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1. Ulrich Rüdenauer „Abseits“
2. Clemens Meyer „Die Projektoren“
3. Reinhard Kleist: LOW – David Bowie’s Berlin Years
4. Jackie Thomae „Glück“
5. Ines Geipel „Fabelland“
6. Werner Timm „Meisterwerke – Käthe Kollwitz“
Bilder
Dienstag 18.03.2025
Ulrich Rüdenauer „Abseits“
Ein kleines Dorf im Deutschland der Nachkriegszeit. Eine archaische Welt, in der der Pfarrer mit donnernder Stimme von Furcht und Demut predigt und der Lehrer seine Schüler mit Strafen und Beschimpfungen erzieht. Den Menschen steckt der Krieg noch in den Knochen, es gibt viel Arbeit und wenig Vergnügen, und über die Vergangenheit wird geschwiegen. Hier wächst der fast 9-jährige Richard auf dem Hof seines Onkels auf, zusammen mit Vettern und Cousinen, aber er gehört nicht dazu. Seine Eltern kennt er nicht, er wird geduldet, aber nicht geliebt.
In seinem ergreifenden Debütroman „Abseits“ erzählt der Journalist und Literaturkritiker Ulrich Rüdenauer von einer Kindheit, die eng mit der Zeit- und Ortsgeschichte verwoben ist. Rüdenauer wurde 1971 in Bad Mergentheim in Süddeutschland geboren, und obwohl der Name nie genannt wird, gibt es im Roman doch immer wieder Hinweise darauf, dass die Erzählung in der Nähe dieses Ortes spielt.
In einer Schlüsselszene wird geschildert, wie Richard staunend vor dem Bild steht, das die gute Stube des Bauernhofes schmückt. Zum ersten Mal nimmt er es bewusst wahr. Es zeigt die Mutter Gottes in einem roten Kleid und das lachende Kind auf ihrem Schoß. Umgeben sind beide von Blumen und Bäumen, und vom Himmel schaut der liebe Gott und nicht der strafende Gott des Pfarrers auf sie herab. Für Richard ist es ein Sehnsuchtsbild. Es zeigt die mütterliche Liebe und die Geborgenheit, die er nie erlebt hat, und eine Schönheit, die er aus seinem kargen Alltag nicht kennt. Das Original des Bildes, „Die Stuppacher Madonna“ von Matthias Grünewald - einen kleinen Ausschnitt davon zeigt auch das Cover des Buches - hängt in einer Kirche bei Bad Mergentheim.
Mit feinem Einfühlungsvermögen, in einer intensiven, poetischen Sprache nimmt uns Ulrich Rüdenauer mit hinein in die Erlebniswelt des Kindes. Richard wird als ein sensibler und fantasiebegabter Junge geschildert, doch Onkel und Tante lassen ihn immer spüren, dass er ihnen nur eine Last ist. Geredet wird ohnehin kaum in der Familie, und Richard wird vor allem geschimpft und geschlagen. Sein größter Schmerz ist, dass er nicht ahnt, woher er kommt und zu wem er gehört. Wie soll man ins Leben finden, wenn man nicht weiß, wer man eigentlich ist?
Und doch gibt es für ihn auch Momente von Glück. Zu seinen wenigen „guten Geistern“ gehört vor allem der Großvater. Er geht mit Richard in die Natur, zeigt ihm Tiere und Pflanzen. Ihm kann der Junge von seiner Trauer und seiner Angst erzählen. Und er spricht mit ihm und hört seinen tröstenden Rat auch dann noch, als der Großvater schon nicht mehr lebt. Immer wieder verschwimmen im Roman die Ebenen von Tag und Traum, Realität und Fantasie. In seinem Inneren kann Richard einen Zufluchtsort entstehen lassen, den ihm die Wirklichkeit verwehrt.
Ein Mensch, der es gut mit dem Kind meint, ist auch Herr Adler. In seinem Werkzeugladen darf Richard mithelfen, und zu dem debilen Angestellten mit dem fremdländischen Namen Adam fühlt er sich auf seltsame Weise hingezogen. Herr Adler ist es, der schließlich das Schweigen über Richards Herkunft bricht, ihm von seiner Mutter und seinem Vater erzählt. Es ist eine düstere Geschichte, die in die Kriegsjahre und zu Verbrechen der Nazis führt, und die Richard erst als Erwachsener ganz verstehen wird.
