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Donnerstag 02.01.2025
FESTE & FREUNDE
Ab 02. Januar 2025 im Kino
Zehn Freunde, drei Jahre, sieben Feste: Als Ellen (Laura Tonke) die Silvesterfeier 2019 ihrer besten Freunde besucht, hütet sie ein Geheimnis – sie hat eine Affäre mit Sebastian (Ronald Zehrfeld), den sie für die große Liebe hält. Doch er ist mit Eva (Antje Traue) verheiratet und will sich natürlich nichts anmerken lassen. Es knistert zwischen Rolf (Nicholas Ofczarek) und Dina (Pegah Ferydoni). Es knirscht zwischen Mareike (Annette Frier) und Adam (Trystan Pütter). Maya (Katia Fellin) wünscht sich Kinder, Natalie (Jasmin Shakeri) kann sich nicht entscheiden. Dann taucht Max (Henning Flüsloh) auf – er würde Ellen lieben – wenn sie ihn nur ließe. Die Jahre ziehen vorbei und Feste werden gefeiert, wie sie fallen. Es wird geliebt, gestritten, gelacht und geheiratet, Kinder werden geboren, die einen finden sich, die anderen trennen sich. Und dann bringt ein Schicksalsschlag alles ins Wanken und erinnert daran: Das Leben muss intensiv gelebt werden, mit den besten Freunden und am besten in jedem einzelnen Moment!
Regie: David Dietl
Mit: Laura Tonke, Jasmin Shakeri, Annette Frier, Nicholas Ofczarek, Henning Flüsloh u.a.
2019: SILVESTER
„Es ist längst erwiesen, dass Menschen am Ende ihres Lebens glücklicher sind, je mehr Zeit sie mit ihren Freunden verbracht haben… Deshalb ist es wichtig, so viele gemeinsame Erinnerungen wie möglich zu sammeln.“… Voiceover Dina
Ellen (Laura Tonke) und Sebastian (Ronald Zehrfeld) liegen noch knutschend im Bett. Sie müssen sich beeilen, denn die Silvesterparty bei Natalie (Jasmin Shakeri) und Maya (Katia Fellin) steht an. Dort trifft sich der Freundeskreis.
Natalie und Maya sind perfekte Gastgeber. Die ersten Gäste sind Mareike (Annette Frier) und Adam (Trystan Pütter) mit ihren beiden Kindern. Adam steht unter der Fuchtel von Mareike, trägt das mitgebrachte Essen und verzichtet auf Alkohol, weil er ja noch fahren muss. Ellen ist die letzte, chic und in Vorfreude, Sebastian wieder zu sehen. Wäre da nicht noch Sebastians Frau Eva (Antje Traue), eine attraktive Powerfrau. Sie ist eine erfolgreiche Ärztin, die das Geld nach Hause bringt, während Sebastian sich mehr schlecht als recht als Schriftsteller versucht.
Über Ellens Affäre weiß nur Rolf (Nicholas Ofczarek) Bescheid, Mareikes Bruder. Rolf ist Ellens Seelenverwandter, der Ruhepol im Freundeskreis. Er ist Single und eigentlich ganz zufrieden allein. Bis er auf der Party Dina (Pegah Ferydoni) entdeckt. Sie ist Mayas Friseurin und kennt sie schon eine Ewigkeit. Es funkt zwischen Dina und Rolf.
Als das neue Jahr beginnt, knallen die Korken und Raketen, es wird angestoßen, umarmt, geküsst. Nur Ellen steht allein da. Sie fühlt sich unwohl und verlässt die Party. Unten in der Imbissbude sitzt noch eine einsame Seele: Max (Henning Flüsloh), der ihr einen Schnaps überlässt. Sie beginnen, sich zu unterhalten. Man spürt, dass sie auf einer Wellenlänge sind, denselben Humor teilen… aber da meldet sich Sebastian per SMS: Er warte vor ihrer Haustür. Ellen lässt Max stehen und springt ins Taxi.
2020: NATALIES GEBURTSTAG
Die Corona-Pandemie hat Deutschland fest im Griff. Natalie und Ellen haben im Krankenhaus, in dem sie arbeiten, alle Hände voll zu tun. Zu schade, dass Natalie ihren Geburtstag nicht feiern kann. Immerhin hat Maya einen Hund ausgeliehen, damit sie wenigstens im Park spazieren gehen dürfen. Doch Überraschung: Nicht nur Maya und Natalie gehen mit geliehenem Hund im Park spazieren, sondern auch ihre Freunde, um wenigstens auf diesem Weg eine kleine Open-Air-Geburtstagsparty für Natalie zu feiern. Allerdings ohne Sebastian und Eva, die bereits mit Corona ans Haus gefesselt sind. Zum Bedauern von Ellen, denn die Affäre mit Sebastian läuft immer noch. Zu gerne hätte sie ihn gesehen.
Wer aber da ist, ist Max. Natalie klärt Ellen auf: Max ist ihr Cousin, der in Amerika gelebt und gerade eine Trennung hinter sich hat. „Der wäre was für dich. Aber wenn du ihn nicht nimmst, kriegt ihn Becky“, sagt Natalie. Becky (Marlene Tanczik) ist eine Freundin von Natalie, lebenslustig und einem Mann wie Max nicht abgeneigt.
Natalie hat mit Mayas Kinderwunsch zu kämpfen. Wenig begeistert äußert sich Natalie über Mayas Geschenk: eine Reise nach Kopenhagen zum Besamungsgespräch. Für eine Familie sei sie einfach noch nicht bereit, vertraut sie Ellen an.
Rolf und Dina verkünden ihre Heiratspläne: Im Sommer, wenn Corona vorbei ist, soll die Hochzeit stattfinden. Doch dann kommt die Polizei und sprengt verbotene Ansammlung.
2020: SOMMERFEST AN DER KÜSTE
Die Coronapandemie bestimmt weiterhin den Alltag, so dass Dinas und Rolfs Hochzeit nicht stattfinden konnte. Alternativ treffen sich die Freunde im kleinen Kreis in einem Haus an der Küste.
Mareike hat wieder jede Menge an ihrem Mann Adam auszusetzen und kommandiert ihn herum.
Max ist auch da, er telefoniert mit Becky. Die beiden sind seit Natalies Geburtstag tatsächlich ein Paar geworden. Becky soll später auch noch dazustoßen.
Natalie hat die Klinik gewechselt und findet es schade, nicht mehr mit Ellen zu arbeiten. Ellen liegt quer im Magen, dass Sebastian mit Eva und dem gemeinsamen Sohn gekommen ist. Als Ellen auf Sebastian trifft, entsteht ein kurzer inniger Moment. Doch schnell wird Sebastian wieder von seinem Sohn in Anspruch genommen.
Rolf und Dina sind natürlich auch da, wobei Rolf ein wenig betrübt ist, die Hochzeit verschieben zu müssen. Aber er freut sich, dass Ellen sich bereiterklärt, seine Trauzeugin sein. Dina wird von Kopfschmerzen geplagt.
Adam hat mit den Kindern eine Hexe gebastelt, aus alter Tradition soll sie am Strand verbrannt werden. Mareike findet das unmöglich. Am Strand ist zunächst ausgelassene Stimmung. Nachdem Becky nun auch angekommen ist und verkündet, dass sie und Max im Januar ein Kind erwarten, kippt sie allerdings. Es entfacht ein Streit zwischen Maya und Natalie. In Natalies Augen führen sie ein super Leben, Maya aber will ein Kind. Natalie sperrt sich, Maya reist ab.
Das Abendessen ist fertig, Adam erweist sich als Eins-A-Barbecue-Chef. Das Gespräch kreist um Hawaii: Sebastian hat Eva eine Reise dorthin geschenkt, eine Reise, die er eigentlich Ellen versprochen hatte. Mareike ätzt Richtung Adam, dass sie es logischerweise noch nie so weit weggeschafft hätten, Natalie erwähnt, dass sie mal eine Affäre auf Hawaii gehabt hätte. Das triggert Ellen, die zu viel getrunken hat: „Affären darf man nicht glauben. Affären machen immer, dass der eine ein Arschloch ist, der andere nicht. Alles Hoffen und Warten und alle Sehnsucht hat sich nicht gelohnt.“ Alle merken, dass es Richtung Sebastian gemeint ist. Ellen ist nicht zu stoppen. Sie holt aus, suhlt sich in ihrem Selbstmitleid und schüttet am Schluss auch noch ein Glas Wasser über Evas iPad, auf dem sie gerade Bilder von Hawaii zeigt.
2021: HOCHZEIT VON ROLF UND DINA
Endlich können Rolf und Dina ihr Hochzeitsfest feiern. Beide sind überglücklich. Eva und Sebastian schicken Grüße aus Hawaii. Mareike, die die Hochzeit mit organisiert hat, ist immer noch sauer auf Ellen, dank deren Auftritt im Strandhaus der komplette Freundeskreis aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Affäre mit Sebastian hat Ellen beendet. Maya ist hochschwanger – Natalie hat also doch endlich eingewilligt, eine Familie zu gründen. Max ist mit Becky da, mit der er seit wenigen Monaten eine Tochter hat. In Mareikes Augen benimmt sich Adam mal wieder peinlich daneben. Nichts kann er ihr rechtmachen.
Natalie und Ellen treffen sich vor der Scheune, in der Hochzeit gefeiert wird. Nachdem Ellen ihrer besten Freundin vorwirft, nach dem Schlamassel mit Sebastian nicht richtig für sie dagewesen zu sein, kontert Natalie, dass Ellen schließlich den gesamten Freundeskreis riskiert hätte. Die beiden beginnen einen Streit und trennen sich im Unguten.
Drinnen wird getanzt. Ellen schnappt sich das Mikrofon und entschuldigt sich vor allen Anwesenden für das Chaos, das sie angerichtet hat. „Ich bin keine Expertin für Liebe, aber eine Expertin im Suchen der Liebe. Ich dachte, ich hätte sie gefunden, habe aber nur Chaos angerichtet. Das wusste ich vorher nicht. Es lohnt sich immer, bei jedem kleinen Gefühl, ganz genau hinzugucken.“ Max schaut sie verliebt an. Bis auf Natalie verzeihen die Freunde Ellen.
Draußen trifft Ellen auf Max, sie rauchen einen Joint zusammen. Ellen will wissen, wie es mit Becky läuft. Beiden gehe es gut, für sich betrachtet, beschreibt Max das Verhältnis. Max bedankt sich bei Ellen für ihre Ansprache. Sie habe recht: Man muss einem Gefühl folgen, wenn man es hat. Es passiere viel zu selten, dass man weiche Knie bekommt. Beinahe kommt es zum Kuss zwischen den beiden.
