KEIN TIER. SO WILD.
Ab 08. Mai 2025 im Kino
Shakespeares Tragödie von Richard III. neu erzählt: Zwei hohe Häuser, die arabischen Großfamilien York und Lancaster, haben den Krieg von den Straßen Berlins in den Gerichtssaal getragen. Rashida ist die jüngste Tochter und Anwältin des Hauses York. Heute beendet sie den Jahre alten Bandenkonflikt mit einem blutigen Anschlag auf die Köpfe des Lancaster Clans. Endlich Frieden! Aber als Frau ist Rashida in dieser Welt der Männer nur Spielball. Im Frieden der Gangster ist sie zum Gehorsam verdammt. Schwester, ja. Tochter, klar. Nur Königin, das wird sie nie. Doch
Rashida will nicht gehorsam sein. Sie will herrschen. Will sie die Krone, muss Rashida intrigieren, muss sie Feinde verführen und Geliebte töten… Dann, auf dem Höhepunkt der Macht, wird Rashida von der Gewalt eines ganz anderen Krieges eingeholt. Sie findet sich in ihr Innerstes
zurückgeworfen: Erinnerungen an eine Kindheit unter Bomben. Ein Garten aus Einsamkeit und Zerstörung. Spiegel einer verletzen Seele. Rashida… Herrscherin über ein Königreich aus Staub und Dreck.
Fünf Jahre nach seiner furiosen Adaption von Berlin Alexanderplatz kehrt Burhan Qurbani mit einer Regiearbeit zurück, die William Shakespeares „Richard III“ völlig neu interpretiert und in das Berlin von heute verlegt. Atmosphärisch dicht, inhaltlich intensiv, visuell streng und mit präzis
geschliffenen Dialogen führt KEIN TIER. SO WILD. in eine Welt, die vertraut erscheint und doch eigen und fremdartig ist: Mitten hinein in einen unerbittlich geführten Krieg zweier arabischstämmiger Familien, in dem sich die jüngste Tochter der einen mit Intrigen und Morden ihren Weg brutal und ohne Rücksicht auf Verluste nach oben bahnt – um schließlich einen hohenPreis dafür zu bezahlen.
Die Hauptrolle der Rashida York spielt Kenda Hmeidan, an ihrer Seite stehen Verena Altenberger, Hiam Abbass, Mona Zarreh Hoshyari Khah, Mehdi Nebbou, Meriam Abbas und Banafshe Hourmazdi vor der Kamera von Yoshi Heimrath. Das Drehbuch schrieb Burhan Qurbani
gemeinsam mit der gefeierten und vielfach ausgezeichneten Autorin Enis Maci. Für die Filmmusik ist Dascha Dauenhauer verantwortlich, die bereits die Musik zu Berlin Alexanderplatz komponierte und dafür mit dem Deutschen Filmpreis und dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde.
KEIN TIER. SO WILD. ist eine Produktion von Sommerhaus Filmproduktion (Jochen Laube, Fabian Maubach, Sophie Cocco, Leif Alexis), als Koproduzenten sind Madants, Getaway, ZDF (verantwortlicher Redakteur: Burkhard Althoff), ARTE (Holger Stern, Claudia Tronnier) und ARTE
France Cinéma in Zusammenarbeit mit The Dreaming Sheep Company, Grupa Moderator und ARTE France beteiligt. Gefördert wurde die Produktion vom Medienboard Berlin-Brandenburg, der Film- und Medienstiftung NRW, der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Filmförderungsanstalt, dem Deutschen Filmförderfonds, Eurimages - European Cinema Support Fund und dem Polish Film Institute.
In die deutschen Kinos kommt KEIN TIER. SO WILD. am 8. Mai 2025 im Verleih von Port au Prince Pictures. Den Weltvertrieb hat Goodfellas übernommen.
