In seinem ergreifenden Debütroman „Abseits“ erzählt der Journalist und Literaturkritiker Ulrich Rüdenauer von einer Kindheit, die eng mit der Zeit- und Ortsgeschichte verwoben ist. Rüdenauer wurde 1971 in Bad Mergentheim in Süddeutschland geboren, und obwohl der Name nie genannt wird, gibt es im Roman doch immer wieder Hinweise darauf, dass die Erzählung in der Nähe dieses Ortes spielt.
In einer Schlüsselszene wird geschildert, wie Richard staunend vor dem Bild steht, das die gute Stube des Bauernhofes schmückt. Zum ersten Mal nimmt er es bewusst wahr. Es zeigt die Mutter Gottes in einem roten Kleid und das lachende Kind auf ihrem Schoß. Umgeben sind beide von Blumen und Bäumen, und vom Himmel schaut der liebe Gott und nicht der strafende Gott des Pfarrers auf sie herab. Für Richard ist es ein Sehnsuchtsbild. Es zeigt die mütterliche Liebe und die Geborgenheit, die er nie erlebt hat, und eine Schönheit, die er aus seinem kargen Alltag nicht kennt. Das Original des Bildes, „Die Stuppacher Madonna“ von Matthias Grünewald - einen kleinen Ausschnitt davon zeigt auch das Cover des Buches - hängt in einer Kirche bei Bad Mergentheim.
Mit feinem Einfühlungsvermögen, in einer intensiven, poetischen Sprache nimmt uns Ulrich Rüdenauer mit hinein in die Erlebniswelt des Kindes. Richard wird als ein sensibler und fantasiebegabter Junge geschildert, doch Onkel und Tante lassen ihn immer spüren, dass er ihnen nur eine Last ist. Geredet wird ohnehin kaum in der Familie, und Richard wird vor allem geschimpft und geschlagen. Sein größter Schmerz ist, dass er nicht ahnt, woher er kommt und zu wem er gehört. Wie soll man ins Leben finden, wenn man nicht weiß, wer man eigentlich ist?
Und doch gibt es für ihn auch Momente von Glück. Zu seinen wenigen „guten Geistern“ gehört vor allem der Großvater. Er geht mit Richard in die Natur, zeigt ihm Tiere und Pflanzen. Ihm kann der Junge von seiner Trauer und seiner Angst erzählen. Und er spricht mit ihm und hört seinen tröstenden Rat auch dann noch, als der Großvater schon nicht mehr lebt. Immer wieder verschwimmen im Roman die Ebenen von Tag und Traum, Realität und Fantasie. In seinem Inneren kann Richard einen Zufluchtsort entstehen lassen, den ihm die Wirklichkeit verwehrt.
Ein Mensch, der es gut mit dem Kind meint, ist auch Herr Adler. In seinem Werkzeugladen darf Richard mithelfen, und zu dem debilen Angestellten mit dem fremdländischen Namen Adam fühlt er sich auf seltsame Weise hingezogen. Herr Adler ist es, der schließlich das Schweigen über Richards Herkunft bricht, ihm von seiner Mutter und seinem Vater erzählt. Es ist eine düstere Geschichte, die in die Kriegsjahre und zu Verbrechen der Nazis führt, und die Richard erst als Erwachsener ganz verstehen wird.
„Abseits“, der Titel des Buches, verweist nicht nur auf Richards Stellung in seiner Familie, sondern auch auf die Welt des Fußballs, der im Roman als Symbol der Hoffnung eine wichtige Rolle spielt. Nach dem „Wunder von Bern“, nachdem im Juli 1954 die deutsche Nationalelf überraschend das Finale der Fußball-WM gewonnen hatte, zogen sich im Herbst einige Spieler zu einer Kur nach Bad Mergentheim zurück. Diese historischen Tatsachen verwebt Rüdenauer im Roman auf fast märchenhafte Weise mit dem Schicksal seines Protagonisten.
Im Moment seiner größten Verzweiflung begegnet Richard im Kurpark des Ortes einem Mann namens Charly, in dem man den Nationalspieler Karl Mai erkennen kann. Charly schenkt dem frierenden Jungen seinen Mantel, ein Motiv, das man aus Heiligenlegenden kennt, und er gibt ihm hoffnungsvolle Worte mit auf den Weg: „Manchmal geschieht etwas, von dem man nicht träumen kann, und später kommt es einem vor wie ein Traum. Nichts ist vorhersagbar. Nicht das Schlechte. Aber auch das Gute nicht. Das Gute geschieht vielleicht sogar öfter…“
Ulrich Rüdenauer hat mit „Abseits“ ein ebenso trauriges wie schönes, aber nie kitschiges Buch geschrieben, das noch lange nachklingt.
Lilly Munzinger, Gauting
Ulrich Rüdenauer
„Abseits“
Berenberg
„Abseits“
Berenberg