Drinnen sieht man Adam auf der Tanzfläche. Mit seiner guten Laune kommt er auf die Idee, Mareike auf die Tanzfläche zu ziehen. Sie findet alles nur peinlich, ruft ihn dazu auf, nicht so dämlich zu tanzen. Da platzt auch Adam der Kragen: „Ich bin nicht schuld an deiner Meckerei und auch nicht daran, dass du keine Karriere gemacht hast. Wenn du glaubst, du hast es woanders besser, dann mach!“ Sie ohrfeigt ihn.
Nach der Hochzeit sitzt Mareike allein in der Wohnung, Adam schläft im Auto. Max und Ellen landen gemeinsam im Bett. Natalie raucht heimlich auf dem Balkon. Insgeheim ist sie glücklich, dass Maya und sie Eltern werden.
Am nächsten Morgen klingelt Max‘ Handy. Er schläft noch. Ellen sieht, dass Becky anruft. Sie weiß nicht, dass zwischen den beiden nichts mehr läuft, befürchtet, in ein ähnliches Schlamassel wie mit Sebastian hineinzurutschen. Sie weckt Max. Ohne Erklärung bittet sie ihn, sofort zu gehen.
2021: TAUFE
Die Zwillinge von Maya und Natalie sind da. Maya ist fix und fertig, Natalie trinkt entspannt einen Cocktail. Gleich kommen ihre Freunde, um die Taufe der Kinder zu feiern. Die Sitzordnung zeigt, dass Adam und Mareike mittlerweile getrennt sind. Mareike ist einstweilen bei Ellen eingezogen. Als Natalie ein Namensschild für Ellen sieht, ist sie irritiert, weil sie nicht wusste, dass sie kommt. Seit ihrem Streit bei der Hochzeit sind die beiden sich aus dem Weg gegangen. Rolf und Dina können nicht zur Taufe kommen. Dina ist ständig schwindlig.
Auf der Taufparty begegnen sich auch Ellen und Max wieder. Mareike hat sich richtig aufgestylt, doch irgendwie wirkt sie auch hilflos. Denn wie es aussieht, hat da draußen keiner auf sie gewartet. Auch Adam kommt, mit den Kids. Er sieht richtig gut aus.
Als Maya feststellt, dass Natalie vergessen hat, die Tauf-Torte abzuholen, werden kurzerhand Ellen und Max losgeschickt. Max ist stinksauer auf Ellen, nachdem sie ihn aus ihrer Wohnung geschmissen und nie auf seine Anrufe reagiert hat. Sie versucht sich zu entschuldigen, doch er macht dicht, schmeißt ihr den Tortenkarton vor die Füße und geht.
Ellen bringt den zerstörten Kuchen zur Party. Maya ist entsetzt, Natalie muss lachen. Die Nerven liegen blank bei den jungen Eltern, Übermüdung, Überforderung, gegenseitige Anschuldigungen fallen. Maya serviert den kaputten Kuchen, Ellen und Natalie verziehen sich ins Kinderzimmer. Dort kommt es zur Aussprache zwischen den beiden Freundinnen. Natalie schüttet Ellen ihr Herz aus über ihr durchgetaktetes Familienleben und Mayas Kontrollwahn. Ellen erzählt Natalie, dass sie gemein zu Max war. „Der mag dich wirklich“, sagt Natalie und verrät, dass er damals Becky sofort verlassen hat und seither allein ist.
2022: HOFFEST BEI ROLF UND DINA
Ellen ist auf dem Weg zum Hoffest bei Rolf und Dina. Sie hofft, dass auch Max kommt, nachdem sie jedes Mal nur seine Mailbox erreicht, wenn sie versucht, ihn anzurufen.
Dina ist von ihrer schweren Krankheit gezeichnet. Rolf hält es für unvernünftig, dass sie heute bei dem Fest dabei sind. „Die besten Dinge im Leben sind unvernünftig“, sagt Dina nur. Sie freut sich auf die anderen.
Adam sieht super aus. Er hat seine neue Freundin dabei, die er beim Stand-up-Paddling kennengelernt hat. Mareike beobachtet ihn von Dinas Küchenfenster aus. Irgendwie blöd gelaufen, aber die Trennung wollte ja sie.
Insgesamt ist die Stimmung unter den Freunden getrübt. Alle wissen, dass Dina nicht mehr lange leben wird. Rolf singt „Hero“ von Enrique Iglesias für Dina, was er schon bei der Hochzeit wollte, sich aber nicht getraut hat.
2023: ELLENS GEBURTSTAG
Heute ist Ellens Geburtstag. Beim Einkaufen trifft sie zufällig Max, der seine kleine Tochter dabeihat. Sie lädt Max ein, er solle doch heute Abend auch kommen. Max weicht aus: „Wir haben nie den richtigen Moment gefunden. Das hat was zu bedeuten, wenn es so ist.“ Er lässt sie stehen.
Rolf klingelt als erster. Er findet es gut, dass Ellen zum ersten Mal ihren Geburtstag feiert. Auch Mareike, Maya und Natalie trudeln ein. Die Paartherapie bei Maya und Natalie hat Gutes vollbracht. Mareike erzählt, dass sie ihr Studium zu Ende machen will. Auch Sebastian kommt, was Ellen erst stutzig macht. Aber Schwamm über alte Geschichten, schließlich gehört er zum Freundeskreis. Betrübt erzählt er, dass Eva eine Affäre hat.
Dina hat einen Brief hinterlassen – an die ganze Freundesgruppe. Rolf schafft es erst jetzt, seinen Freunden davon zu erzählen. Ellen liest ihn vor. „Unsere Momente, merkt sie euch. Und schafft euch so viele, wie ihr kriegen könnt“, heißt es in dem Brief. Da klingelt es wieder an der Tür…
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Donnerstag 26.12.2024
DIE LEISEN UND DIE GROSSEN TÖNE
Ab 26. Dezember 1924 im Kino
Thibaut ist ein berühmter Dirigent, der die Konzertsäle der ganzen Welt bereist. In der Mitte seines Lebens erfährt er, dass er adoptiert wurde und dass er auch einen jüngeren Bruder hat, Jimmy, der in einer Schulküche arbeitet und Posaune in der Blaskapelle einer Arbeiterstadt spielt. Die beiden Brüder könnten unterschiedlicher nicht sein. Nur in einer Sache sind sie sich einig: ihrer Liebe zur Musik. Thibaut ist beeindruckt vom musikalischen Talent seines Bruders. Er will die Ungerechtigkeit ihres Schicksals begleichen, seinem Bruder die eine Chance geben, die er nie hatte: sein Talent zu entfalten, seinem Herzen zu folgen und mit dem kleinen Orchester einen nationalen Wettbewerb zu gewinnen. Jimmy beginnt, von einem ganz anderen Leben zu träumen...
Ein Kino der Superlative hat Regisseur Emmanuel Courcol mit diesem Film geschaffen: eine Geschichte, die sowohl im Kleinen als auch im Großen, im Privaten wie im Politischen überwältigt, berührt und vor allem unterhält. Benjamin Lavernhe (BIRNENKUCHEN MIT LAVENDEL) und Pierre Lottin (EIN TRIUMPH) sind brillant in dieser großen filmischen Erzählung von zwei Männern, die Brüder werden, und erst dadurch die Welt verstehen.
Ein Film von Emmanuel Courcol
Mit Benjamin Lavernhe, Pierre Lottin, Sarah Suco u.v.m
INTERVIEW MIT DEM REGISSEUR EMMANUEL COURCOL
Ihr Film greift mehrere Themen auf. Was war die ursprüngliche Idee dahinter?
Ich greife Themen auf, die mir am Herzen liegen und die ich bereits in meinen früheren Filmen behandelt habe, wie z. B. brüderliche Bande, Zufall und sozialer Determinismus. Hier bringe ich sie in einer einzigen Geschichte zusammen. Mein Ausgangspunkt war eine Idee, die ich vor langer Zeit während einer Beratung zu einem Film hatte, der nie das Licht der Welt erblickte und in Tourcoing, Frankreich in der Welt der Majoretten spielte. Ich war dort, um eine Blaskapelle und ihre Majorettengruppe, die „Cht‘is lutins“, zu treffen. Keiner konnte Noten lesen, nicht einmal der Dirigent. Das gesamte Repertoire der Band bestand aus Stücken, die er nach Gehör adaptierte.
Er teilte die Stücke nach Abschnitten auf und die anderen spielten das Gehörte nach. Nach der Probe gingen wir alle bei ihm etwas trinken und als ich diese Menschen jeden Alters so herzlich beisammen sitzen sah, wurde mir klar, wie wichtig die Musik und die Blaskapelle als soziales und emotionales Band sind: Sie sind eine Familie und es ist eine Lebensart, ein Mittel gegen die Isolation, gegen die Allgegenwärtigkeit der Bildschirme und unsere entmaterialisierte Welt. Als ich ihren Chef beobachtete, fragte ich mich, was aus ihm geworden wäre, wenn er in ein privilegierteres Umfeld hineingeboren worden wäre. Da kam mir das Bild eines großen Dirigenten in den Sinn, der entdeckt, dass er einen Bruder hat, der in einer Blaskapelle spielt: ein kultureller, emotionaler, sozialer und musikalischer Schock.
Sie haben beim Schreiben des Drehbuchs mit Irène Muscari zusammengearbeitet. Wie war diese Zusammenarbeit?
Ich wollte das Skript von Anfang an mit einer Drehbuchautorin schreiben. Ich habe Irène bei der Arbeit an meinem vorherigen Film EIN TRIUMPH (2020) kennengelernt. Sie arbeitete als Kulturkoordinatorin im Gefängnis von Meaux und gab mir sehr gute Ratschläge für das Drehbuch und die Entstehung des Films. Sie hatte noch nie ein Drehbuch geschrieben, aber ihre weibliche Sichtweise schien mir unverzichtbar, und so haben wir es in Angriff genommen. Sie hat mich verblüfft, sie hat sehr schnell gelernt, und ich habe eine echte Drehbuchautorin entdeckt. Sie hat ein großartiges Auge für Details, die Ideen flossen einfach und wir ergänzten uns gegenseitig sehr gut.