Ein Film von Burhan Qurbani
Mit Kenda Hmeidan, Verena Altenberger, unter Mitwirkung von Hiam Abbass, Mona Zarreh Hoshyari Khah, Mehdi Nebbou, Meriam Abbas und Banafshe Hourmazdi
Der Beginn vor dem BeginnVorhang auf. Am Anfang – eine Erinnerung: Vier Mädchen spielen in einer wüsten Gebirgslandschaft Theater. Sie inszenieren ein kindliches Königsdrama. Nur Rashida, die wildeste und wütendste von ihnen, will nicht spielen. Sie will gewinnen. Doch das Spiel wird jäh beendet
durch einen Bombenangriff auf ein nahegelegenes Dorf.
Heute, in einem Gerichtssaal in Berlin. Rashida (KENDA HMEIDAN) ist Anwältin und die jüngste Schwester des York Clans, der gegen den Clan der Lancasters um die Vorherrschaft in Neukölln kämpft. Vor Gericht verteidigt sie ihren des Mordes angeklagten Bruder Ghazi (CAMILL JAMMAL) und tötet bei einem brutalen Anschlag in der Vorhalle des Gerichtssaals die Köpfe der Lancasters. Endlich Frieden!
Der Krieg ist gewonnenImad (MEHDI NEBBOU), der älteste Bruder der Yorks, verkündet diesen Traum vom Frieden bei einer Siegesfeier vor Freund und Feind. Er will die Yorks und die Lancasters einen. Die Ehe von Rashida mit einem Lancaster, ein gemeinsamer Nachkomme, sollen den Frieden zementieren.
Findet zumindest Imads Frau Elisabet (VERENA ALTENBERGER), die Strippenzieherin hinter dessen Rücken – eine Deutsche, die sich in den Clan eingeheiratet hat. Findet auch Rashidas Mutter (MERIAM ABBAS), auf Tradition bedacht. Findet aber nicht Rashida. Sie will nicht
gehorsam sein. Sie will herrschen. Will die Macht. Warum? Weil sie es kann. Angetrieben auch von ihrer Leidenschaft für die schwangere Ghanima (MONA ZARREH HOSHYARI KHAH), die Witwe von Umar Lancaster (HASSAN AKKOUCH), den sie im Gericht ermordete. An Rashidas Seite: immer ihre getreue Vertraute Mishal (HIAM ABBASS), die seit ihren Kindertagen alles für sie tut.
Der Pfad zum GipfelRashida schickt Mishal, Ghazi im Tower zu töten, und verfolgt per Handy, wie ihr Bruder in der Badewanne ertränkt wird. Am nächsten Morgen erscheint sie auf der Baustelle des Clans, auf der Elisabet eine Moschee errichten will. Vor Elisabet und ihrem Bruder Imad willigt sie in die Ehe mit Ali Lancaster ein. Nur um im gleichen Moment die Nachricht zu erhalten, dass ihr geliebter Bruder Ghazi tot ist. Ihrem Bruder Imad stellt sie es als Selbstmord dar – untröstlich und gebrochen ertränkt er seine Schuld in Drogen und Huren. In der ersten Liebesnacht mit Ghanima erreicht
Rashida eine Nachricht ihres Bruders, der sich vor Selbstmitleid verzehrt und vergiftet. Fast ist Rashida am Ziel.
Fleisch und BlutDie Macht liegt nun in den Händen des Kronprinzen der Yorks, Imads und Elisabets Sohn Samir (AARON KISSIOV). Nur er und sein Bruder Nael (PHILEAS HEYBLOM) trennen Rashida noch vom Thron. Kühn treibt sie ihren Plan voran. Während ihre Mutter sich von ihr lossagt und sich mit
Elisabet verbündet, sieht Rashida ihren Schachzug voraus und lässt Elisabets Brüder (ENNO TREBS, THEO TREBS) als Verräter im Tower einkerkern. Nun muss sie nur noch Samir in die richtigen Bahnen lenken…
Sand und Dreck… und das Reich gehört ihr. Doch Rashida überspannt den Bogen…
DIE FIGUREN
CLAN YORK
Rashida York: Als Frau zu weniger-als bestimmt, von der Mutter ungeliebt, ehrgeizig und wild, Anwältin der Familie, ledig.
Mishal: Rashidas Ziehmutter, treuergebene Amme der Yorks, versteht zwar Deutsch, spricht aber nur arabisch.
Imad York: Alkoholkranker Gangsterboss, ältester Bruder, ist der Kämpfe müde und auf Versöhnung aus.
