

Ein mitreißender Konzertabend, der nachdenklich Zuversicht verbreitet. Musik kennt keine Grenzen und baut Brücken, verbindet Nationen, spendet Trost in lebensverändernden Zeiten und lenkt von Sorgen und Nöten ab.
Text & Fotos: Thomas J.Krebs
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Foto: Veronika Eckbauer
Montag 02.12.2024
Landsberg: Anatevka ist überall – Tewje, ein positiver Melancholiker
Landsberg. Als im September 1964 in New York das Musical „Fiddler of the Roof“ seine Uraufführung erlebte, ahnten nur sehr wenige, welchen Erfolg dieses doch auch ernste Stück auf den Bühnen der leichten Muse bis in unsere Gegenwart haben sollte. Zugleich kann man diese erste Bühnen-Inszenierung von „Tewje, der Milchmann“ aber auch als einen theatralischen Akt der Aufklärung verstehen, denn nur wenige Menschen im „Westen“ wussten damals vom Lebensschmerz der Juden im „Osten“. Diese Exotik wurde aufgrund der New Yorker Aufführung und der späteren sehr erfolgreichen Verfilmung häufig romantisiert. Erst mit der Zeit kam, neben all dem Witz und dem hintersinnigen Humor den das Stück beinhaltet, auch dessen Tragik deutlicher zur Geltung.
Am Sonntag präsentierte Michael A. Grimm vom Hofspielhaus München im Landsberger Stadttheater „Anatevka ist überall“. Grundlage für diese Aufführung ist der Roman „Tewje, der Milchmann“ von Scholem Alejchem.
Er beinhaltet einen Monolog, den eben jener Milchmann Tewje klagend über sein Leben in dem kleinen jüdischen Dorf Anatevka in der Ukraine hält. „Arm an Geld, doch reich an Töchtern“, träumt er „von einem Dasein ohne Entbehrung“. Die Inszenierung von Christiane Brammer und Veronika Eckbauer stützt sich größtenteils auf das Original von Alejchem, wurde aber aufgrund der politisch dramatischen Entwicklungen in der Ukraine leicht aktualisiert – ohne damit jedoch das Grundgefüge, bzw. den Inhalt dieses Monologs zu ändern.
Tewje klagt und greint in seiner tragisch-komischen Art über sein Leben und manchem Schicksalsschlag, den er erfahren muss. Dabei ist er schwer damit beschäftigt, seine Töchter zu verheiraten, was ihm im Laufe seines Lebens nur bedingt zur eigenen Zufriedenheit gelingt und seine Frau Golde zufriedenzustellen. Doch er nimmt zugleich das Leben so wie es kommt. Ein Mensch, der noch unter Schmerzen schlitzohrig lacht, der in jedem anstehenden Problem, hinter jedem Konflikt, neben jedem Schlamassel auch etwas für sich Heiteres und Akzeptables entdeckt. Ein positiver Melancholiker, der in ständiger Zwiesprache mit seinem Gott steht, der zwar Tewjes Probleme nicht lösen kann, doch dessen vermeintliche Ratschläge, weil von höherer Instanz, helfen, das Elend zu ertragen.
Michael A. Grimm füllt diesen fröhlichen wie auch frommen Juden, diesen demütigen Charakter und sein ungeduldiges Temperament authentisch aus. Als Milchbauer tanzt und lacht er aus vollem Herzen, er freut sich über jeden gelungenen „Deal“ - auch wenn dieser letztendlich doch nicht zustande kommt, man spürt seine unendliche Trauer über den Suicid der dritten Tochter und seine Fassungslosigkeit über die Progrome seiner Nachbarn im kleinen Schtetl. Er spielt dieses melancholische Energiebündel treffend, ruft zudem seine musikalischen Ambitionen ab und bringt sie in voller Emotionalität über die Bühne. Eine Paraderolle für Grimm, in der er aufgeht und für die ihm das Publikum stehend applaudiert.
Jörg Konrad
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Donnerstag 28.11.2024
Fürstenfeld: Trailer Park – Wie eine kalte, traurige Welt
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Fotos: Andreas Etter
Fürstenfeld. Tanz bedeutet auch immer Ausdruck der Zeit, in der wir leben. Dabei muss die Handlung eines Stückes nicht unbedingt im Vordergrund stehen. Manchmal liegt das Besondere einer Inszenierung in dem Umstand, eben keinen roten Faden zu besitzen. Unter diesem Gesichtspunkt spiegelt die von Moritz Ostruschnjak choreographierte Aufführung „Trailer Park“ am gestrigen Mittwoch in Fürstenfeld, wie nur wenig andere, unsere Gegenwart. Tanzmainz war in bestechender Form – hat gezeigt, wozu Inszenierungen in der Lage sind, wie gefordert die Tänzerinnen und die Tänzer werden – und trotzdem ein leicht fader Nachgeschmack bleibt, der dem Zeitgeist geschuldet scheint.
