Yann Tiersen be- und umschreibt auf seinem neuen, zweigeteilten Album sehr unterschiedliche Gefühlszustände. Da ist zum einen der meditativ reflektierende Teil seiner Selbst, eine Art emotionales Füllhorn unerhörter Sensibilität und zum anderen ein vorwärtstreibendes musikalisches Statement, das gesellschaftliche Umbrüche zum Ausdruck bringen soll.
Ursprung für den ersten Zyklus von acht kontemplativen Kompositionen sind die Erlebnisse eines Segeltörns, den der Franzose 2023 unternahm. Die Reise führte ihn vom Fastnet-Leuchtturm im Atlantik, über die Färöer Inseln und die Shetland-Inseln, bis hin zu den ruhigen Gewässern des Caledonian Canal in Schottland. Insofern könnte man die acht Klavierstücke von „Rathlin from a Distance“ auch als gefühlte Klanglandschaften bezeichnen, die einerseits die visuellen Eindrücke dieser Seereise beinhalten, andererseits den Seelenzustand des Seefahrers tiefgründig reflektieren. Tiersen scheint mit der Natur eins zu sein, sich in ihr aufzulösen, ja den Naturgewalten regelrecht zu schmeicheln.
Der zweite Zyklus „The Liquid Hour“ ist sowohl inhaltlich als auch klanglich ein akustischer Bruch. Hier findet der bretonische Multiinstrumentalist zu seinen kämpferischen Wurzeln, indem er mit elektronischen Equipment und pulsierenden Rhythmen eine ganz persönliche, individuelle Haltung zum Ausdruck bringt. Diese fünf Stücke sind für Tiersen eine „Sammlung von Hymnen an die Revolution“, ein Eintreten für jedwede Veränderung sozialer und damit gesellschaftlicher Normen. Es geht ihm um einen Wandel, um ein Überwinden von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, wie auch um die Verinnerlichung von Möglichkeiten, derartiges Aufbegehren gemeinschaftlich zu realisieren. Natürlich klingen diese Auseinandersetzungen bei ihm wenig nach klanglicher Avantgarde oder akustischem Freiheitskampf. Er bleibt sich in der Umsetzung „seiner Revolution“ musikalisch treu. Es ist eher eine aufwühlende und aufbrausende Dramaturgie zu spüren, als dass „The Liquid Hour“ nach einer Kakophonie des Untergangs klingt. Tiersen ist und bleibt in der Umsetzung seiner Klangideen Ästhet – auch dann, wenn er die Revolution beschwört.
Jörg Konrad
Yann Tiersen
„Rathlin from a Distance | The Liquid Hour“
Mute Records