Ghazi York: Jüngerer Bruder, biederte sich bei den Lancasters an, ließ den eigenen Vater ins offene Messer laufen, sehnt sich nach Vergebung im Schoße der Familie.
Qamar York: Verbitterte Witwe, von Rashidas Geburt traumatisiert und zerstört, liebt alle anderen mehr.
Elisabet York: Löwenmutter, Erbin eines deutschen Schrottimmobilienimperiums, geliebte und treuliebende Frau Imads
Samir York: Ältester Sohn Imads, Schweizer Internatsschüler, legitimer Nachfolger seines Vaters.
Nael York: Jüngerer Sohn Imads, spitzfindig und scharfzüngig, ein liebenswertes Kind.
Franz und Reinhold Müller: Elisabets geliebte Brüder, ihre moralischen Stützen.
Khalifa: Straßenkind, Vertraute Mishals, sich selbst aber am nächsten.
Brakenbury: Ein Bär von einem Mann, eher zwischen den Fronten, Schiedsmann der Yorks.
CLAN LANCASTER
Uthman Lancaster: Bald totes Oberhaupt des Lancaster-Clans.
Umar Lancaster: Bespucker und Schläger von Frauen, Ehemann Ghanimas.
Asifa Lancaster: Frau des Uthman, Mutter des Umar, bald schon rachsüchtige Witwe.
Ghanima Lancaster: Schwiegertochter von Uthman und Asifa, jung mit dem Schläger Umar Lancaster Verheiratete, jetzt unverhofft Verwitwete.
Ali Lancaster: Cousin Umars, designiertes neues Oberhaupt der Lancaster, möglicher Bräutigam für eine York-Frau.
Ismail Ibn’Ibrahim: Ein gedungener Mörder der Lancaster
EIN GESPRACH MIT REGISSEUR BURHAN QURBANI UND CO-DREHBUCHAUTORIN ENIS MACI
Herr Qurbani, was war die Initialzündung für diesen Film?Ich war nach der Premiere meines letzten Films, Berlin Alexanderplatz, auf dem Weg in ein tiefes Loch. Das wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass auf den Premierenapplaus im Berlinale-Palast keinen Monat später die erdrückende Stille des ersten Corona-Lockdowns folgte. Wie so viele von uns habe ich in dieser Zeit nicht viel tun können. Erst war ich dankbar für diese erzwungene Auszeit, aber dann wurde die innere Dunkelheit richtig schlimm, die Wände der eigenen Wohnung unerträglich eng. In dieser Zeit bin ich auf Instagram über ein Foto gestolpert, das in mir ganz viel ausgelöst hat: ein Bild der Fotojournalistin Tanya Habjouqa. Darauf waren mehrere Mädchen zu sehen, die sich auf ein Theaterstück vorbereiteten: Eine wüste Berglandschaft. Ein Mädchen hat sich schon geschminkt, mit Lippenstift ein großes rotes Herz auf der Wange – wie eine Ansage.
Ein anderes Mädchen drapiert eine goldene Krone auf ihrem Kopftuch und checkt im Spiegel, ob der königliche Kopfschmuck richtig sitzt. Das geschminkte Mädchen schaut grimmig, als gehöre die Krone eigentlich ihr…
BQ: Das hat mich total berührt und eine Fantasie aufgemacht. Ich dachte: Das muss Shakespeare sein, was die Mädchen da proben, oder? Nein – sie machen Richard III. Am Ende dieser Assoziationskette stand der Gedanke: Wie wäre es, wenn ich diesen Richard III. hier in Berlin, aber mit einer arabischen Frau als Hauptfigur umsetze? Das war im Frühjahr 2020.
Frau Maci, wie haben Sie reagiert, als Burhan Qurbani
Sie ansprach?EM: Ich habe zuerst noch einmal Richard III. gelesen. Das Stück ist zum einen ein Propagandastück, das nachträglich den Sieg des Hauses Lancaster über das Haus York gleichsam moralisch legitimieren soll. Aus den Lancasters werden später die Tudors, zu denen auch Elisabeth I. gehörte.
