An dieser Stelle sollte man vielleicht einmal den unermüdlichen
Leo Feigin erwähnen. 1938 im damaligen Leningrad (heute Sankt Petersburg) geboren, gründete der einstige Hochspringer 1979 im Londoner Exil das Plattenlabel
Leo Records. Er arbeitete damals für die BBC und erhielt eines Tages ein (geschmuggeltes) Tonband vom
Ganelin Trio aus der Sowjetunion. Niemand kannte diese Band und Feigin, der begeistert von dem Pianisten Vyacheslav Ganelin und seinen beiden Begleitern war, fand auch kein Label, das diese außergewöhnliche Musik veröffentlichte. So gründete er selbst kurzerhand Leo Records und veröffentlichte bis in das Jahr 2025 über 1000 Titel, von sowjetischen Künstlern sowie Avantgard-Musikern wie
Anthony Braxton, Evan Parker, Cecil Taylor oder
Sun Ra. Nun, 87jährig, macht Leo Feigin Schluss. „
Ich bin nicht mehr so fit wie früher“, erläutert er seinen Rückzug, „
und alles braucht mehr Zeit. Also haben wir beschlossen, es gut sein zu lassen.“ Der vollzogene Brexit vor fünf Jahren hat seinen Entschluss mit Sicherheit stark beeinflusst.
Zu den letzten Aufnahmen von Leo Records gehören die Alben „
Night In Gale“ des Duos
John Wolf Brennnan und
Arkady Shilkloper, sowie „
Wild Card“ des Quartetts
Pago Libre, zu dem seit über drei Jahrzehnten der Ire John Wolf Brennan gehört.
„Night In Gale“ ist eine Kooperation des irisch-schweizerischen Klassik- und Jazzpianisten, Komponisten, Dirigenten und Kolumnisten John Wolf Brennan und dem aus Moskau stammenden und heute in Berlin lebenden Hornisten Arkady Shilkloper. Es ist ein wunderbares, manchmal exotosch anmutendes Album, voll lebendiger Klangspektren, die zwischen Jazz, Volks- und Kammermusik angelegt sind. Eine abenteuerliche Tour de Force, mit sich gegenseitig überlagernden Rhythmen, mitreißenden Melodien und harmonischen Grundmustern, die teils hochstrukturiert umgesetzt sind, teils spontan improvisierend angegangen werden. Hinzu kommen die beiden Schweizer Stimmakrobaten
Christian Zehnder und
Marcello Wick. Sie bringen mit ihren Oberton- und Kehlkopfgesängen und als Naturjodler völlig neue Sounds ins Spiel. Das klingt nach einer absolut individuellen Alternative zu jeder Form von Mainstream. Das Melancholische ist hier zugleich das Herausfordernde und das Ungestüme zeigt sich nicht selten als das andächtig Lyrische.
Brennan und Shilkloper sind zugleich auch die Hälfte des Quartetts Pago Libre. Den anderen Teil füllen
Ratus Flisch am Bass und
Florian Mayer an der Violine. „Wild Card“ ist das mittlerweile fünfzehnte Album dieser Weltmusikband. Oder sollte man besser sagen Euromusikformation? Denn alles was Pago Libre spielen, hat seinen musikalischen Ursprung „irgendwo“ in Europa. Und dabei zieht die Musik ihre Spannung immer aus der Bewegung zwischen Gegensätzen. Gleichzeitig werden diese miteinander deutlich in Bezug gesetzt. Kopf und Bauch, Bodenständigkeit und Raffinesse, Meditatives und Explosives, Ernstes und Scherzhaftes, Virtuoses und Melancholisches. Mal haben Sequenzen den Charme von Wiener-Cafe-Hausmusik, mal vermittelt das Quartett die ungezügelte Energie einer Avantgarde-Band. Trotz dieser hochexplosiven Mischung besticht die Sensibilität, mit der hier Klangkunst ausgelotet wird.
Jörg Konrad
John Wolf Brennnan & Arkady Shilkloper
„Night In Gale“
Leo Records
Pago Libre
„Wild Card“
Leo Records