„Abseits“, der Titel des Buches, verweist nicht nur auf Richards Stellung in seiner Familie, sondern auch auf die Welt des Fußballs, der im Roman als Symbol der Hoffnung eine wichtige Rolle spielt. Nach dem „Wunder von Bern“, nachdem im Juli 1954 die deutsche Nationalelf überraschend das Finale der Fußball-WM gewonnen hatte, zogen sich im Herbst einige Spieler zu einer Kur nach Bad Mergentheim zurück. Diese historischen Tatsachen verwebt Rüdenauer im Roman auf fast märchenhafte Weise mit dem Schicksal seines Protagonisten.
Im Moment seiner größten Verzweiflung begegnet Richard im Kurpark des Ortes einem Mann namens Charly, in dem man den Nationalspieler Karl Mai erkennen kann. Charly schenkt dem frierenden Jungen seinen Mantel, ein Motiv, das man aus Heiligenlegenden kennt, und er gibt ihm hoffnungsvolle Worte mit auf den Weg: „Manchmal geschieht etwas, von dem man nicht träumen kann, und später kommt es einem vor wie ein Traum. Nichts ist vorhersagbar. Nicht das Schlechte. Aber auch das Gute nicht. Das Gute geschieht vielleicht sogar öfter…“
Ulrich Rüdenauer hat mit „Abseits“ ein ebenso trauriges wie schönes, aber nie kitschiges Buch geschrieben, das noch lange nachklingt.
Lilly Munzinger, Gauting

Ulrich Rüdenauer
„Abseits“
Berenberg
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Donnerstag 06.03.2025
Clemens Meyer „Die Projektoren“
Es ist ein wuchtiger Roman, den Clemens Meyer mit „Die Projektoren“ vorlegt, in jeder Hinsicht. Sowohl was den Umfang des Buches mit gut 1000 Seiten betrifft, als auch was die Vielseitigkeit der Erzählstränge betrifft. Meyer nimmt den Leser mit auf eine Reise ausgehend vom Thonberg (einem Leipziger Stadtteil, in dem sich über Jahrzehnte eine Psychiatrie befand), hin zum Velebit-Gebirge (einem Höhenmassiv an der Küste Kroatiens), weiter nach Dortmund, es geht vom Jemen bis in den Irak und auch wieder zurück. Meyer lässt einen (Dr.) Karl May in Lendenschurz auftreten, bei dem es sich um den sächsischen Autor von Abenteuerromanen handelt oder auch Lex Barker, der Old Shatterhand-Darsteller in den deutschen Winnetou-Produktionen, der hier aber in einer historisch verbrieften Psychiatrie in eben jenem Thonberg stationär behandelt wird. Es treten Widerstandskämpfer im 2. Weltkrieg auf, die später Komparsen-Rollen in eben jenen Winnetou-Filmen Anfang der 1960er Jahre ausfüllen und Rechtsradikale, die in NRW ihr Unwesen treiben. Es gibt Liebesgeschichten, Kriegsszenen, der Leser wird Zeuge der Massaker in Novi Sad 1942 und den späteren Winnetou-Filmen. Es geht kreuz und quer durch die europäische Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf verschiedenen Zeitebenen, mal in Richtung historischer Abhandlung, mal wähnt man sich mitten in comicartigen Situationen. Hier geben sich Pop- und Hochkultur die Hand, befinden sich scheinbare Paradoxen in einem ständigen Flirt mit-, um und gegeneinander. Alles wirkt wucht- und fantasievoll – aber auch verwirrend. Insofern gerät dieser gewaltige Roman ebenso emotional aufwühlend, wie er auch unernst und teilweise bedeutungsarm daherkommt.