Zum anderen ist es ein Stück über die Verformung, die aus der Macht kommt. Bei Heiner Müller heißt es über die DDR-Nomenklatura: „Die ersten Gefangenen des Systems sind die Führer, die herrschende Schicht ist die unterdrückte.“ Und das gilt für meine Begriffe nicht nur für Richard,
sondern für alle Figuren des Stücks. Was Richard von den anderen aber unterscheidet: Seine Verformung kommt nicht aus dem Bürgerkrieg. Sie geht ihm voraus. Im Krieg aber spielt sie keine Rolle. Seine Hässlichkeit ist in dieser Zeit sozusagen unsichtbar gewesen. Er will keinen Frieden,
sondern dass die Gewalt immer weiter geht, weil er ihr nichts anderes entgegensetzen kann. Die Intrigen und Lügen, die Morde und die Verzweiflung: Er genießt das alles sogar. Er ist ein absolut schamloser Bösewicht. Ich fand es sofort einleuchtend, Richard als Frauenfigur zu erzählen, eine Welt zu zeichnen, in der das Frausein selbst eine Deformation ist, ein unüberwindlicher Makel.
Was ich auch wichtig finde: Der Adel in Richard III. IST der Staat. Er trägt die absolute Macht, die reine Staatsgewalt, gleichsam im Körper. Sie wird legitimiert durch Gottes Gnaden. Die Religion ist eine Funktion der Macht. Auch dafür wollten wir eine Entsprechung finden, für diese Konzentration von Herrschaft ohne kontrollierende Institutionen. Natürlich sind die Lancasters und die Yorks nichts anderes als Gangster, die mit dem Leben anderer Leute hantieren als wär‘s nix. Und das in dem ständigen Wissen, jederzeit selbst dran sein zu können.
Sie kannten einander nicht. Wie haben Sie sich angenähert? Und wie genau sah Ihre Zusammenarbeit aus?BQ: Ich wusste, dass ich mit den Dialogen von Shakespeare arbeiten wollte, aber alle Übersetzungen, die ich kannte, waren schon älter und alle von Männern aus einer anderen Zeit gemacht worden. Ich hatte im Jahr davor einen Text für das Theater in Dortmund geschrieben und den dortigen Chefdramaturgen, Michael Eickhof, gefragt, ob er jemand kennt, der oder die mit mir Richard III. übersetzen könnte. Enis war ganz oben auf seiner Liste. Ich habe mir Enis’ Essayband „Eiscafé Europa“ gekauft – und verschlungen. Enis’ Sprache und der Pfad ihrer Gedanken haben
mich total gepackt. Und obwohl das ein wenig crazy war, habe ich sie angeschrieben. Wir haben uns getroffen… und naja, nun feiert der Film Premiere auf der Berlinale.
EM: Ich würde sagen, wir haben uns über den Text angenähert. Wir haben gelesen, gesprochen, versucht zu verstehen, was das alles für uns heute bedeutet. Das Stück ist kein psychologischer Stoff. Shakespeare versucht nicht, Richards Handeln als plausibel darzustellen. Richard ist böse zur Welt gekommen. Er hat eine Lust an der Vernichtung. Er will, dass die Welt leer und nichtig wird, wie sein Inneres. Aber was bedeutet das? Will er Rache? Wofür? WARUM handelt Richard so? Das Stück lässt da eine Leerstelle, die eigentlich ein Abgrund ist. Und da liegt sie verborgen, die Verletzung, die nicht zu heilen ist. Die aus einem Vorher kommt, vor den Zuschreibungen, vor der Gewalt. WOHER also kommt sie? Um diese Frage kreist der Film.
BQ: Gerade diese Gespräche haben mir als Regisseur sehr geholfen, dem Stoff und vor allem der Hauptfigur näher zu kommen. Lesen, reden und sich am Text abarbeiten. Motivation und Psychologie durchkauen. Den historischen Kontext verstehen, denselben einordnen und Parallelen finden. Das klingt sehr verkopft, aber das hat in dieser Anfangszeit so eine Art Grundstein für die weitere Entwicklung gelegt. Bald hat Enis angefangen, einzelne Szenen in ihrer Sprache ins Deutsche zu übersetzen. Das war meist der nackte Dialog. Den hab ich genommen und ein Drehbuch drumherum gebaut: Plot, Atmosphere, Mis en Scéne.