Ich habe den technischen Hintergrund, das Gespür für die allgemeine Struktur und den Dialog, während sie ein feines Gespür für die Psychologie der Figuren und die menschliche Interaktion hat. Wir sind uns sehr ähnlich, was Geschmack und Cinephilie angeht. Was als Kontrapunkt begann, hat sich schließlich schnell zu einem Zweiergespann entwickelt.
Der Ton, den Sie anschlagen, bewegt sich ständig an der Grenze zwischen Komödie und Sozialdrama...
Ich mag es vor allem, Gegensätze zu versöhnen und eine Art Kompromiss oder Gleichgewicht zu finden. Das gilt für mein Leben ebenso wie für das Kino: Drama oder Komödie? Autorenfilm oder populäres Kino? Klassische Musik oder Popsongs? Warum wählen? Es ist ein anspruchsvoller Weg über eine Gratwanderung, nicht immer einfach, aber es ist das, was ich liebe. Das ist es, was meinen Wunsch zu schreiben antreibt. Man spielt mit sehr heiklen Dingen, und man muss wissen, wie man Pathos vermeidet, sobald er auftaucht. Man muss beweglich sein und gleichzeitig jede Selbstgefälligkeit vermeiden und wissen, wie man im richtigen Moment eine Tangente schlägt, um eine Kleinigkeit zu finden, die die Situation entschärft und die Emotionen überraschend hervorbringt.
Wir haben zum Beispiel darauf geachtet, dass wir nicht in einen Film über Krankheit hineingezogen werden. Hier ist sie ein Auslöser, der schnell vergessen wird und Raum für die Beziehung zwischen den beiden Brüdern lässt. Das Gleiche gilt für den sozialen Aspekt der Fabrik. Es ist eine wirtschaftliche Realität, die wir aufgreifen wollten, ohne jedoch einen völlig anderen Film zu machen. Denn hier geht es vor allem um die musikalische und geschwisterliche Begegnung zweier Welten. Andererseits hüte ich mich vor dem berühmten „Feel-Good- Movie“, das zu weichgespült ist. Wenn der Film so berührend ist, wie ich es mir erhoffe, dann dank der Emotionalität und Menschlichkeit der Figuren, in denen wir uns wiederfinden. Es geht darum, Menschen zu sehen, die trotz der Grausamkeit des Lebens großzügig sind. Menschen, die versuchen, sich mit großen Koffern einen Platz zu schaffen. Das ist es, was es so gut macht. Dieses Gleichgewicht wird durch das Schreiben, die Schauspielerei und den Schnitt erreicht. In dieser Hinsicht haben mein Cutter Guerric Catala und ich das gleiche Gefühl. Je weiter ich vorankomme, desto mehr nährt meine Lektoratserfahrung eine Form von Sparsamkeit und Präzision beim Schreiben des nächsten Projekts.
Hatten Sie ein Mantra, das Sie im Geiste bei dem Ziel hielt, das Sie erreichen wollten?
Nein, ich hatte kein Mantra, nur ein musikalisches Bad, das den Reichtum des Films widerspiegelt. Wir bewegen uns in sehr unterschiedlichen musikalischen Gefilden, aber ich habe versucht, meinem Geschmack treu zu bleiben und gleichzeitig eine abwechslungsreiche Musiklandschaft zu bieten. Ob es nun die klassische Musik ist, die Thibaut dirigiert und die Jimmy durch ihn entdeckt, oder der Jazz, den die beiden Brüder miteinander teilen, oder eher unerwartete Partituren wie der Aznavour-Song... Ich höre sehr viel Musik, und auch Irène ist eine große Musikliebhaberin. Wir haben jedoch die Hilfe des Komponisten Michel Pétrossian in Anspruch genommen.
Normalerweise dient die Musik dazu, die Inszenierung zu perfektionieren. In diesem Fall ist sie eines der Themen des Presseheft Die leisen und die großen Töne 13Films. Wie sind Sie bei den Dreharbeiten vorgegangen?
Für den Orchesterteil wollte ich von einfachen Konzertaufnahmen wegkommen und zum Herzen des Orchesters vordringen. Ich musste Aufnahmen machen, die man nicht bekommt, wenn man ein Konzert besucht. Ich wollte, dass wir in Thibaut eintauchen, ich wollte seine Hände und seine Mimik filmen. Bei der Blaskapellte war es einfacher, weil die Dinge weniger formell sind, es ist eine echte Show, chaotischer und lebendiger.
Stille ist auch sehr wichtig...
Ja, aber es ist sehr intuitiv, Pausen einzurichten, weil sie auf Bewegungen folgen. In der Tat habe ich mich an die Dramaturgie einer Partitur gehalten: Allegretto, Andante, Adagio, usw., all diese Bewegungen, für die ich empfänglich bin. Ich fühle mich, sehr bescheiden, selbst wie ein Dirigent.
Es gibt keine Originalmusik?
Michel Pétrossian und ich haben versucht, Originalmusik einzubauen, aber das war zu viel. Eben weil wir Stille brauchten. Und es gab bereits eine Menge Musikstücke.
Lassen Sie uns über die Besetzung sprechen. Sind die Schauspieler auch Musiker?
Benjamin Lavernhe hat ein gutes Gehör, er ist sehr begabt und musikalisch, ein Schlagzeuger und ein Gitarrist. Er hat zu Hause ein Klavier, und er musste nur an den Stücken arbeiten, um die perfekte Illusion zu schaffen. Was das Dirigieren angeht, so wurde er mehrere Monate lang von Antoine Dutaillis, einem brillanten jungen Dirigenten, gecoacht und dann am Set eingesetzt. Benjamin ist sehr fleißig, und er hat sich sehr bemüht, glaubwürdig zu wirken, indem er die Partituren und Gesten mit äußerster Präzision eingeübt hat. Das Dirigieren eines Orchesters ist wie das Fahren eines Formel-1-Autos: Es gibt keinen Spielraum für Fehler. Am Set, während der Ausschnitte aus den symphonischen Stücken, dirigiert er wirklich, und zwar so sehr, dass das Orchester zusammenbricht, wenn er einen Fehler macht. Einige der Musiker sagten sogar zu ihm:
„Wir hatten schon einige Dirigenten, die nicht so gut waren wie Sie!“ Pierre Lottin hingegen ist im Grunde genommen ein Autodidakt. Er hat nie das Konservatorium besucht, aber er komponiert und spielt Klavier auf einem sehr hohen Niveau. Das sieht man vor allem bei der Jamsession mit Benjamin im Restaurant, wo sie sich prächtig amüsieren. Für den Film nahm er mehrere Monate lang Posaunenunterricht bei Estelle Wolf, einer Posaunistin, die sowohl in der klassischen Ausbildung als auch in ihrer Blaskapelle spielt. Im Film spielt er tatsächlich auf einem durchaus akzeptablen Amateur-Niveau. Sarah Suco, ebenfalls Musikerin – eine Akkordeonistin – hat bei Estelle Trompetenunterricht genommen und beherrscht das Instrument gut genug, um mit der Blaskapelle mithalten zu können. Wir haben sogar ein Making-of des gesamten musikalischen Aspekts des Films gemacht. Es ist faszinierend, sehr lustig und sehr berührend.
Wie verlief der Casting-Prozess?
Ich habe mich sehr früh für Pierre Lottin entschieden, da er in EIN TRIUMPH (2020) mitspielte. Die Rolle des Jimmy war ihm auf den Leib geschrieben. An Benjamin Lavernhe hatte ich dagegen nicht von Anfang an gedacht, weil das Alter vertauscht war. Der Adoptivsohn war der Jüngere. Als wir über einen Tausch nachdachten, konnten wir das Spektrum der Schauspieler erweitern, und Benjamin kam uns sehr schnell in den Sinn.
Haben Sie für die Nebenrollen Schauspieler oder Musiker gesucht?
In erster Linie habe ich Schauspieler gesucht, aber sie mussten auch Musik machen können. Da professionelle Schauspieler mit echten Marschmusikern gemischt wurden, mussten sie voneinander ununterscheidbar sein. Ich lege sehr viel Wert auf Harmonie am Set.
Autor: Siehe Artikel
Donnerstag 19.12.2024
FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS
Ab 19. Dezember 2024 im Kino
London, 3. September 1939. Soeben ist der Zweite Weltkrieg ausgebrochen. Sigmund Freud (ANTHONY HOPKINS) ist mit seiner Tochter Anna Freud (LIV LISA FRIES) vor dem Nazi-Regime aus Wien geflohen. Anna, selbst Psychoanalytikerin, unterstützt ihren Vater bedingungslos und vernachlässigt dabei ihre eigenen Bedürfnisse. Wenige Tage vor seinem Tod stattet ein Gelehrter vom College der University of Oxford Freud einen Besuch ab: C. S. Lewis (MATTHEW GOODE), der später mit „Die Chroniken von Narnia“ Weltruhm erlangen wird. An diesem Tag liefern sich zwei große Denker des zwanzigsten Jahrhunderts einen kontroversen Diskurs über Liebe, den Glauben, die Zukunft der Menschheit und die für sie alles entscheidende Frage: Gibt es einen Gott?
Ein Film von MATTHEW BROWN
Mit Anthony Hopkins, Matthew Goode, Liv Lisa Fries, Jodi Balvour, Jeremy Northan, Orla Brady, Stephen Campbell Moore
Basierend auf einem fiktiven Treffen zweier großer Denker verwebt FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS Vergangenheit, Gegenwart und Fantasie und bricht aus der Enge von Freuds Arbeitszimmer auf zu einer dynamischen Reise mit Gesprächen über das Diesseits und das Jenseits.
Als Sigmund Freud brilliert der zweifache Oscar®-Gewinner und Schauspielstar Anthony Hopkins (DAS SCHWEIGEN DER LÄMMER, WAS VOM TAGE ÜBRIG BLIEB), als sein Kontrahent C. S. Lewis läuft Matthew Goode („The Crown“, DEINE JULIET) zu Hochform auf. Als Sigmund Freuds Tochter Anna beweist Liv Lisa Fries (IN LIEBE, EURE HILDE, „Babylon Berlin“) erneut ihr schauspielerisches Können. Der von Regisseur Matthew Brown inszenierte Film basiert auf dem Theaterstück „Freud’s Last Session“ von Mark St. Germain.