Trotz allem strahlt „Die Projektoren“ in einem gewissen literarischen Charme. Meyer gelingt es, diese auf verschiedenen Zeitebenen spielende Geschichte wie einen Spaziergang, oder sagen wir besser, wie eine Jahrzehnte andauernde schweißtreibende Bergtour durch ein zerklüftetes Europa dazustellen. Eine Wanderung, die ihre Tücken hat, die wunderbare Aussichten bietet, auch faszinierende Visionen beinhaltet - um dann wieder vollste Konzentration zu verlangen und Grausamkeiten zu ertragen. Es gibt etliche Figuren, die der Realität entspringen – die dann aber völlig unhistorisch handeln. Dann wiederum gibt es historische Abhandlungen mit völlig imaginärem Personal.
Meyer macht es mit dieser manchmal skurrilen, manchmal unglaublich spannenden Erzählung dem Leser nicht immer leicht. Und es gibt immer wieder diese Momente, die den Leser etwas hilflos zurücklassen.
Ein historischer Tatsachenroman im Sinne der Aufklärung ist „Die Projektoren“ ganz sicher nicht. Vielleicht das Buch eines manischen Geschichtenerzählers, der alles und jeden in seinen literarischen Teppich geschickt und lesenswert mit einwebt.
Jörg Konrad

Clemens Meyer
„Die Projektoren“
S. Fischer
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Dienstag 21.01.2025
Reinhard Kleist: LOW – David Bowie’s Berlin Years
Kaum zu glauben, dass es bereits drei Jahre her ist seit Illustrator und Comiczeichner Reinhard Kleist seinen ersten Band über David Bowie’s Ziggy Stardust Years veröffentlicht hat. „Starman“ beleuchtete den Aufstieg des Ausnahmekünstlers und die Ziggy Stardust Ära. Nun ist endlich „Low“ erschienen, der zweite und abschließende Teil von Reinhard Kleists David Bowie's Year-Reihe. Erneut ist es ihm gelungen dieses hoch komplexe Kapitel aus Bowies Laufbahn tiefgehend zu ergründen und aufzuzeichnen. Sein Album „Low“ stellt einen markanten Wendepunkt seiner Karriere dar und den Beginn der sogenannten Berlin Trilogie.

Wir schreiben das Jahr 1976, Bowie ist gerade auf dem Höhepunkt seines Schaffens, gleichzeitig verfolgen ihn die Dämonen der Drogen, Stress mit seinem Manager und der nervenaufreibende Starrummel. Vom rastlosen Los Angeles, ohne Ruhe oder einen geeigneten Rückzugsort, führt Bowies Reise nach (West)-Berlin. Jene Stadt, die gestern wie heute ein Schmelztiegel ist für Kunst, Sub(kultur), unzählige Künstler inspiriert und hervorgebracht hat. Zu dieser Zeit endet jeder Ausflug in Berlin irgendwann an einer Mauer. Trotzdem fühlt sich Bowie befreit, das Pulsieren der Stadt und die Szene wirken sich positiv auf sein Schaffen aus, er erfindet sich in dieser Zeit neu und kreiert seinen nach wie vor visionären Sound. Kleists unverwechselbarer Zeichenstil zieht den Leser dabei förmlich in das Berlin der siebziger Jahre. Mit dabei in diesem Abenteuer sind natürlich Romy Haag, Begegnungen mit Mick Jagger, Brian Eno, Edgar Froese von Tangerine Dream und last not least Iggy Pop, mit dem er drei Jahre lang im fünfstöckigen Apartmenthaus in der Hauptstrasse 155 in Schöneberg zusammen lebte. Reinhard Kleists Geschichte ist mehr ein Trip als eine normale Graphic Novel. Gerade wenn man diese Zeit aktiv miterlebt hat stellen sich Flashbacks ein, wie bei Zitaten über die Musik von Kraftwerk, die Bowie seinerzeit mal als Vorgruppe engagieren wollte. Bei seiner Begeisterung für die Gruppen „Neu“ oder „Cluster“ fühlt man sich spontan in die siebziger Jahre zurück katapultiert. Kleist setzt Bowie‘s Berlin Years mit Liebe zum Detail um, vielem ist man seinerzeit selbst begegnet und verschollen geglaubte Erinnerungen tauchen beim Lesen plötzlich wieder auf: zum Beispiel die legendären Hansa Studios in unmittelbarer Nähe der Berliner Mauer, in deren Schatten Zeitgeschichte geschrieben wurde, der illustre Club S.O. 36 oder das wunderbare Brücke Museum.