Was genau hat Sie an Shakespeare interessiert? Warum „Richard III.“?BQ: Ich bin mit Shakespeare aufgewachsen. Geht ja gar nicht anders, wenn du hier zur Schule gehst. Richard III. war schon immer mein Lieblingsstück von Shakespeare. Es ist nicht sein bestes Stück, aber Richard ist meine Lieblingsfigur im William Shakespeare cinematic universe,
sozusagen. Es ist im Grunde das dritte Mal, dass diese Figur in meinen Filmen auftaucht: Joel Basman als Robbie in Wir sind jung. Wir sind stark., Albrecht Schuch als Reinhold in Berlin Alexanderplatz. Und nun Kenda Hmeidan als Rashida in KEIN TIER. SO WILD.… drei komplett
unterschiedliche Kontexte, aber immer wieder Richard … Also kein moderner Stoff, sondern eine zeitlose Figur.
EM: Die Frage nach der Freiheit der Einzelnen und ihren Grenzen, nach der Gewalt, die sich als Gegengewalt legitimiert oder nicht legitimiert, je nachdem, die Frage nach den Verletzungen, die man nicht loswird, auf die schwer den Finger zu legen ist, als juckte es, und man müsste kratzen,
wüsste aber nicht wo – auch in meinen Augen ist das eben genau das: zeitlos.
BQ: Wenn ich noch was hinzufügen darf: Das Ding mit der Kunstsprache, der theatralen Sprache von Shakespeare, hat auch etwas seltsam Befreiendes. Die Überschreibung eines klassischen Stoffes macht ein anderes Spiel mit Position und Gegenposition möglich. Bekannte Orte neu
besetzen. Abgenutzte Bilder umdeuten. Den Basston des Subtexts zum Refrain erklären. Die vierte Wand aufbrechen und die ZuschauerInnen zu KomplizInnen machen im Spiel der Hauptfigur.
Können Sie formulieren, was für einen Film Sie sich vorgestellt haben?BQ: Ich glaube, dass ich am Anfang an eine recht konventionelle, texttreue Adaption des Stoffes dachte. Neuinterpretiert, aber darin recht stringent. Was auch heißt, mit denselben Wegbegleitern zu arbeiten, eine gewisse Ahnung zu haben, wie das Endprodukt aussehen wird. Das war mir nicht ganz geheuer. Da habe ich mich innerlich schon angefangen zu fragen, ob ich mich jetzt wiederhole. Dann, zu Weihnachten ’22, war ich bei einer Show von Florentina Holzinger an der Volksbühne in Berlin. Das war eine wilde, anarchische, furchtlose und sehr persönliche Arbeit. Da kam die Idee dazu, den konventionellen Erzählrahmen zu sprengen und eine zweite, eine innere Welt für Rashida aufzumachen. Nicht als Rückblende, sondern als einen eigenständigen Raum.
Meine Szenenbildnerin, Jagna Dobesz, hat mir kurz darauf, das Bild einer Kunstinstallation gezeigt: Ein Zelt, dessen Inneres völlig verschlammt war. Der Kadaver einer Couchgarnitur im Vordergrund. Kisten, wie Hilfspakte im Hintergrund. Da hat es bei mir Klick gemacht. Ich musste da an die Ölkriege meiner Jugend denken: Kuwait, Irak, Iran, später die Ölfelder in Syrien… Und Rashidas innere Welt als einen lebendigen, von Zerstörung gezeichneten, immer weiter verschlammenden Ort zu bauen. Beim Drehen hieß der Ort dann auch immer nur: THE CLICK.
