Und schon beim Blick auf die jeweilige Trackliste wird deutlich, dass sich im Laufe der zweieinhalb Jahrzehnte das Solo-Konzept des Jahrhundertmusikers entscheidend geändert hat. Besteht die Aufnahme von 1991 aus zwei längeren Solo-Sets, die jeweils eine stark dynamische Entwicklung der Improvisationskunst am Stück beinhalten, hat Jarrett später kürzere, in sich geschlossene Ideen und Motive umgesetzt. Auf „New Vienna“ handelt es sich um insgesamt neun dieser Impressionen, plus, als Zugabe, des wohl liebsten Standards des Künstlers, Harold Arlens und E.Y. Harburgs „Somewhere Over The Rainbow“.
Auf „New Vienna“ gibt es kein zaghaftes Herantasten, an das Instrument, an das Publikum oder an die Akustik des Spielortes. Mit den ersten Tönen baut Jarrett ein Gerüst aus glühenden Pfeilern und Verstrebungen, angereichert mit kontrolliert dissonanten Assoziationsketten. Es sind halsbrecherische Läufe, divergierende Energien, die Jarrett meisterlich bündelt. Dieses akustische Abenteuer dauert knapp elf Minuten, dann kommt der zweite Teil, ein aus wunderbaren, leichten Akkorden bestehendes Konstrukt, voller Poesie und flüchtiger Sentimentalitäten. Als nächstes beeindrucken seine rhythmischen Variationen. Jarrett beherrscht das Gegenläufige in der Musik perfekt, Ideen, die sich von verschiedenen Ausgangspunkten aufeinander zubewegen, um gemeinsame Höhepunkte anzustreben. Es gibt subtile, strahlende Monologe, weit ausholende oder auch emotional gedimmte Expeditionen, avantgardistische Klanglandschaften und auch eine fröhliche Nachdenklichkeit.
So ändern sich Stück für Stück die Stimmungen, wechselt Abstraktes mit Formalem wodurch ein Kosmos an Themen und Variationen entsteht, gespeist aus einem Universum an spielerischer Hingabe. „New Vienna“ ist eine improvisatorische Verbeugung vor allem was Jazz ist, vor allem was Musik ist und entsprechend eine angemessene Würdigung anlässlich Keith Jarretts 80. Geburtstag.
Jörg Konrad
Keith Jarrett
„New Vienna“
ECM
„New Vienna“
ECM