Das Ganze wurde wieder brillant koloriert von Thomas Gilke, der mit Geschick und Fingerspitzengefühl die einzelnen Sequenzen der Story in atemberaubende Farben taucht.

Low umfasst 176 Seiten, mit einer wunderbaren Bildergalerie am Schluss, ist als Hardcover beim Carlsen Verlag erschienen und kostet in der Normalausgabe 25,-- € .
Zusätzlich erscheint wieder eine limitierte Sonderausgabe mit einem signierten Druck für 59,-- € .
Text: Thomas J. Krebs



Reinhard Kleist
"Low - David Bowie's Berlin Years | David Bowie in Berlin"
Carlsen
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Dienstag 14.01.2025
Jackie Thomae „Glück“
„Sie hatten fünfundzwanzig Jahre Zeit, Mutter zu werden, sehen Sie´s mal so.“ Diesen Satz hört Marie-Claire von Dr. Nonnenmacher, ihrer Frauenärztin. Ein Name, der nichts Gutes verheißt, wenn man sich dringend ein Kind wünscht, denkt Marie-Claire. Kurz vor ihrem 40. Geburtstag ist ihr schlagartig bewusst geworden, dass es bald zu spät ist. Warum ist ihr nicht früher aufgefallen, dass sie unter Zeitdruck steht? Dass sie die einzige wichtige Deadline ihres Lebens im Blick hätte haben müssen, denn das ist es doch eigentlich, was zum Glück gehört: ein Kind.
Vor einigen Jahren machte der Begriff „Regretting motherhood“ Schlagzeilen. Eine soziologische Studie hatte erstmals die Empfindungen von Frauen untersucht, die ihre Mutterschaft bereuen. In Jackie Thomaes Buch „Glück“ geht es um das gegenteilige Phänomen: um Frauen um die 40, die verzweifelt darüber sind, nicht Mutter geworden zu sein und denen nur noch ein kleines Zeitfenster bleibt.
Jackie Thomae erzählt aus wechselnder Perspektive von mehreren Frauen aus Berlin, die miteinander bekannt oder befreundet sind. Trotz des ernsten Themas ist das Buch unterhaltsam und spannend zu lesen. Die Autorin ist eine genaue Beobachterin des wohlhabenden Mittelschichtmilieus, das sie mit Klugheit und pointiertem Witz beschreibt. Ihre Figuren behandelt sie mit Sympathie, aber auch mit einer leicht ironischen Distanz.
Im Mittelpunkt des Romans stehen eine Radiomoderatorin und eine Politikerin, Marie-Claire Sturm und Anahita Martini. Beide sind 39, beruflich sehr erfolgreich und befinden sich in einer tiefgreifenden Lebenskrise. Marie-Claire, unabhängig und selbstbewusst, hat sich in der Medienbranche einen Namen gemacht. Nach mehreren Beziehungen und zwei Abtreibungen ist sie ohne festen Partner und meint nun zu erkennen, dass ihre bisherigen Lebensentscheidungen falsch waren. Das Verlangen nach einem Kind ist übermächtig und beherrscht all ihre Gedanken und Gefühle. Als sie ein Interview mit der aufstrebenden Bildungssenatorin Anahita Martini führt, stellt sie mit Erstaunen fest, dass diese taffe Frau hinter ihrer perfekten Fassade derselbe Schmerz quält: der Kummer darüber, kein Kind zu haben.
Anahita ist geschieden. Sie stammt aus einer in Deutschland hervorragend integrierten persischen Familie. Seit sie 18 ist, hat sie zielstrebig und ehrgeizig an ihrer Karriere gearbeitet und steht nun kurz davor, Europaabgeordnete in Brüssel zu werden. Ihr Migrationshintergrund ist kein Thema für sie. Sie leidet unter ihrer Einsamkeit und ihrer Kinderlosigkeit, die sie als Schmach empfindet und zu verheimlichen versucht. Ausgerechnet sie, die keine eigene Familie vorzuweisen hat, ist Senatorin für Bildung und Familie?