Wie war Ihre Herangehensweise an den Originaltext? Wie sehr haben Sie sich an den Originalstoff gehalten, wie originalgetreu ist Ihre Adaption – wo haben Sie sich Freiheiten gelassen? Welche Themen waren Ihnen wichtig?EM: Was ich behalten wollte, war das Rhythmische, der Sog, den die Sprache entwickelt, auf der die Dialoge surfen. Dass das, was zu sagen ist, nur auf eine bestimmte, eine musikalische Art überhaupt sagbar wird. Irgendwann war es, als käme die Handlung durch die Verwandlung von
Richard in Rashida gewissermaßen erst zu sich: Dass sie an den anderen vorbeispricht. Monologe hält, die niemand anderes hört. Dass ihre Wut nun etwas zu tun hat mit der Wut der Frau, die sie verführt, dass sie beide Frauen sind, in einer Situation, in der man das besser nicht wäre, dass ihre Abscheu davor sie einander annähert. Wenn Ghanima sich verstrickt in Rashidas Gewaltsystem, dann nützt ihr das auch. Das ist neu. Und so entfernt sich die Handlung vom Original, je weiter die Geschichte voranschreitet, auch wenn die Sprache das nicht tut.
BQ: Ich bin auf Recherche gegangen und habe Richard III.-Vorstellungen in Köln, in Hamburg und natürlich auch die bekannte Schaubühnen-Fassung in Berlin angesehen. Besonders interessant war der Beginn der Hamburger Inszenierung von Karin Henkel. Dort arbeitet die Regisseurin die ersten 30 Minuten, oder so, mit Versatzstücken aus anderen Shakespeare Texten, um die Vorgeschichte der Figuren zu erzählen. Eine ähnliche Freiheit haben wir uns auch genommen und beginnen mit einem Prolog, der von der Kindheit Rashidas erzählt, um dann im Hier und Jetzt in einem Gerichtssaal zu landen und den äußerlichen Grundkonflikt des Stückes zu setzen. Die Grundbeats des Stücks sind ab dann aber da, wo sie im Original stehen. Doch wir haben zum Beispiel die Figur der Lady Anne – bei uns heißt sie Ghanima – und die Liebesgeschichte zwischen ihr und Rashida in den Fokus gerückt, die Lady Anne-Figur aufgewertet und sie, anders als bei Shakespeare, bis zum Ende überleben und aktiv am Drama teilnehmen lassen.
Ein anderes Beispiel sind die drei ErzählerInnenstimmen zu Beginn des Filmes. Diese tauchen in Form dreier geheimnisvoller Frauen immer wieder im Film auf. Haben so eine Art Chorfunktion und ähneln den drei Schicksalsschwestern aus Shakespeares Stück McBeth.
Was sind die Hintergründe Rashidas – warum ist sie, wie sie ist?BQ: Das Buch ist zu einer bestimmten Zeit entstanden. Die Zeiten haben sich geändert. In allen meinen Filmen spielen Menschen mit Flucht- oder Kriegserfahrung eine Rolle. Anders: Ihre Erfahrung mit Krieg oder Migration prägen die Figuren und sind Teil ihrer Storys. Genauso ist es mit Rashida. Am Anfang des Films erfahren wir, dass sie Krieg erlebt hat. Auf der Bildebene sind das Bomben. Auf der Sprachebene wird aber auch vom Graben zwischen Männern und Frauen erzählt. „Die Steine, die Berge“, und daneben gibt es aber auch, wie es im Film heißt, „die Flüsse
und die Seen“. Das spiegelt sich in Rashidas Geschichte als Erwachsene wider. Ja, da ist ein Bandenkrieg. Der ist aber eingebettet in einem Konflikt zwischen Männern und Frauen in Rashidas Welt. In ihren Worten: „Betrogen von Geburt um jeden Vorteil, verformt, unfertig…“. Es geht aber um noch mehr: Es geht für mich auch um Eltern und ihre Kinder, die Erwartungen und die Enttäuschungen. Es geht, wie Enis meinte, um Freiheit – aber damit auch um die Wut, die aus dem Unfrei-Sein kommt. Es geht um verschiedene Formen der Gewalt und von Trauma und wie hier die durch Gewalt Traumatisierte mit Gewalt an anderen ihr Trauma weitergibt.