Das Stück wurde schon im Vorfeld als eine World-Wide-Web-Revue apostrophiert – was auch immer das ist. Vielleicht kommt man dem Inhalt am nächsten, stellt man sich so das Zappen auf einem TV-Gerät mit dutzenden von Sendern spät nachts vor. Alle paar Sekunden ein anderes Bild, ein anderer Sound, eine andere Handlung. Permanente Schlaglichter – mal authentisch, mal künstlich, mal nachrichtlich verpackt, mal pure Unterhaltung.
Vieles verlief im choreographischen Ablauf kunterbunt. Angefangen bei den Kostümen: Schrill, individuell, mehr aus den 1980er als aus den 2000er Jahren. Die Musik beglückte von der Counter-Tenor Arie bis zum Industrial-Getöse, vom Folksong bis zur modernen Pophymne, vom Ambient-Rauschen bis zum Kinderlied.
Und die Tänzer? Die bewegten sich, wie es sich in der Postmoderne gehört. Überwiegend isoliert, produzierten und arbeiteten sie ihr jeweiliges Ego ab. Ein jeder lief sportlich seine Bahnen, sprang artistisch seine Figuren, distanzierte sich, bis auf ganz wenige Ausnahmen, von seinen Nebenpartnern. Gesellschaftliche Prozesse finden nun einmal kaum noch im miteinander, stattdessen eher nebeneinander statt.
Statt Grazie und Eleganz war Druck und Stress zu spüren, auch Wut, die sich durch dauerhafte Bewegung (vielleicht und endlich) löst. So ist die Zeit, in der wir leben. Und diese dauerhaften Bewegungen erinnern mehr an ein individuelles Zappeln, erinnern mehr an eine geschüttelte Unruhe, als an eine Befreiung oder Bereicherung durch soziale Beziehungen. Es wirkt wie eine kalte, traurige Welt, in der sich das Ensemble auf dunkler Bühne versucht auszutoben – ohne dies in der Endkonsequenz auch glaubwürdig zu schaffen. Zwar macht die Choreographie in Bewegungsanforderungen in einigen Momenten schwindelnd – aber letztendlich steht immer die äußere Selbstdarstellung im Weg.
Trotzdem muss man „Trailer Park“ als ein wichtiges Stück begreifen, das eben Zeitgeist beinhaltet, ein Lebensgefühl vermittelt, eine Geisteshaltung schlicht dokumentiert. Doch was diese Aufführung eben auch sehr deutlich macht: In allen gesellschaftlichen Bereichen scheint noch gewaltige Luft nach oben. Insofern ist „Trailer Park“ ein Stück, in der man sich wiederfinden kann, mit dem man sich auseinandersetzen kann und sollte, auch, weil dieses Stück die Vielfalt und Buntheit unserer Kultur zum Ausdruck bringt.
Insofern sei an dieser Stelle auf folgendes hingewiesen. Es ist ein regelrechtes Trauerspiel, dass große überregionale Tageszeitungen die lokale Kulturpolitik schon seit Jahren zu 90% ignoriert. Viele kulturelle Veranstaltungen sind, als Beispiel im Landkreis Fürstenfeldbruck, den verantwortlichen keine Meldung wert. Es gab Zeiten, in denen an fünf(!) Wochentagen jeweils eine ganze Kulturseite erschien, vollgepackt mit Artikeln, Rezensionen, Interviews, Vorberichten etc.
Eigentlich keine Zauberei, immerhin gibt es allein im Landkreis Fürstenfeldbruck drei große Kulturhäuser (Germering, Fürstenfeldbruck, Puchheim), plus etliche Veranstalter, die Theater, Konzerte, Lesungen u.ä, präsentieren. Doch der Straßenunfall an der nächsten Kreuzung scheint von größerer Wichtigkeit.
Was bedeutet nun diese Nicht-Beachtung? Kultur steht für Vielfalt, steht für Herausforderung und Auseinandersetzung, steht für Toleranz und Solidarität steht für Information und Aufklärung, steht auch für Spaß und Freude.
Im Grunde ist es die Pflicht der Zeitungen, über diese Vielfalt, über die Herausforderungen und Auseinandersetzungen, über die Toleranz und Solidarität, über die Informationen und Aufklärungen und über den Spaß und die Freude umfänglich zu berichten und die Bevölkerung entsprechend zu informierten. Stattdessen werden noch bestehende Redaktionsbüros im Umland geschlossen und die Landkreisausgaben in Freising/Erding, Fürstenfeldbruck, Dachau, Wolfratshausen und Ebersberg eingestellt. Wenn Kultur keine Rolle spielt, dann beginnt die Barberei.
Jörg Konrad
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Autor: Siehe Artikel
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