S T A T E M E N T? D E S? R E G I S S E U R S M A T T H E W? B R O W N
Abgesehen von meiner eigenen intellektuellen Neugier und dem Interesse, das ich als Sohn eines Psychiaters am Inhalt von FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS hege, bin ich mir auch zutiefst bewusst, wie unglaublich aktuell und wichtig diese Geschichte ist. Wir leben in einem seltsamen, surrealen Zeitalter, das ideologisch polarisiert ist, weil jeder in seiner eigenen Blase gefangen zu sein scheint. Es gibt keinen Respekt mehr für die Standpunkte anderer – und doch scheint ein echter Dialog mit anderen genau das zu sein, wonach die Menschen sich sehnen. Im Film haben wir diese beiden Titanen mit diametral entgegengesetzten Standpunkten. Sie entscheiden sich dafür, ihre Differenzen in Bezug auf Gott respektvoll auszufechten. Zwar gelangen sie zu keiner gemeinsamen Antwort , doch das Schöne an der Geschichte ist, dass beide an ihrem Austausch persönlich wachsen. Ich wollte einen kreativen und emotionalen Film machen, der zum Nachdenken provoziert und große Fragen aufwirft, die tief in den Kern des Menschseins vordringen: Liebe, Glaube und Sterblichkeit.
Mir war klar, dass die Geschichte mit filmischen Mitteln voll und ganz auf den ‚Traumaspekt‘ dieses fiktiven Treffens eingehen musste, um das Unbewusste dieser beiden kreativen Köpfe zu erforschen, die die Normen der Gesellschaft in Frage stellten. Ob durch Lewis‘ Fantasiewelt oder die gotischen Waldbilder und die erotischen Halluzinationen aus Freuds Unbewussten – solche filmischen Landschaften würden Freuds Haus entfliehen, wo die dramatische Diskussion eigentlich verankert ist. Da der Film am Rande eines Krieges spielt, wusste ich, dass er auch ein sehr reales Gefühl der Dringlichkeit vermitteln musste. Die persönlichen Anstrengungen beider spiegeln die Schwere des bevorstehenden Krieges wider. Was zwischen ihnen vor sich geht, ist in gewisser Weise für uns alle von entscheidender Bedeutung.
Dies ist Freuds letzte Sitzung, denn er weiß, dass er bald sterben wird. Somit ist es auch seine letzte Chance, sich seinen eigenen Unzulänglichkeiten zu stellen und die Intoleranz gegenüber seiner Tochter Anna zu erkennen. Ich wusste, dass ihre komplexe Vater-Tochter-Beziehung, die aus einem persönlichen Verlust resultiert und voller ethischer Fragen ist, ein wichtiger Teil des Films sein würde.
Lewis’ Trauma aus dem Ersten Weltkrieg beeinflusste wiederum seine persönlichen Beziehungen, insbesondere die zu Janie Moore, der Mutter eines verstorbenen Kriegskameraden. Sie war eine Frau, mit der Lewis eine romantische Beziehung einging, bis seine Konversion zum Christentum zu einem Vorwand wurde, sie zu verlassen. Während der Film in die tieferen Bereiche der Psyche beider Männer eintaucht, werden Fantasiesequenzen und Rückblenden in die Geschichte eingewoben.
Uns allen fehlt es an Antworten, die wir nur versuchen können, in unserem Inneren zu suchen. In FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS erlebt das Publikum seine eigene kathartische Reise, auf der es mit denselben Fragen konfrontiert wird.
P R O D U K T I O N S N O T I Z E N
„Wenn Sie (in Bezug auf Gott) recht haben, können Sie es mir nicht sagen. Aber wenn ich recht habe, wird es niemand je erfahren!“ – Sigmund Freud zu C. S. Lewis in FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS
In einem entscheidenden, dramatischen Moment der Geschichte wird der Ausdruck unserer tiefsten Überzeugungen zu einer moralischen Notwendigkeit. Aber wenn diese Überzeugung ihrem Gegenteil gegenübersteht, kann die Distanz zwischen ihnen so schwer fassbar erscheinen wie eine vergrabene Erinnerung oder der Nebel in einem Wald. Dann ist diese Verbindung und nicht nur die Überzeugung entscheidend.
In FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS stehen sich Dr. Sigmund Freud – der österreichische Neurologe und Professor, der mit seinen Arbeiten wie „Die Traumdeutung“ (1900), „Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten“ (1905) und „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) einen revolutionären Meilenstein in der Erforschung des menschlichen Geistes setzte und mit der Erschaffung eines völlig neuen wissenschaftlichen Fachgebiets Berühmtheit erlangte – und der Romanautor, Oxford- Dozent und Theologe C. S. Lewis gegenüber.
Zwei historische Figuren, deren Werke über ihre Zeit hinaus zu Säulen des Denkens geworden sind. Am 3. September 1939 kommt es zu einem hypothetischen persönlichen Treffen der beiden. Ein bedeutungsvoller Tag, an dem die Zivilisation an einem Abgrund stand, nachdem Hitlers Truppen in Polen einmarschiert waren und Großbritanniens Premierminister Neville Chamberlain verkündete, dass sich das Land im Krieg mit Deutschland befände. Regisseur Matthew Brown schrieb das Drehbuch gemeinsam mit dem Autor Mark St. Germain, der damit sein eigenes, gefeiertes Bühnenstück adaptierte. Im Film nimmt Brown diese imaginäre Begegnung zum Anlass, um die beiden außergewöhnlichen Hauptfiguren darüber debattieren zu lassen, was die Menschheit im Kern ausmacht – eine Wiederspiegelung dessen, was die Welt heute wieder erlebt.
Knapp drei Wochen nach jenem Tag nahm sich Freud im Alter von 83 Jahren wegen seines inoperablen Kieferkrebses das Leben. Er starb am 23. September 1939. Doch am 3. September 1939traf er sich mit einem Gelehrten, dessen Identität bis heute unbekannt ist. . Die dargestellte Diskussion mit C. S. Lewis ist somit fiktiv, enthält aber die intellektuellen Lehren sowohl von Freud als auch von Lewis.
In Ihrem Gespräch geht es nicht nur darum, dass der Theologe dem Wissenschaftler ‚Beweise‘ für die Existenz Gottes vorlegt, sondern auch um die Auseinandersetzung mit dem freien Willen des Menschen und der psychologischen, sexuellen und sozialen Komplexität der menschlichen Identität. Es ist eine weitreichende und tiefgründige Auseinandersetzung, die sowohl Einblicke in die Vergangenheit, das Privatleben und sogar ins Innenleben der beiden Männer gewährt. Freuds Kindheit, sein Leben in Wien und die Analyse seiner Tochter Anna, die schließlich selbst eine bahnbrechende Psychologin und Analytikerin wurde, sowie Lewis‘ Visionen einer Waldwelt nach dem Tod seiner Mutter und den Erlebnissen im Ersten Weltkrieg, bilden einen Erfahrungsschatz, der sowohl den Intellekt als auch die Gefühle beider Männer betrifft. Wenn man ihre Herkunft mitbedenkt, versteht man auch ihre Standpunkte und Argumente besser.
„In diesem Film geht es wirklich um große Themen: Leben, Tod, Mitgefühl und Toleranz“, sagt Brown über FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS. „Der Film handelt von der Debatte, die Freud und Lewis über Theologie und Wissenschaft führen. Obwohl keiner von ihnen ein Blatt vor den Mund nimmt, hören beide nie auf, sich gegenseitig zu respektieren – genau das gefiel mir daran. Tatsächlich nimmt ihr gegenseitiger Respekt sogar zu, je mehr sie sich herausfordern. Das ist etwas, was wir Menschen in den letzten Jahrzehnten leider verlernt haben.“
Brown fügt hinzu: „Tatsache ist, dass sich Geschichte ständig wiederholt – das ist frustrierend. Aber die menschliche Natur ändert sich nicht unbedingt. Wir müssen manche Dinge tun, um zu wachsen und uns zu entwickeln, und es liegt bei uns, das zu tun.“ Der Regisseur weiter: „Wir leben definitiv in einer Zeit, die sich anfühlt wie jene, die Freud und Lewis im Herbst 1939 erlebten, als die Welt außer Kontrolle geriet. Wir leben heute wieder im Schatten von Faschismus und Tyrannei in einer Welt, in der wieder so viel Intoleranz und Gewalt um uns herum herrscht. Das Gefühl von Traurigkeit und Angst darüber, wohin die Welt gerade steuert, kann erdrückend sein. Leider ist
unser Film heute aktueller denn je.“
Das Theaterstück „Freud’s Last Session“ von Mark St. Germain basiert auf einer Reihe von Vorlesungen, die Dr. Armond M. Nicholi Jr. ab 1967 in Harvard über die atheistischen Theorien Freuds hielt, und die später um die Lehren von Lewis erweitert wurden. Das Seminar trug den Titel „The Question of God”. Nicholi veröffentlichte ein Buch mit dem Titel „The Question of God: C. S. Lewis and Sigmund Freud Debate God, Love, Sex, and the Meaning of Life”, das beide Vorlesungen enthielt, die Nicholi etwa 35 Jahre lang halten sollte. St. Germain verwendete dieses Buch und dessen Thesen als Grundlage für sein Theaterstück, das 2009 Premiere feierte, bevor es 2010 auch Off-Broadway in New York gespielt wurde.
FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS lebt vor allem von den dynamischen Darbietungen von Anthony Hopkins und Matthew Goode. Sie verkörpern Freud und Lewis mit Intelligenz, Nuancen und einem Gespür dafür, wer diese Männer waren, bevor sie berühmt wurden, und wie sie ihre Überzeugungen und Theorien artikulierten.
Der Film handelt aber auch von Freuds Tochter. Anna Freud (Liv Lisa Fries) war selbst eine geniale Psychoanalytikerin, die den Bereich der Kinderpsychologie mitbegründete.
Ihre Beziehung zu ihrer Geliebten, der Psychoanalytikerin und Pädagogin Dorothy Burlingham (Jodi Balfour) – auch sie kommt im Film vor. Des Weiteren erzählt FREUD – JENSEITS DES GLAUBENS von Lewis’ Erfahrungen mit der Oxforder Literaturgruppe ‚The Inklings‘, zu der auch J. R. R. Tolkien gehörte, und von seiner romantischen, aber komplizierten Beziehung zu Janie Moore (Orla Brady), der Mutter eines Kriegskameraden, der im Ersten Weltkrieg in den Schützengräben Nordfrankreichs fiel.