Der Film spielt in einem stilisierten Milieu arabischer Familien in Berlin. Was war der Gedanke dahinter?BQ: Gangstergeschichten, also Storys von einer Parallellgesellschaft oder der sogenannnten Unterwelt, sind im Kino oft Geschichten von Zuwanderung und Migration. Der Pate, Scarface, Ein Prophet und auch mein Film Berlin Alexanderplatz arbeiten sich an diesem Topos ab. Fassbinder mochte Gangsterfilme, weil es da um die „wichtigsten Dinge“ geht: um Geld und Liebe. Familie spielt eine Rolle. Das Gefühl Ausgestoßene zu sein und ganz nach oben zu wollen… Ein Genre also, das wir kennen, das zu etwas allzu Vertrautem geronnen ist. Wir bieten in KEIN TIER. SO WILD. eine neue Auslegung dieser Storys an. Dabei hijacken die Figuren nicht nur die Titel der Adeligen und sind Lords und Ladies, Prinzen und Könige, sondern auch deren Sprache. Rashida benutzt keinen Slang – wenn, dann nur als gesetzte Spitze –, sondern die Worte der Aristokratie, der Gelehrten und Mächtigen. Schon in meinem letzten Film war das Beherrschen einer bestimmten Sprache ein Weg zur Mündigkeit. Bei Berlin Alexanderplatz beginnt es mit dem scheuen Lernen der Vokabeln „Haut“ und „Himmel“, „schwarz“ und „weiß“ und manifestiert sich schließlich in dem Satz der Hauptfigur: „Ich bin Deutschland!“.
EM: Was interessant ist: In Richard III. ist Elisabeth von York eine Fremde im britischen Hochadel. Sie ist eine Einheimische, während das britische Adelshaus seinen Ursprung in Frankreich hat, seine Bräute von dort importiert. Damit wollten wir spielen. Was, wenn die Yorks im Grunde Fremde sind dort, wo sie leben? Und was ist, wenn die Einheimische eine Fremde unter ihnen ist, egal wie sehr sie sich anpasst? Was bedeutet das, sich aus Liebe zu verändern? Die letzte Frage weicht natürlich ab von Shakespeares Richard, wo Liebe kaum vorkommt, und wenn, dann als Schwäche, als die Schwäche nämlich, mit der Richard Lady Ann verführt. Das drehen wir um: Ghanima ist in Rashida verliebt, vor allem aber in das Ticket zur Freiheit, für das sie steht. Insofern ist die Frage der Herkunft in diesem Film Chiffre. Sie schillert, je nachdem, wer sie stellt.
Frau Maci, Sie haben bei KEIN TIER. SO WILD. erstmals an einem Drehbuch mitgewirkt. Wie haben Sie das erlebt?Wie ein Theatertext ist auch ein Drehbuch partiturenhaft, lückenreich: Erst durch die Arbeit anderer, der SpielerInnen, des Kameramanns etc., wird es erfahrbar. Darauf konnte ich mich sehr leicht einlassen. Was für mich neu war: Eingeladen sein zu schreiben, wovon ein anderer, Burhan
nämlich, erzählen will. Die eigene Autorschaft hintanzustellen. Teil eines Apparats werden. Alles eigentlich unvereinbar mit dem Schreiben, wie ich es betreibe. Ich habe einiges Neues gelernt.