Ihren beiden Protagonistinnen stellt Jackie Thomae Nebenfiguren an die Seite und eröffnet mit ihren Lebensgeschichten weitere Perspektiven auf die Frage, ob Kinder zum Lebensglück gehören. Da ist Maren, die selber nie Kinder wollte und es zu ihrem Geschäftsmodell gemacht hat, Frauen mit unerfülltem Kinderwunsch durch Atemtherapie und Meditation zu helfen. Oder Lydia, die Frau von Anahitas Bruder. Sie hat ihren Beruf aufgegeben und widmet sich ihrem Mann und ihren Kindern. Ihr Problem sind die anderen Mütter, diese perfekten Mittelklassemütter in den angesagten Berliner Vierteln, die Jackie Thomae mit vergnüglichem Spott aufs Korn nimmt.
Marie-Claire und Anahita stehen für eine Generation von Frauen, die, vom alten Rollenbild befreit, ihre Karriere verfolgt und sich gleichberechtigt gefühlt haben. Mit Ende 30 werden sie jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass Männer theoretisch bis zu ihrem Lebensende in der Lage sind, Kinder zu zeugen, für sie selbst aber bald Schluss ist mit der Reproduktionsfähigkeit. Die feministische Verheißung, als Frau das eigene Leben frei und selbstbestimmt gestalten zu können, kommt hier an ihre Grenzen. Und potentielle Väter, um doch noch auf den letzten Metern Mutter zu werden, sind in ihrem Alter schwer zu finden, denkt sich Marie-Claire. Der Markt ist fast leergefegt, Männer wollen Jüngere, die Realität ist gnadenlos sozialdarwinistisch. Hat ihre Großmutter doch Recht gehabt? Kommt es für eine Frau vor allem darauf an, rechtzeitig mit dem richtigen Mann eine Familie zu gründen? Hat sie die falschen Ziele verfolgt und versagt?
Im letzten Teil ihres Buches spielt Jackie Thomae mit einer utopischen Idee. Wie wäre es, wenn es eine Pille gäbe, die diese Ungerechtigkeit der Natur ausgleichen und es Frauen ermöglichen würde, ohne Altersgrenze Kinder zu bekommen? Wie könnte sich dann das Leben von Marie-Claire, Anahita und anderen Frauen verändern? Es bleibt offen, ob es sich dabei um eine hoffnungsvolle oder doch eher um eine bedrohliche Zukunftsvision handelt.
Lilly Munzinger, Gauting

Jackie Thomae
„Glück“
Claasen
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Mittwoch 08.01.2025
Ines Geipel „Fabelland“
Ines Geipels „Fabelland“ erschien vor dem politisch unrühmlichen, aber nachvollziehbaren Ende der bundesrepublikanischen Dreierkonstellation – als Regierungskoalition auch kurz „ die Ampel“ genannt. „Fabelland“ erschien auch vor dem erschütterndem Anschlag eines scheinbar Verblendeten/Psychopathen/Mörders, der auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt für eine unsagbare Katastrophe sorgte. Direkt hat „Fabelland“ mit diesen beiden Geschehen nichts zu tun – indirekt hingegen schon. Denn Ines Geipel beschäftigt sich nicht erst seit „Fabelland“ mit den Themen innerdeutscher Politik, deren Ursachen und Auswirkungen. Es ist das mittlerweile sechste Buch, neben Textsammlungen, Biographien und Sachbüchern, in dem sich die deutsche Schriftstellerin, Publizistin und Hochschullehrerin intensiv mit der einstigen DDR auseinandersetzt. Wie kaum eine andere Autorin legt sie dabei den Finger tief in die Wunde dessen, was 1989 als ein Glücksfall in die Geschichte eingegangen ist und mit dem wir uns heute aufgrund einer ausufernden Radikalisierung erneut auseinandersetzen müssen. Denn Freiheit und Demokratie werden besonders von politisch rechtsnationalen Strömungen bedroht, so dass Rassismus, Antisemitismus und immense Fremdenfeindlichkeit wieder auf der Tagesordnung stehen.