„Tony hat sich intensiv auf seine Rolle als Freud vorbereitet, und Matthew hat sich ebenso in seine Rolle des C. S. Lewis vertieft“, sagt Brown. „Zudem herrschte echter Respekt zwischen den beiden Schauspielern.“
Hopkins erwidert: „Das war ein wirklich faszinierendes Drehbuch. Ich arbeite gern und liebe Herausforderungen. Also habe ich Matthew Brown eine E-Mail geschrieben und so viel wie möglich über Sigmund Freud gelesen. Ich kenne mich mit Psychoanalyse zwar nicht so gut aus, aber Psychologie an sich fasziniert mich. Freud und all diese seltsamen Teile des Lebens, die mystisch erscheinen, faszinieren mich. Denn für mich ist alles ein Mysterium – das Leben an sich ist ein Mysterium.“
Der Schauspieler erläutert weiter: „Ich erinnere mich tatsächlich noch an den Zweiten Weltkrieg. Ich war jung. An den genauen Tag, an dem dieser Film spielt, erinnere ich mich nicht. Ich war ja noch ein Baby, keine zwei Jahre alt. Aber mein Vater hat mir viel erzählt. Ich bin in den Kriegsjahren aufgewachsen und erinnere mich noch, wie wir in Großbritannien um 1943 in die Luftschutzbunker gingen. Das alles war Teil meines Lebens.“
Über seinen Filmpartner stellt Hopkins fest: „Es war so einfach, mit Matthew Goode zu arbeiten. Ein wundervoller Schauspieler – so klug, subtil und großartig.“ Goode wiederum bemerkt: „Tony ist wundervoll und natürlich unglaublich talentiert. Ich denke, wenn man die Gelegenheit bekommt, mit ihm zu arbeiten, muss man sie einfach ergreifen!“ Er fügt hinzu: „Tony hat mehr Energie, Intellekt und Tatendrang als jeder andere. Es war nicht nur eine Ehre, sondern auch eine Inspiration, mit ihm zu arbeiten.
Seine Schauspielkunst gehört zur Meisterklasse. Er hat es sogar geschafft, Humor in seine Darstellung einzubringen. Das alles geschah direkt vor meinen Augen. Ich habe ihm einfach nur zugesehen und hoffe, viel daraus gelernt zu haben.
Neben den beiden Hauptdarstellern waren aber auch Liv Lisa Fries, Jodi Balfour und Orla Brady von ungeheurer Wichtigkeit für den Film, um die Figuren Anna Freud, Dorothy Burlingham und Janie Moore verstehen zu können, so Brown. Die Frauen in dieser Geschichte mit ihren vielfältigen und komplexen Lebenswirklichkeiten, stehen im Dialog mit den Gesprächen zwischen Freud und Lewis.
„Ich wusste von Anfang an, dass ich Liv für die Rolle der Anna haben wollte“, erinnert sich Brown. „Auch Jodi spielte ihre Rolle perfekt. Zwischen ihr und Liv herrschte so viel Respekt und eine Chemie, die für ihre Figuren grundlegend war. Ebenso wichtig ist Orla als Janie Moore. Sie hatte die Bedeutung ihrer Figur in Lewis‘ Leben erkannt, und auch welche Rolle sie bei seinen Gefühlen zur Theologie spielte. Ja, der Film handelt von zwei Männern, aber was die Geschichte so modern und aktuell macht, sind die Frauen im Film – ohne sie wäre es nicht derselbe Film.“
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Donnerstag 12.12.2024
BLACK DOG – WEGGEFÄHRTEN
Ab 12. Dezember 2024 im Kino
Nach einem langen Gefängnisaufenthalt kehrt Lang in seine Heimatstadt am Rande der Wüste Gobi zurück, doch nichts ist mehr, wie es einst war. Die Stadt ist im Wandel, Gebäude stehen leer und zerfallen, während streunende Hunde durch die verlassenen Straßen ziehen. Wenige Wochen vor den Olympischen Spielen in Peking beschließen die Behörden, gegen die wachsende Zahl der herrenlosen Tiere vorzugehen, insbesondere gegen den schwer fassbaren „Schwarzen Hund“, der die Bewohner in Angst versetzt. Lang, der verzweifelt nach einem Neuanfang sucht, wird Teil eines Teams von Hundefängern und entwickelt unerwartet eine tiefe Bindung zu dem Tier, das ebenso einsam und verloren ist wie er selbst. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise, die nicht nur Langs Beziehung zu dem Hund, sondern auch sein eigenes Leben für immer verändern wird.
Ein Film von Guan Hu
Mit Eddie Peng, Zhangke Jia, Jing Liang
Guan Hu, geboren 1967 in Beijing, ist ein renommierter chinesischer Filmregisseur und Drehbuchautor. Als Absolvent der Beijing Film Academy ist er bekannt für seine Beiträge zum „Sechsten Generation“ Kino Chinas, das durch einen realistischen, oft düsteren Blick auf das moderne China geprägt ist. Zu seinen bekanntesten Filmen zählen „The Cow“ (2009), „Mr. Six“ (2015) und der epische Kriegsfilm „The Eight Hundred“ (2020), die internationale Anerkennung fanden. Guan Hu gilt als einer der einflussreichsten Regisseure des zeitgenössischen chinesischen Kinos.
BIOGRAPHIE GUAN HU
Der renommierte chinesische Regisseur Guan Hu absolvierte sein Regiestudium an der Beijing Film Academy. Er wird von in- und ausländischen Filmkritikern als einer der selbstbewusstesten Regisseure Chinas angesehen. Seine Werke, geprägt von humanistischem Anliegen und realistischer Kritik, besitzen einen starken persönlichen Stil, gekennzeichnet durch scharfsinnige und einzigartig innovative Perspektiven, lebendig realistische Kinematografie und eine detaillierte audiovisuelle Handwerkskunst, die präzise die Wahrnehmungen und die kritische Sichtweise gewöhnlicher Menschen auf Gesellschaft und Welt vermittelt.
Guan Hu machte sich in den frühen Phasen seiner Karriere mit seinem repräsentativen Werk „Cow“ (2009) in der internationalen Filmwelt einen Namen und gewann den Preis für das beste adaptierte Drehbuch bei den 46. Golden Horse Film Awards für seine absurde schwarze Komödie. Der Film wurde auch für das „Horizons“-Programm der internationalen Filmfestspiele von Venedig ausgewählt.
Im Jahr 2012 kombinierte er in seinem Film „Design of Death“ schwarze Komödie mit Spannungselementen und setzte extremere Techniken ein, um ein höheres Maß an Selbstausdruck zu erreichen.
Im Jahr 2013 wurde sein ikonisches Werk „The Chef, the Actor, the Scoundrel“ aufgrund seiner starken orientalischen Textur und experimentellen Techniken als eine neue Art des chinesischen Films angesehen. 2015 fand sein Film „Mr. Six“ mit seinen einzigartigen Charakteren und der Darstellung der Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen Resonanz bei der chinesischen Diaspora und erregte große Aufmerksamkeit. Er wurde zu Chinas erstem Kassenschlager-Phänomen und spielte über eine Milliarde chinesische Yuan ein. Der Film war nicht nur der Abschlussfilm der Filmfestspiele von Venedig, sondern gewann auch zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen.
Guan Hu war auch einer der Regisseure des 2019 weltweit veröffentlichten Films „My People, My Country“, der zum 70. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China herausgebracht wurde. Der Film brach den Kassenrekord für Gedenkfilme und spielte 3 Milliarden Yuan ein. Guan Hus Segment „The Eve“ wurde für seine Darstellung des Geistes der chinesischen Kultur durch eine spezifische Geschichte hoch gelobt. Im Jahr 2020 wurde sein Kriegsfilm „The Eight Hundred“ zu einem Super-Phänomen und war der globale Kassenschlager des Jahres. Er war auch Co-Regisseur von „The Sacrifice“, der 2020 veröffentlicht wurde und zum Gedenken an den 70. Jahrestag der Teilnahme der Chinesischen Volksfreiwilligenarmee am Koreakrieg entstand.
STATEMENT DES REGISSEURS
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreichten Chinas Wirtschaftswachstum und gesellschaftlicher Wandel ihren Höhepunkt. Ehrlich gesagt, das, was in China nur dreißig Jahre dauerte, hätte in einem anderen Land oder in einer anderen Epoche über hundert Jahre gedauert. Jeder profitierte von dieser Transformation, aber in diesem rasanten Veränderungsprozess war es unvermeidlich, dass manche Dinge verloren gingen, vergessen wurden oder dass die Welle der Entwicklung diejenigen traf, die mit der Geschwindigkeit des Wandels nicht mithalten konnten.
Wenn wir in eine einst blühende, aber nun vergessene Stadt kommen und eine Person sehen, die einst am Boden lag, aber nun versucht, wieder auf eigenen Beinen zu stehen, beobachten wir Lang, wie er einer weiteren einsamen Seele begegnet – einem schnell laufenden schwarzen Hund, der das Tier in ihm weckt. Jeder Mensch hat eine animalische Seite, auch wenn sie lange unterdrückt wurde.
Lang beschließt, wieder aufzustehen und weiterzugehen. Wir richten die Kamera auf Dinge, die in vielen Filmen übersehen werden, und konzentrieren uns auf seltene Individuen, denen es gelungen ist, ein Gefühl von Würde wieder aufzubauen. Wir glauben, dass dies entscheidend für die Zukunft dieser Gemeinschaft und für unsere gemeinsame Zukunft ist.
Diese Menschen mögen in der Minderheit sein, aber sie sind dennoch ein Teil von uns. Wenn wir in ein paar Jahren zurückblicken und erkennen, dass darin ein Wert liegt, können wir auch sagen, dass dies der Wert des Kinos ist.
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Mittwoch 04.12.2024
13 STEPS – DIE UNGLAUBLICHE KARRIERE DES EDWIN MOSES
Ab 05. Dezember 2024 im Kino
Nach den aufsehenerregenden Sportler-Dokumentarfilmen KLITSCHKO, NOWITZKI und KROOS, freuen wir uns, Ihnen den neuen Film von Produzent Leopold Hoesch ankündigen zu können: 13 STEPS – DIE UNGBLAUBLICHE KARRIERE DES EDWIN MOSES.
Ein Film von Michael Wech
13 STEPS erzählt die Lebensgeschichte eines der außergewöhnlichsten Athleten in der Geschichte des Sports, Edwin Moses. Während seines Physikstudiums am berühmten Morehouse College in Atlanta bringt sich Edwin Moses die härteste Disziplin der Leichtathletik, die 400 Meter Hürden, selbst bei. Mit seiner optimalen Lauftechnik von 13 Schritten zwischen den Hürden schafft er eine historische Siegesserie mit zahlreichen Weltrekorden und Olympiasiegen: 9 Jahre, 9 Monate und 9 Tage bleibt Edwin Moses ungeschlagen.