Herr Qurbani, wie würden Sie Enis Macis Beitrag zu KEIN TIER. SO WILD. beschreiben? Wie hat ihre Beteiligung den Film geformt – den Stoff, wie Sie ihn sich ursprünglich ausgemalt hatten, beeinflusst?Enis ist eine Poetin. Enis ist eine Gelehrte. Enis hat einen riesigen Hochkultur- und Trash-Culture-Wissensschatz. Sie weiß um die Tücken des Rabbit Holes und findet in dessen Tiefen wunderbare Schätze. Und das alles kombiniert mit einer messerscharfen Analysefähigkeit. Enis’ Übersetzung war Metronom, Arbeitsvorlage und Steinbruch. Im hyper-dynamischen Drehprozess geht es oft nicht anders und ich musste immer wieder schnell reagieren, habe Szenen in sich gekürzt, Dialoge umgeschrieben oder an die Situation am Drehtag angepasst. Im Schnitt und der Post-Produktion findet wieder eine Art Kondensierungsprozess statt. Die erste Schnittfassung, der sogenannte Assembly, war über 4 Stunden lang. Philipp Thomas, der Schnittmeister des Films, und ich haben Dialoge gekürzt, Szenen zu Sequenzen collagiert und in neue Zusammenhänge gebracht. Der Boden des Schnittraums ist ein Gräberfeld…
Welchen Anspruch stellte das Drehbuch an Sie als Regisseur? Worauf haben Sie bei der Inszenierung Wert gelegt?Das kann ich nicht so einfach beantworten. Aber in aller Kürze: Filmtexte, also gute Drehbücher, sind sehr präzise und leiten mich als Regisseur in eine klare Richtung. Die Dialoge geben mir ein, zwei, vielleicht drei Möglichkeiten, die Szene zu denken. Doch mit Enis‘ und Williams Dialogen
eröffnet sich eine gewaltige Bandbreite an Möglichkeiten. Drehbücher sind wie Morsecodes: Punkt Strich Punkt Punkt Strich. Enis‘ und Williams Dialoge sind, wie sie sagte, wie eine Opernpartitur. Der Anspruch an die SpielerInnen und mich war ein ganz anderer, als ich je erlebt habe. Sehr, sehr erfüllend, aber nicht einfach.
Wie sind Sie bei der Besetzung vorgegangen: Viele der Hauptfiguren werden von SchauspielerInnen gespielt, die man (noch) nicht kennt?Meine Castingdirektorin Suse Marquardt hat – wie auch in meinem letzten Film – mit ihrem Team den Anspruch gehabt, zu überraschen, gegenzubesetzen und vor allem Talent zu entdecken. Doch leider spiegelt sich strukturelle Diskriminierung und Marginalisierung auch in der Auswahl von Bipoc-SpielerInnnen wider. Suse und ich wollten SpielerInnen besetzen, die über den Typcast hinaus auch Bühnenerfahrung hatten und mit der sehr theatralen Sprache unseres Buches etwas anfangen konnten. Suse hat Kenda am Gorki Theater entdeckt, Mona war zum Zeitpunkt des Castings noch an der Schauspielschule. Doch Meryam Abbas hat schon in Andreas Dresens Nachtgestalten gespielt, Mehdi Nebbou hat mit Ridley Scott gedreht, und Hiam Abbas ist ja eh ein Weltstar.
Frau Maci, wie eng blieben Sie der Produktion nach Abschluss der Arbeit am Drehbuch verbunden? Wie eng waren Sie beim Dreh selbst involviert?Ich hatte die Gelegenheit, das Set zu besuchen, was natürlich magisch war. Davon abgesehen: Der Film gehört denen, die ihn machen. Ich war nur ein Stück des Weges dabei.
Jeder Film ist eine Entdeckungsreise. Was haben Sie bei KEIN TIER. SO WILD. entdeckt, was gelernt?BQ: Um beide Fragen zu beantworten: Natürlich hat Enis recht – in der Buchentwicklung ist der Austausch zwischen AutorIn und Regie sehr intensiv. Und ich war so froh, dass Enis auch immer wieder am Set war. Doch irgendwann findet eine Ablöse statt. Ab der eigentlichen Drehvorbereitung übernehmen Kameraperson, Szenenbild, Kostüm, SpielerInnen und ProduzentInnen den Staffelstab der inhaltlichen und formalen Entscheidungen. Ein wenig später kommt der Schnitt dazu. Und in jeder Phase wird der Film noch einmal neu erfunden. Letztlich kann ich sagen, dass diese Geschichte mein persönlichster Film geworden ist. Rashida, das bin ich. Oder anders: Sie ist, was sie ist, damit ich es nicht werden muss. In all ihren Facetten, in ihrer Wut und ihrer Poesie, in ihrer Weichheit und in ihrer Erbarmungslosigkeit. Das bin ich. Und doch nicht… Enis hat Worte gefunden, die ich nicht hatte, und Kenda hat sie gesagt mit einer Stimme, die mir fehlt. Ich kann nicht immer sagen, wer die guten Entscheidungen in diesem Drehbuch getroffen hat. Doch die schlechten kommen sicher alle von mir. Nicht, weil ich es nicht besser wusste, sondern weil ich nicht anders konnte.