In seinem autobiographischen Roman „Russische Spezialitäten“ erzählt Dmitrij Kapitelman von seiner jüdisch-ukrainisch-russischen Familie. 1986 in Kyjiw geboren, kam er Mitte der 1990er Jahre mit seinen Eltern und seiner Schwester als jüdischer Kontingentflüchtling nach Leipzig, wo seine Eltern 25 Jahre lang ein Lebensmittelgeschäft besaßen. Der Autor beschreibt eine Familie, die zusammenhält und sich im Ausland eine gemeinsame Existenz aufgebaut hat. Doch der Überfall Russlands auf die Ukraine führt zu einem Bruch und entfremdet Dmitrij vor allem seiner geliebten Mutter.
Die Mutter wurde in Sibirien geboren. Sie verbrachte dort allerdings nur drei Jahre. Danach lebte sie in Moldawien und Kyjiw, aber in Leipzig lässt sie sich nun täglich vom russischen Propagandafernsehen berieseln. Sie glaubt die Lügen über die „gerechte Spezialoperation“ gegen das ukrainische „Naziregime“. In vielen Diskussionen gelingt es Dmitrij nicht, seine Mutter von ihrer Meinung abzubringen. Ihre ideologische Verblendung gipfelt in der Behauptung, das Massaker von Butscha sei fake und nur von ukrainischen Schauspielern inszeniert.
Kapitelman geht es darum, wie sich autoritäre Politik und Wahrheitsfälschung auf zwischenmenschliche Beziehungen auswirken können, und wie trotz scheinbar unüberwindlicher Gräben die Liebe bewahrt werden kann. Diese schweren Themen behandelt er mit typisch jüdischem Humor; mit Spott, der aber immer menschlich bleibt, und einer Selbstironie, die ihn vor Überheblichkeit und Selbstmitleid schützt.
Immer wieder kippen die Szenen ins Surreale. Da weht der fliederfarbene Frühlingswind Herren mit Aktenkoffern heran, die den Eltern Telekom-Aktien andrehen und sie um ihre Ersparnisse bringen, da sprechen die Fische in der Kühltheke des Magasin, da verwandelt sich die desinteressierte Bahnangestellte in eine glimmende Zigarette. Die „Bizarrheit der Gegenwart“, in der Lüge und Wahrheit verschwimmen und Gewalt und Unmenschlichkeit von allen Seiten herandrängen – aus Russland, aber auch aus vielen anderen Ländern, und nicht zuletzt von deutschen Neonazis –, verwandelt Kapitelman so in Literatur.
Dass seine eigene Mutter Putins Krieg billigt, lässt Dmitrij verzweifeln und auch mit der russischen Sprache, seiner Muttersprache, hadern. „Ich trage eine Sprache wie ein Verbrechen in mir und liebe sie doch, bei aller Schuld.“
Schließlich entschließt er sich, selbst in die Ukraine zu fahren in der Hoffnung, seine Mutter vom Unrecht des russischen Angriffskriegs überzeugen zu können. Mit Erschütterung und Empathie schildert Kapitelman die Reise durch ein vom Krieg versehrtes Land. Er fährt durch Butscha, Irpin und Borodjanka und fühlt das blanke Grauen. Er sieht zerstörte Städte und Soldatenfriedhöfe, begegnet jungen Männern an Krücken und Soldaten, die geisterhaft verbraucht aussehen. Er trifft alte Freunde, die stoisch und mutig versuchen, den Rest eines normalen Lebens aufrecht zu erhalten. “Das ganze Leben haben sie uns weggenommen. Warum? Wofür?“ Als Dmitrji in einen heftigen Luftangriff gerät und per Handy seiner Mutter davon berichtet, schreibt sie zurück: „…es besteht ja auch gar keine richtige Gefahr. Russland beschießt ja ausschließlich militärische Ziele“.
Erst allmählich fängt Dmitrij an zu verstehen, warum seine Mutter so hartnäckig an den Lügen festhält. Ein tiefsitzender Kummer macht sie anfällig für Putins Propaganda, da sie ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit und Stärke vermittelt. Langsam gelingt eine Wiederannäherung zwischen Mutter und Sohn.
So kann man den warmherzigen, zugleich witzigen und traurigen Roman „Russische Spezialitäten“ von Dmitrij Kapitelman auch als ein Dokument der Liebe lesen; der Liebe zu seiner Mutter wie zur russischen Sprache. „Die Sprache ist unschuldig“, sagt Kapitelman, „man darf sie nicht den Mördern überlassen“.
Lilly Munzinger, Gauting
Dmitrij Kapitelman
„Russische Spezialitäten“
Hanser
„Russische Spezialitäten“
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