Doch der sportliche Erfolg ist nur ein Teil seiner Geschichte. Schon während seiner Karriere kämpft der Olympiasieger für strengere Dopingkontrollen, eine faire Bezahlung der Athleten und Gleichberechtigung. Bis heute ist er ein Vorbild für Fairness und Integrität – auch weit über den Sport hinaus. Der Dokumentarfilm verknüpft Moses‘ Lebensweg mit zentralen Momenten der Weltgeschichte und zeigt, wie seine persönlichen Triumphe bedeutende globale und gesellschaftliche Veränderungen widerspiegeln.
Exklusive Interviews mit Edwin Moses selbst, mit Ikonen wie Spike Lee, Samuel L. Jackson und Neil deGrasse Tyson, sowie Sportgrößen wie Karsten Warholm, Tommie Smith, und Michael Johnson erlauben sehr persönliche Einblicke in die Gedanken, Motivationen und Herausforderungen des Ausnahmesportlers.
Regie bei 13 STEPS führte der vielfach preisgekrönte Autor Michael Wech, der bereits mit Filmen wie „Schumacher“ und „Boris Becker – Der Spieler“ Sportgrößen portraitierte. 13 STEPS ist eine Produktion von BROADVIEW Pictures, Produzent ist Emmy-Preisträger Leopold Hoesch (DIE UNBEUGSAMEN, NOWITZKI, KROOS). Als Executive Producer fungieren Oscar®-Gewinner Morgan Freeman, Lori McCreary, Scott Borden, James Younger und Vera Bertram. Gefördert wurde die Produktion mit Mitteln von Film- und Medienstiftung NRW, Deutscher Filmförderfonds und Filmförderungsanstalt.
INTERVIEW MIT REGISSEUR MICHAEL WECH
Herr Wech, Sie haben bereits Michael Schumacher und Boris Becker portraitiert. Was war das Interessante an Edwin Moses, das ihn für einen Dokumentarfilm prädestinierte?
Edwin Moses hat eine in der Leichtathletik einzigartige Siegesserie hingelegt. In den 70-/80er Jahren hat ihn knapp zehn Jahre lang niemand geschlagen. Er hat also seinen Sport fast ein ganzes Jahrzehnt über dominiert. Und er hat 122 Rennen hintereinander gewonnen. Jedes einzige.
Es gibt immer wieder Ausnahmeathleten. Manchen springen hoch, andere können sich so gut fokussieren, dass sie bei Wettbewerben ihre Leistung immer punktgenau abrufen und deshalb Goldmedaillen gewinnen können. Edwin Moses aber zeichnet sich durch etwas anderes aus: Er hat Höchstleistungen vollbracht in einer nie da gewesenen Kontinuität. Mich hat es gereizt herauszufinden, wie ihm das gelungen ist. Und deshalb habe ich mich auf die Suche gemacht – nach Ankerpunkten in seinem Leben, die ihm das ermöglicht haben. Es geht um Stabilität, Durchhaltevermögen, Hartnäckigkeit, Krisenfestigkeit, im Grunde genommen um das, was wir heute mit dem Wort Resilienz beschreiben. Und deshalb glaube ich, dass sich in der Beschäftigung mit dem Leben von Edwin Moses Erkenntnisse finden lassen, die auch in der heutigen Zeit Bestand haben können. Mit anderen Worten: Es geht nicht darum, einem weiteren großen Sportler ein Denkmal zu errichten, sondern herauszufinden, was uns dieses Sportlerleben über die Herausforderungen von heute erzählen kann.
Welche Erkenntnisse sind dabei herausgekommen?
Jeder muss natürlich für sich selbst herausfinden, was er in der Figur Edwin Moses für sich sieht. Mir hat sich im Laufe der Beschäftigung eine Persönlichkeit offenbart, die es so heute kaum noch gibt. Ich würde es fast mit einer Art Ritterlichkeit beschreiben, die ihm innewohnt. Er besitzt einen sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und Solidaritätsgefühl, kann Situationen glasklar und auf eine sehr stimmige Art und Weise einschätzen, er ist gütig, gerecht, großzügig, hart gegen sich selbst, und er hat ein absolut gerades Rückgrat – ich glaube, er würde sich niemals auch nur einen Zentimeter verbiegen, wird immer zu seinen Werten stehen. Und das kann man nur, wenn man diese Werte so verinnerlicht hat wie er. Vor diesem Hintergrund war es auch unglaublich spannend, sich mit seiner Kindheit, Jugend und Erziehung zu beschäftigen, die offenbar sehr liebevoll, aber auch sehr streng und geradlinig war. Eine ganz besondere Mischung, die das Fundament geschaffen hat, auf dem diese Person Edwin Moses gewachsen ist. Es gibt ja das Bildnis des Scheinriesen – bei Edwin Moses würde ich sagen, ist es umgekehrt: Er ist größer, als er scheint. Weil er so in sich ruht und kein Schauspieler ist. Was er erreicht hat, ist einzigartig und hat viel mit seinen charakterlichen Eigenschaften zu tun, mit Hartnäckigkeit, Ausdauer und Zielstrebigkeit. Er erzählte mir einmal, sein Vater habe ihm eingebläut: „Bring die Sache zu Ende.“ Das hat er gemacht.
Und darüber hinaus noch so viel mehr, wie Sie im Film ebenfalls erzählen.
Faszinierend sind ja nicht allein die reinen Zahlen hinter seinen Siegen, sondern vor allem, wie er diese errungen hat. Er ist studierter Physiker, hochintelligent, und er hat wissenschaftliche Methoden angewendet, um seine Disziplin mit höchstmöglicher Effizienz auszuführen. Daraus hat er geschöpft und damit hat er seinen Sport revolutioniert. Indem er berechnet hat, dass er auf seiner Laufbahn in den Kurven möglichst weit innen laufen muss, um so den Radius der Laufstrecke zu verringern. Das war nur möglich, wenn man die Hürden mit dem linken Bein zuerst überwindet – wofür er wiederum einen idealen Rhythmus von 13 Schritten zwischen den einzelnen Hürden berechnet hat. 13 Schritte – das hat vor ihm noch niemand gemacht, auch weil es physisch unglaublich anstrengend ist. Aber er hat es geschafft, und es hat ihm seine Siege beschert. Man kann gar nicht hoch genug einschätzen, dass er es anders gemacht hat als andere – das war nicht nur Kraft, Ausdauer, harte Arbeit, Schweiß und Tränen, sondern es war auch eine gehörige Portion Cleverness und intellektuelle Analyse. Dass ist es, was meiner Meinung nach aus diesem Spitzensportler eine Ausnahmefigur macht.
Ausdauer hat er auch abseits der Rennstrecke unter Beweis gestellt.
Edwin Moses hat einen großen Anteil an der Professionalisierung des Sports und am Kampf gegen das Doping. Alle, die heute in der Leichtathletik und generell im Sport gut verdienen, stehen damit quasi auf seinen Schultern. Denn er hat sich nicht nur für angemessene Honorare eingesetzt, sondern vor allem erfolgreich dafür gekämpft, dass auch Athleten zu den Olympischen Spielen zugelassen werden, die mit ihrem Sport Geld verdienen – und das zu Recht, denn sie haben ihr ganzes Leben dem Sport gewidmet, es war ihr Beruf. Aber erst mit Edwin Moses wurde der olympische „Amateur-Paragraph“ langsam aber sicher hinterfragt und schließlich für nichtig erklärt. Dieses Verdienst muss man unbedingt würdigen, denn es war ein harter und zäher Kampf gegen Bürokratie und das bis dahin geltende Establishment. Diesen hat er natürlich nicht allein gekämpft, aber jede Bewegung braucht eine Speerspitze, und die war Edwin Moses. Ähnlich wie im Kampf gegen das Doping. Dass Menschen sich mit Hilfe verbotener Substanzen einen Vorteil verschaffen wollen, geht zu 100 Prozent gegen das Gerechtigkeitsempfinden eines Edwin Moses – das war sicherlich die Hauptmotivation dafür, dass er auch diesen langen Kampf bis zum Ende durchgezogen hat.
Zwanzig Jahre lang in Sitzungen, in Chemielabors, mit Experten die Untiefen von Urinproben diskutieren, sich mit Bürokraten herumschlagen, gegen alle Widerstände und Einflussnahmen, bis es so etwas gab wie eine US- oder Welt-Anti-Doping-Agentur. Wobei letztere auch heute noch nicht frei von Einflussnahme funktioniert. Der Höhepunkt war sicherlich die Verurteilung von Lance Armstrong durch die US-Anti-Doping-Agentur unter seiner Federführung. Eine solche Ikone vom Sockel zu stoßen – ich glaube, wir alle können uns nicht vorstellen, auf welche Widerstände man dabei stößt. All das über Edwin Moses zu wissen, ist wichtig, um die wirkliche Leistung dieses Mannes zu verstehen. Es brauchte jemanden genau wie ihn, um diese Dinge zu vollbringen. Durch seine Mischung aus Souveränität, Ausdauer und absoluter Integrität war er wie geschaffen dafür.
Angesichts dieser energiezehrenden Leistungen stellt man sich automatisch die Frage, wie es um das private Leben von Edwin Moses bestellt war, ob da vielleicht etwas auf der Strecke geblieben ist.
Edwin Moses war verheiratet und sagt über diese Zeit „Mir gefiel es, verheiratet zu sein, als ich verheiratet war.“ Heute lebt er allein in seinem Haus in Atlanta. Man könnte also sagen, die Beharrlichkeit, mit der er seine sportliche Karriere verfolgt hat, hat in seinem Privatleben nicht die
gleiche Kontinuität gebracht. Aber Edwin Moses hat einen Sohn, Julian, der heute in Berlin lebt und zu dem er eine sehr gute Beziehung pflegt. Wir haben ihn über einen sehr langen Zeitraum immer wieder getroffen – ich glaube, er ist ein glücklicher Mensch. Wer wissen will, was Frauen, die ihm sehr nahestehen, über ihn denken, muss den Film ganz bis zu Ende schauen.
Interessant ist auch, was Sie zu seiner Herkunft erzählen.