Geipels Hauptaugenmerk liegt in „Fabelland“ im Bereich der ungenügenden historischen Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Wären, neben dem verständlichen Freudentaumel 1989, ernsthaft und allumfassend die politischen Strukturen der SED-Diktatur kritisch analysiert worden, anstatt die bestehende ostdeutsche Wirtschaft kontinuierlich zu zerschlagen, wäre der Weg der Einheit ein anderer gewesen und die Nachwirkungen von insgesamt 59 Jahren Diktatur(!!!) mit Sicherheit um einiges positiver.
Etliches bei der (oberflächlichen) Vergangenheitsbewältigung innerhalb der DDR nach 1989 erinnerte an die Aufarbeitung der Nazidiktatur, für die das ostdeutsche Land als Staat sich nie wirkliche verantwortlich fühlte. Denn mit der Gründung der DDR im Jahre 1949 blendete man jegliche Schuldfrage und Rechenschaft von vornherein aus.
Die heute an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst lehrende einstige Leistungssportlerin verweist aber auch auf die schmerzvolle und konfliktreiche Vergangenheitsbewältigung im Westen nach 1945. Erst mit den Studentenausschreitungen 1968 wurde sich mit den Themen des Nationalsozialismus intensiver und vor allem individueller auseinandergesetzt.
Der Osten gab den Altnazis, die natürlich auch in der sowjetisch besetzten Zone an neuen Karrieren arbeiteten, bis auf ganz wenige Ausnahmen, einen „Persilschein“, erklärten sich sogar zu den Siegern der Geschichte und bauten mit ihrer Hilfe und ihrer Erfahrung die nächste Diktatur auf.
Dass nach 1989 rechte Ressentiments greifen konnten, lag auch an den spürbaren Veränderungen, die sich nach der Wiedervereinigung in Industrie und Wirtschaft vollzogen. Denn der Aufbau der Demokratie im Osten ging 1989 für viele mit dem Verlust der eigenen Arbeitsplätze einher und damit mit der Angst um die eigene Existenz. Die Demokratisierung des Westens war hingegen in den 1950er Jahren eng mit neuen Arbeitsmöglichkeiten und dem damit einhergehenden (west-)deutschen Wirtschaftswunder verbunden.
Insofern hatten die kommunistischen Altkader der einstigen DDR, die auch 1989 untereinander noch immer gut vernetzt waren, leichtes Spiel, Unmut in der Bevölkerung zu säen und eine latente Unzufriedenheit zu fördern. Denn was hilft die Reisefreiheit, wenn sich die Menschen diese nicht leisten können? Der Opfermythos begann Blüten zu treiben und der Leitsatz lautete (bis in unsere Tage): Es war doch früher alles nicht so schlimm.
Von dieser Befindlichkeitslage aus Unzufriedenheit, Widerspruch und Trotz, ist es nur ein kleiner Schritt, sich hinter gefährlichen Dämagogen und Populisten zu versammeln und mit diesen gemeinsam störend wie destruktiv auf die Gesellschaft einzuwirken.
Gleichzeitig gelingt es den etablierten Volksparteien nicht, gegen diese negative Entwicklungen konstruktiv vorzugehen, sich im Sinne einer gemeinsamen Aufklärung zu positionieren, eine Vergangenheitsbewältigung funktional aufzubauen und effektiv voranzubringen. Stattdessen scheitert jede gewinnbringende und zielführende Zusammenarbeit untereinander aufgrund narzistischer Nabelschau und parteiinterner Machtkämpfe.
All diese Entwicklungen fasst Ines Geipel griffig und verständlich zusammen. „Fabelland. Der Osten, der Westen, der Zorn und das Glück“ ist zugleich ein nachdenklich machender Text, dem inhaltlich nicht an jeder Stelle empirische Studien zugrunde liegen. Der jedoch aufgrund genauer Beobachtung und Überlegung komplizierte Zusammenhänge und Gefühlslagen stimmig auf den Punkt bringt. Sollten Spätgeborene die Fragen aufwerfen, wie das Staats-Konstrukt DDR aufgebaut, wie dieser Unrechtsstaat organisiert war und welche Auswirkungen er nach der Wiedervereinigung 1989 auf das gesamtgesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland hat, so sind Ines Geipels Bücher als Orientierungshilfe wärmstens zu empfehlen.
