„Sie hatten fünfundzwanzig Jahre Zeit, Mutter zu werden, sehen Sie´s mal so.“ Diesen Satz hört Marie-Claire von Dr. Nonnenmacher, ihrer Frauenärztin. Ein Name, der nichts Gutes verheißt, wenn man sich dringend ein Kind wünscht, denkt Marie-Claire. Kurz vor ihrem 40. Geburtstag ist ihr schlagartig bewusst geworden, dass es bald zu spät ist. Warum ist ihr nicht früher aufgefallen, dass sie unter Zeitdruck steht? Dass sie die einzige wichtige Deadline ihres Lebens im Blick hätte haben müssen, denn das ist es doch eigentlich, was zum Glück gehört: ein Kind.
Vor einigen Jahren machte der Begriff „Regretting motherhood“ Schlagzeilen. Eine soziologische Studie hatte erstmals die Empfindungen von Frauen untersucht, die ihre Mutterschaft bereuen. In
Jackie Thomaes Buch „
Glück“ geht es um das gegenteilige Phänomen: um Frauen um die 40, die verzweifelt darüber sind, nicht Mutter geworden zu sein und denen nur noch ein kleines Zeitfenster bleibt.
Jackie Thomae erzählt aus wechselnder Perspektive von mehreren Frauen aus Berlin, die miteinander bekannt oder befreundet sind. Trotz des ernsten Themas ist das Buch unterhaltsam und spannend zu lesen. Die Autorin ist eine genaue Beobachterin des wohlhabenden Mittelschichtmilieus, das sie mit Klugheit und pointiertem Witz beschreibt. Ihre Figuren behandelt sie mit Sympathie, aber auch mit einer leicht ironischen Distanz.
Im Mittelpunkt des Romans stehen eine Radiomoderatorin und eine Politikerin, Marie-Claire Sturm und Anahita Martini. Beide sind 39, beruflich sehr erfolgreich und befinden sich in einer tiefgreifenden Lebenskrise. Marie-Claire, unabhängig und selbstbewusst, hat sich in der Medienbranche einen Namen gemacht. Nach mehreren Beziehungen und zwei Abtreibungen ist sie ohne festen Partner und meint nun zu erkennen, dass ihre bisherigen Lebensentscheidungen falsch waren. Das Verlangen nach einem Kind ist übermächtig und beherrscht all ihre Gedanken und Gefühle. Als sie ein Interview mit der aufstrebenden Bildungssenatorin Anahita Martini führt, stellt sie mit Erstaunen fest, dass diese taffe Frau hinter ihrer perfekten Fassade derselbe Schmerz quält: der Kummer darüber, kein Kind zu haben.
Anahita ist geschieden. Sie stammt aus einer in Deutschland hervorragend integrierten persischen Familie. Seit sie 18 ist, hat sie zielstrebig und ehrgeizig an ihrer Karriere gearbeitet und steht nun kurz davor, Europaabgeordnete in Brüssel zu werden. Ihr Migrationshintergrund ist kein Thema für sie. Sie leidet unter ihrer Einsamkeit und ihrer Kinderlosigkeit, die sie als Schmach empfindet und zu verheimlichen versucht. Ausgerechnet sie, die keine eigene Familie vorzuweisen hat, ist Senatorin für Bildung und Familie?
Ihren beiden Protagonistinnen stellt Jackie Thomae Nebenfiguren an die Seite und eröffnet mit ihren Lebensgeschichten weitere Perspektiven auf die Frage, ob Kinder zum Lebensglück gehören. Da ist Maren, die selber nie Kinder wollte und es zu ihrem Geschäftsmodell gemacht hat, Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch durch Atemtherapie und Meditation zu helfen. Oder Lydia, die Frau von Anahitas Bruder. Sie hat ihren Beruf aufgegeben und widmet sich ihrem Mann und ihren Kindern. Ihr Problem sind die anderen Mütter, diese perfekten Mittelklassemütter in den angesagten Berliner Vierteln, die Jackie Thomae mit vergnüglichem Spott aufs Korn nimmt.
Marie-Claire und Anahita stehen für eine Generation von Frauen, die, vom alten Rollenbild befreit, ihre Karriere verfolgt und sich gleichberechtigt gefühlt haben. Mit Ende 30 werden sie jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass Männer theoretisch bis zu ihrem Lebensende in der Lage sind, Kinder zu zeugen, für sie selbst aber bald Schluss ist mit der Reproduktionsfähigkeit. Die feministische Verheißung, als Frau das eigene Leben frei und selbstbestimmt gestalten zu können, kommt hier an ihre Grenzen. Und potentielle Väter, um doch noch auf den letzten Metern Mutter zu werden, sind in ihrem Alter schwer zu finden, denkt sich Marie-Claire. Der Markt ist fast leergefegt, Männer wollen Jüngere, die Realität ist gnadenlos sozialdarwinistisch. Hat ihre Großmutter doch Recht gehabt? Kommt es für eine Frau vor allem darauf an, rechtzeitig mit dem richtigen Mann eine Familie zu gründen? Hat sie die falschen Ziele verfolgt und versagt?
Im letzten Teil ihres Buches spielt Jackie Thomae mit einer utopischen Idee. Wie wäre es, wenn es eine Pille gäbe, die diese Ungerechtigkeit der Natur ausgleichen und es Frauen ermöglichen würde, ohne Altersgrenze Kinder zu bekommen? Wie könnte sich dann das Leben von Marie-Claire, Anahita und anderen Frauen verändern? Es bleibt offen, ob es sich dabei um eine hoffnungsvolle oder doch eher um eine bedrohliche Zukunftsvision handelt.
Lilly Munzinger, Gauting
Jackie Thomae
„Glück“
Claasen