Gedreht haben wir u.a. in seiner Geburtsstadt Dayton, Ohio. Die Gebrüder Wright haben dort das Fliegen erfunden. Und es ist eine unerwartet große und beeindruckende Stadt, die einen der wichtigsten U.S.-Luftwaffenstützpunkte beherbergt. Edwin Moses‘ Eltern waren beide Lehrer, sein Vater war der erste Schwarze Schuldirektor in Dayton. Wahrscheinlich ist es eine Binsenwahrheit, dass man zu den Wurzeln gehen muss, um einen Menschen wirklich zu verstehen. Bei Edwin Moses ist es unerlässlich, finde ich. Er stammt aus der Mittelschicht, entsprechend ist seine Geschichte keine Aufsteigergeschichte über jemanden, der sich von ganz unten nach ganz oben hochkämpfen musste. Er hat aber eine Schwarze Identität, und er hat sich auf seine ganz eigene Art und Weise mit diesem Thema auseinandergesetzt. Ich denke, wichtig in seinem Leben ist, dass er diese Identität erkannt hat und dafür einsteht, dies aber anders tut, als man es vielleicht von anderen Schwarzen Ikonen in den USA kennt. Er ist nicht der Typ, der wie ein Tommie Smith die Faust in den Himmel streckt. Ich würde ihn eher als eine Art „Gentleman“ beschreiben, der nicht GEGEN etwas kämpft, sondern immer FÜR etwas. Und der versucht, in der Art und Weise, wie er lebt, ein Vorbild auch für andere zu sein.
Wobei ich gestehen muss, dass ich mich immer etwas unbehaglich dabei fühlte, mich mit diesem Teil seiner Biografie intensiv zu beschäftigen. Darf ich als Weißer Filmemacher überhaupt Fragen zur Schwarzen Identität stellen? Ist das statthaft? Edwin Moses hat mich immer bestärkt, das zu tun. Und alle People of Colour aus den USA, die ich für diesen Film interviewt habe, sahen es genauso. Und schließlich hat auch Executive Producer Morgan Freeman seinen Segen gegeben und macht sich für 13 STEPS stark. Im September läuft der Film auch auf dem International Black Film Festival in Montreal.
Besonders sein Bruder und sein Sohn äußern sich im Film zu diesen Fragen.
Mit seinem Bruder haben wir sehr lange gesprochen. Und ich muss sagen, dass ich selten jemanden erlebt habe, der es schafft, Intellekt und Empathie so wunderbar zu verbinden wie er. Irving Moses hat beides, eine sehr seltene Gabe. Seine Schilderungen über die Rassenunruhen der 60er Jahre und wie die Familie Moses diese erlebt und gesehen haben, gehen unter die Haut. Und Edwin Moses schildert, wie schwer es dann für ihn als Schüler und „smart kid“ war, seine Rolle innerhalb der Schwarzen Community in Dayton zu finden, die ihm vorwarf, er wolle ein „Weißer Schwarzer“ werden. Auch sein Sohn Julian, der heute in Berlin lebt, schildert eindringlich, wie unglaublich er es fand, als er entdeckte, dass in der Geburtsurkunde seines Vaters aus dem Jahr 1955 unter Herkunft „Negro“ stand. Und wie normal es dagegen für ihn war, in seiner Schulklasse in Berlin mit Kindern aus allen Ländern dieser Welt gemeinsam aufzuwachsen.
Sie sprachen Morgan Freemans Beteiligung als Executive Producer an. Ebenso überraschend ist, dass – neben den prominenten Sportlern, die zu Wort kommen – auch Spike Lee und Samuel L. Jackson im Film mitwirken. Wie kam dies zustande?
Wie Edwin Moses sind auch Spike Lee und Samuel L. Jackson Absolventen des Morehouse College in Atlanta. In den USA war Schwarzen sehr lange Bildung an Einrichtungen verwehrt, die für Weiße bestimmt waren. So entstanden eigenständige private und öffentliche Hochschulen ausschließlich für Schwarze, die sog. HBCUs (Historically Black Colleges and Universities). Der Gedanke dahinter war, dass junge Schwarze an diesen Einrichtungen in einem ,safe space‘ ohne Anfeindungen studieren können. Morehouse ist ein solches, sehr renommiertes College für junge
Schwarze Männer, Martin Luther King z.B. hat hier ebenfalls studiert. Eine große Rolle spielt an diesen Colleges der Corpsgeist – auch wenn sie nicht im gleichen Jahrgang waren und eng miteinander befreundet sind, verbindet Edwin Moses, Spike Lee und Samuel L. Jackson der gemeinsame Morehouse-Hintergrund. Sie sind „Morehouse Brothers“, wie Spike Lee immer so schön sagt, und als solche standen die beiden sehr gern zur Verfügung.
Vielleicht noch ein Wort zur Material-Recherche – wie aufwändig war diese?
Die Materialsuche ist immer aufwändig! Aber zum Glück gibt es bei BROADVIEW ein eingespieltes und hoch motiviertes Team. Der Motor dahinter ist Produzent Leopold Hoesch, der die ursprüngliche Idee zu diesem Projekt hatte und unbeirrbar und gegen alle Widerstände durchgefochten hat.
Ich muss sagen, er hat die einmalige Gabe, einem Wind unter die Flügel zu geben und damit Projekte zum Fliegen zu bringen. Und er hat dafür gesorgt, dass wir für die Suche nach Material, das schwer zu finden ist, auch diesmal wieder mit Archiv-Producer Thorben Bockelmann zusammenarbeiten konnten. Thorben leistet wirklich archäologische Arbeit! So hat er es z.B. geschafft, Rohmaterial zu finden, das im Juni 1987 bei einem Rennen in Madrid entstanden ist. Wie man in dem Film sieht, handelt es sich dabei um ein relativ kleines Sportfest im Estadio Vallehermoso. Als diese Bilder entstanden, konnte niemand wissen, dass dies das Rennen sein würde, bei dem Mo- ses‘ unglaubliche Serie von 122 Siegen endete. Für uns waren diese Einstellungen von unschätzbarem Wert. Sie zeigen Edwin Moses am Tag seiner ersten Niederlage seit knapp zehn Jahren – und gleichzeitig erzählen sie die Geschichte seines großartigen Triumphes.
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Mittwoch 27.11.2024
EMILIA PEREZ
Ab 28. November 2024 im Kino
Die Anwältin Rita (Zoe Saldaña) ist ein kleines Licht in einer großen Firma: überqualifiziert, aber unterrepräsentiert. Ihrer Intelligenz verdanken Drogendealer, Mörder und Kartellbosse die Freiheit. Im Blitzlichtgewitter sonnt sich hinterher ihr stets korrumpierbarer Chef. Eines Tages bietet sich ihr ein Ausweg: Kartellboss Manitas del Monte (Karla Sofía Gascón) will mit ihrer Hilfe aus der Mafia-Welt aussteigen. Rita soll den Schlussstrich unter sein zweifelhaftes Lebenswerk ziehen, ein neues Leben für seine Frau Jessi (Selena Gomez) und die Kinder organisieren und einen Plan umsetzen, den er seit Jahren im Verborgenen vorbereitet hat: sich voll und ganz in die Frau zu verwandeln, die er tief im Inneren schon immer war: EMILIA PÉREZ.
Doch Manitas‘ Vergangenheit ist eine Geschichte, die nur ihren eigenen Regeln gehorcht, die wiederkehrt und sich mit aller Gewalt rächen wird.
Nichts weniger als eine einzigartige Kino-Offenbarung ist dieses epochale Meisterwerk mit grandioser Starbesetzung, das in Cannes mit gleich zwei Preisen ausgezeichnet wurde. Der mehrfach preisgekrönte Regisseur Jacques Audiard schreibt sich mit dieser formal revolutionären
Geschichte über die absolute Freiheit der Selbsterfindung endgültig in die Geschichte ein. Eine grandiose Show voller Vitalität und Energie, die alle Sinne fesselt, in ihren Bann zieht und die Macht des Kinos so leidenschaftlich zelebriert wie noch nie.
Ein Film von Jacques Audiard
Mit Zoe Saldaña, Karla Sofía Gascón, Selena Gomez, Adriana Paz u.a.
INTERVIEW MIT DEM REGISSEUR JACQUES AUDIARD
Wie haben Sie das Drehbuch erarbeitet?
Während des ersten Lockdowns habe ich schnell ein Treatment geschrieben und dabei festgestellt, dass es eher einem Opernlibretto als einem Filmdrehbuch ähnelt – es ist in Akte unterteilt, es gibt nur wenige Kulissen, die Figuren sind archetypisch...
Wollten Sie schon lange eine Oper inszenieren?
Ich war nicht verrückt danach, aber die Idee, eine Oper zu machen, kam mir während der Arbeit an DAS LEBEN: EINE LÜGE in den Sinn. Alexandre Desplat und ich hatten darüber nachgedacht, eine Verismo-Oper zu schreiben – eine schlichte Angelegenheit wie „Nixon in China“, „Die
Dreigroschenoper“ oder Peter Brooks „Die Tragödie der Carmen“.
Haben Sie sich mit dieser Idee für eine Oper auf die Suche nach einem Musiker gemacht?
Das habe ich. Ein befreundeter Produzent, der auch ein Musikliebhaber ist, hat mir von Clément Ducol erzählt, und ich habe mich mit ihm getroffen. Seine Lebensgefährtin Camille hat sich uns schnell als Texterin angeschlossen. Wir vier, einschließlich Thomas Bidegain, zogen uns in ein Haus außerhalb von Paris zurück und begannen mit der Arbeit. Das war im Frühjahr 2020.
Wann wurde aus dem Libretto ein Drehbuch?
Als ich begann, die Figuren des Romans zu verändern. In der Buchvorlage war der Anwalt ein Mann – ein abgehalfterter, desillusionierter Kerl, der am Ende seiner Kräfte war. Ich habe ihn in eine Frau verwandelt, die ebenfalls Anwältin ist, aber die jung, ehrgeizig, skrupellos, zynisch und mit Zoe Saldaña in der Rolle auch schwarz ist. Sie ist also eine Figur mit großem Potenzial für Entwicklung und Wendungen. Außerdem hatte ich das Gefühl, dass das Drehbuch, genau wie Emilia, genreübergreifend sein könnte.
Warum sind Sie einen solchen Umweg gegangen, um ein Drehbuch zu schreiben?