Jörg Konrad

Ines Geipel
„Fabelland“
S. Fischer
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Mittwoch 04.12.2024
Werner Timm „Meisterwerke – Käthe Kollwitz“
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In Berlin gibt es ein Museum unter ihrem Namen, Straßen und Schulen in Deutschland sind nach ihr benannt: Käthe Kollwitz. Als Grafikerin, Malerin und Bildhauerin gehört sie zu den bekanntesten deutschen Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts.
Geboren 1867 in Königsberg, gelebt und gearbeitet in Berlin, München und Paris, gestorben 1945 in Moritzburg bei Dresden, ist ihre künstlerische Qualität und die zutiefst humanistische Haltung ihr besonderes Merkmal. Kämpferische Arbeiten wie die Kreide- und Pinsellithographien „Nie wieder Krieg!“, „Nieder mit dem Abtreibungs-Paragraphen“ oder „Die Überlebenden – Krieg dem Krieg!“ haben eindeutig gesellschaftspolitischen Charakter.
Insofern ist es nur logisch, dass der Verlag Schirmer/Mosel in der Reihe „Große Künstlerinnen der Gegenwart“ den Band „Meisterwerke – Käthe Kollwitz“ neu auflegt. Werner Timm, Leiter der Ostdeutschen Galerie in Regensburg hat für dieses Buch einen einführenden und einfühlenden Essay unter dem Titel „Ich will wirken in dieser Zeit“ geschrieben.
Käthe Kollwitz wollte mit ihrer Kunst nicht nur anregen, sondern auch evozoiren, indem sie einen Teil der gesellschaftlichen Realität in ihren Werken verarbeitete - entgegen der zeitgenössischen Avantgarde. Ihre Arbeiten dokumentieren klar und klagen Stellung beziehend zugleich soziale Ungerechtigkeiten an. Ihre Bilder zeigen Leid und Elend und wirken in ihrer Darstellung oft düster. Hier finden (oft selbst erlebte) Angst, Schmerz und Trauer einen existenziellen Ausdruck.
Käthe Kollwitz nahm Kunstunterricht bei dem Maler Gustav Naujok und dem Kupferstecher Rudolf Mauer und besuchte anschließend in Berlin die Damenakademie des Vereins der Berliner Künstlerinnen.
Sie lernte Gerhard Hauptmann und Arno Holz kennen, engagierte sich früh politisch und drückte entsprechend schon in jungen Jahren in ihren Arbeiten gesellschaftlich relevante Themen und Überzeugungen in einer formalen Gestaltung aus. So entstanden anfangs Radierungen und Lithographien zu Hauptmanns Theaterstück „Die Weber“, die, wie auch der Zyklus „Bauernkrieg“ in Berlin für großes Aufsehen sorgten. Max Liebermann und Adolph Menzel, die damals bekanntesten deutschen Maler, erkannten sofort ihre Begabung und förderten sie nach Kräften.
Kollwitz suchte nach politischen Ausdrucksformen, wobei dieses Engagement nach dem Tod einer ihrer beiden Söhne 1914 in der Flandernschlacht zunahm.
Sie wurde Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und übernahm 1928 die Leitung des Meisterateliers für Grafik. Die Nazis zwangen sie 1933 zum Austritt aus der Preußischen Akademie ein indirektes Ausstellungsverbot hielt sie jedoch nicht von intensiver künstlerischer Arbeit ab.
Vielleicht kann man eine Notiz aus dem Jahre 1920 als ihr Oevre, ihren persönlichen Motor in der Umsetzung von Kunst bezeichnen: „Ich hab als Künstler das Recht, aus allem den Gefühlsgehalt herauszuziehn, auf mich wirken zu lassen und nach außen zu stellen.“
Jörg Konrad

Werner Timm
„Meisterwerke – Käthe Kollwitz“
Schirmer/Mosel

Abbildungen:

- Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden, 1942,?
Lithographie
courtesy Schirmer/Mosel

- Kopf eines Kindes in den Händen der Mutter, 1900,?
Bleistift
© Photo Elke Estel, Staatliche Kunstsammlungen Dresden

- Ruf des Todes, 1934/35,
Lithographie
© Photo Wolfgang Schmidt, Regensburg
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Autor: Siehe Artikel
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