Ich bin mir nicht sicher, aber ich muss sagen, dass es immer dasselbe ist – ich habe eine Intuition, einen Ausgangspunkt, und ich nutze die Zeit, die darauf folgt, um die Dinge zu verkomplizieren, das Wasser zu verwässern, mich hinter Masken zu verstecken. Am Ende, also während des Mischprozesses, ist der Film näher an meiner ursprünglichen Idee als all die verschiedenen Versionen dazwischen. „Was für ein langer Weg, den ich zurücklegen musste, um dich zu treffen“, sagt der Held am Ende von Bressons PICKPOCKET (1959).
In den meisten Ihrer Filme geht es um das Erbe der Gewalt. Sind Sie sich dessen bewusst, wenn Sie das Drehbuch schreiben?
Ich habe das Gefühl, dass ich sehr naiv bin und immer andere Dinge mache. Aber eines der wiederkehrenden Themen ist tatsächlich Gewalt und die Frage, wie man die Gewalt der Väter los wird? Ich muss zugeben, dass es schon von Anfang an so war. Mein erster Spielfilm heißt WENN MÄNNER FALLEN (Originaltitel: REGARDE LES HOMMES TOMBER). Das hätte meine Aufmerksamkeit erregen müssen, meinen Sie nicht?
Bei EMILIA PÉREZ gehen Sie etwas anders vor, da Sie das Thema Männlichkeit als integrales Nebenprodukt von Gewalt behandeln...
Es ist im Grunde eine Erlösungsgeschichte – hilft Ihnen der Geschlechterwechsel, die Gewalt von Männern in einem anderen Licht zu sehen? Um ehrlich zu sein, glaube ich das nicht. Emilias Figur mag zwar diese Überzeugung haben, aber sie ist immer noch in die Gewalt verstrickt. Die Reise, die sie aus diesem Kreislauf der Gewalt herausführt, ist an sich schon tugendhaft. Ob man nun sein Leben verliert oder überlebt, am Ende hat man auf dem Weg etwas gelernt.
Der größte Teil des Films wurde auf einer Soundstage1 in Paris gedreht. War das eine kreative Entscheidung oder eine technische Notwendigkeit?
Wir haben mehrmals Drehorte in Mexiko ausgekundschaftet. Aber es hat nicht gepasst – alle Kulissen fühlten sich zu echt an, zu robust, zu klein, zu kompliziert. Meine ursprüngliche Intuition war mit einer Oper verbunden – warum also nicht zu dieser Prämisse zurückkehren? Warum nicht zum Kern der DNA des Projekts zurückkehren und auf einer Soundstage drehen? Dies veranschaulicht perfekt meinen vorherigen Punkt über die Zeit, die ich mit der Verleugnung meiner ursprünglichen Intuition verschwendet habe.
Wie haben Sie mit Ihrem Kameramann Paul Guilhaume und Ihrer künstlerischen Leiterin Virginie Montel an der visuellen Gestaltung des Films gearbeitet?
Wenn man auf einer Soundstage dreht, ist das, so klischeehaft das auch klingen mag, ein unbeschriebenes Blatt und man muss alles erschaffen – die Beleuchtung, den Maßstab, die Farben, die Lebendigkeit. Man muss sich überlegen, was im Vordergrund stehen soll und wie man die Schärfentiefe einstellt. Ich hatte mir zum Beispiel überlegt, dass das erste Drittel des Films, in dem die Figur Manitas im Mittelpunkt steht, bei Nacht oder zumindest im Dunkeln stattfinden sollte. Das würde helfen, die Kosten für das Design zu senken und der Geschichte eine starke visuelle Identität zu geben. Mit Virginie Montel dachten wir auch daran, dass an einigen Stellen Statisten und ihre Körperlichkeit als Kulissen dienen würden. In der Eröffnungssequenz auf dem Markt zum Beispiel spielt sich eine Art Gleichung zwischen Körper und Kulissen ab. Aber da der Film auf einer Soundstage auch schnell statisch werden kann, haben wir immer daran gedacht, dass wir Dynamik brauchen, entweder im Vordergrund oder durch Tiefenschärfe. Was die Sache mit dem Vorder- und Hintergrund angeht, haben wir uns auf jeden Fall auf das verlassen, was wir von EIN PROPHET (2009) gelernt haben.
Wie meinen Sie das?
Wenn ich vor EIN PROPHET (2009) zum Beispiel eine Straßenszene drehen musste, stellte ich die Schauspieler in den Vordergrund, passte ihr Schauspiel an und richtete dann das Geschehen im Hintergrund ein – Passanten, Autos etc. Bei EIN PROPHET (2009) funktionierte diese Aufteilung überhaupt nicht. Wenn ich den Vordergrund, die Hauptfiguren, einstellte und dann im Hintergrund die Statisten bearbeitete, war dieser Hintergrund leblos. Da fand ich heraus, dass ich zuerst den Hintergrund bearbeiten muss und erst, wenn das alles funktioniert, die Schauspieler einsetzen sollte – mit anderen Worten, sie ins Leben rufen muss.
Den Film in Mexiko zu drehen, bedeutete von Anfang an, dass Sie wieder in einer anderen Sprache arbeiten würden. Warum wollten Sie nach DHEEPAN (2015), dessen Hauptfigur Tamilisch sprach, und THE SISTERS BROTHERS (2018), der komplett auf Englisch gedreht wurde, noch einmal in einer Fremdsprache arbeiten?
Im Französischen neige ich dazu, mich auf die Syntax, die Wortwahl, die Zeichensetzung zu konzentrieren. Alle möglichen Details, die kaum nützlich sind. Wenn ich hingegen in einer Sprache arbeite, die ich nicht gut oder kaum spreche, wird meine Verbindung zum Dialog des Films ausschließlich musikalisch.
Hat die Übersetzung die Musikalität der Dialoge, die Sie auf Französisch geschrieben hatten, verändert?
Ja, natürlich, und genau darum ging es – eine Oper auf Spanisch zu schreiben, was eine sehr starke, sehr körperliche und sehr akzentuierte Sprache ist.
EMILIA PÉREZ ist Ihr zehnter Spielfilm. Was haben Sie seit Ihrem ersten Film als Regisseur im Jahr 1993 gelernt?
In meinen ersten drei Filmen habe ich ganz spezifische Dinge gelernt, die ich seither immer wieder einsetze und anwende, während ich stetig immer wieder neue Dinge entdecke. Mit zunehmender Erfahrung kann man die Schauspieler auf die nächste Ebene bringen, die Art von Bildern, die man im Kopf hat, einfacher drehen und am Set besser mit den Leuten teilen, die davon wissen müssen – also der Crew. Als ich selbstbewusster wurde, gewann ich mehr Freiheit. Ich weiß, wo ich hin will, aber auch nicht zu sehr.
Konnten Sie vor den Dreharbeiten mit den Hauptdarstellerinnen proben?
Normalerweise sind Proben immer ein gewisser Luxus, den man den Leuten auferlegt, aber bei einem Projekt wie diesem mit der Choreografie, dem Gesang und den komödiantischen Einlagen war es eine Notwendigkeit. Damien Jalet hat die Choreografie entworfen und die Proben geleitet. Clément Ducol und Camille schrieben die Musik und die Texte, nahmen die Mockups auf und brachten sie zu den Schauspielerinnen... An jedem Tag mussten wir drei oder vier Bereiche abdecken. Das war anstrengend, aber auch aufregend.
Erzählen Sie uns etwas über den Casting-Prozess.
Ich traf Selena Gomez eines Morgens in New York. Ich erinnerte mich an sie aus Harmony Korines SPRING BREAKERS (2013), aber ich wusste kaum etwas über sie. Nach zehn Minuten wusste ich, dass sie es sein würde. Ich habe es ihr sogar gesagt, aber sie wollte mir nicht glauben. Als wir sie ein Jahr später anriefen, um ihr zu sagen, dass der Film grünes Licht bekommen hatte, dachte sie, ich hätte sie vergessen!
Wie war es mit Zoe Saldaña?
Zoe erfüllte alle Kriterien auf einmal – sie konnte singen und als Vortänzerin tanzen; außerdem ist ihre Schauspielerei auffallend charismatisch. Sie wollte den Film unbedingt machen, aber sie war sehr beschäftigt. Wir haben ein Jahr lang auf sie gewartet.
Was ist mit Karla Sofía?
Ihre Rolle war am schwierigsten zu besetzen. Ich habe in Mexiko-Stadt eine ganze Reihe von Transgender-Schauspielerinnen getroffen, aber ich konnte nicht die richtige Person finden. Karla Sofía war ein Schauspieler, bevor sie zur Schauspielerin wurde, aber es gibt eine Beständigkeit in ihrem Weg. Sie ist scharfsinnig, sie hat einen tiefsinnigen Verstand, sie ist erfinderisch, und sie hat einen großen Sinn für Komik.
Wie haben Sie die Sprachbarriere mit den Schauspielern gemeistert?
Wenn es zu schwierig wurde, habe ich einen Übersetzer eingesetzt. Aber mit den Schauspielerinnen und Schauspielern ist die Kommunikation wie Esperanto. Ich mochte sie alle sehr und habe die Arbeit mit ihnen jeden Tag aufs Neue genossen.
Wie bauten Sie die Figur Manitas innerhalb der verschiedenen Abteilungen auf?
Ich führte lange Gespräche mit Virginie Montel darüber. Wie konnten wir aus Manitas Emilia machen – und in welchem Ausmaß? Virginie hat mit ihrem Team, bestehend aus Maskenbildnern, VFX-Künstlern und Kostümbildnern, einige Tests durchgeführt, bis sie auf diesen Look einer sanften Bestie mit einer Engelsstimme kam. Als ich die ersten Bilder von Manitas sah, konnte ich Karla Sofía nicht wiedererkennen.
Wie viel haben Sie während der Vorproduktion zum Thema Transgender-Identität recherchiert?
Ich habe kein akademisches Wissen über die Transgender-Thematik. Karla Sofía hat mich über dieses Thema aufgeklärt. Ich habe ihr per E-Mail Fragen gestellt und sie hat mir geantwortet. Was mir in Erinnerung blieb, ist ihre Entschlossenheit und ihr Mut, sowohl mental als auch körperlich. Wie mutig sie gewesen sein muss, sich operieren zu lassen, und wie viele Schmerzen sie vor der Operation hatte. Sie war ein ganzes Leben lang in einem Körper gefangen, in den sie nicht gehörte. Noch etwas über sie: Karla lebt immer noch bei der Mutter ihrer Tochter, die jetzt etwa 15 Jahre alt sein muss. Ich weiß nicht, ob man behaupten kann, dass dies ein Beispiel für Freiheit ist, aber im Grunde neige ich dazu, das zu glauben.
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