Es war in den Nachmittagsstunden des 1. Februars 1975.
Miles Davis und seine Mannen befanden sich auf Tournee in Japan und ließen mit überschäumenden Wellen beißender Rockakkorde, dynamischen Funklicks, mit polyrhythmischen Perkussionsattacken und kraftraubenden Improvisationsritualen die
Osaka Festival Hall in ihren Grundfesten erbeben. Ein Jahr später erzählte der Trompeter dem „Rolling Stone“ über diese Tournee:
„In jeder Stadt habe ich mich erbrochen, Ich mußte Pillen für meine Beine schlucken, Codein und Morphin. Aber man mußte arbeiten, der Auftritt geht vor.“Die Musik des einstigen Wegbereiters des Cooljazz erinnert trotz dieser Einschränkungen, oder vielleicht auch gerade deshalb, an einen lavaspuckenden, völlig außer Kontrolle geratenen Vulkan. Weitschweifige Gitarrensoli von
Pete Cosey und
Reggie Lucas erinnern an Auftritte von Heavy Metall Bands, Miles Wah Wah Trompete und die permanenten Orgel-Attacken klingen in ihren elektronischen Verfremdungen nach den psychedelischen Lasterhöhlen einer imaginären Unterwelt.
Michael Henderson grundiert alles mit druckvoll pulsierenden Bassfiguren, die mit
Al Fosters peitschendem High Hat wunderbar korrespondieren.
Mtume trommelt sich an den Congas die Seele aus dem Leib und
Sonny Fortune spielt die ekstatischsten Saxophonchorusse seiner Karriere. Gespielt wird auf einem Energielevel, das kaum eine Steigerung zulässt. Intensität von fast schmerzender Körperlichkeit.
Aber es gibt auch Momente der Stille, der Besinnung, getragen von subtiler Anmut und überraschenden Bossa Nova-Passagen. Trotz dieser Wechsel von Spannungsbögen vermittelt die Musik in ihrer Gesamtheit etwas Verzweifeltes, etwas tragisch Aufwühlendes, das erst in den folgenden Jahren in seiner ganzen Dimension erkannt wurde.
Miles Davis war künstlerisch und körperlich zu jener Zeit völlig am Ende. Er klagte über Schmerzen in den Beinen, Arthrose machte ihm in den Schultergelenken zu schaffen, er hatte ein Magengeschwür, litt unter Schlaflosigkeit. Zudem trank er Unmengen an Alkohol. All dies war das Ergebnis jahrelanger Überforderung. Allein seit seinem bahnbrechenden Album „Bitches Brew“ von 1970 hat er in nur fünf Jahren nicht weniger als ein Dutzend LPs veröffentlicht, von denen ein Großteil als Doppelalben erschienen. Auf ihnen befindet sich die Quintessenz dessen, was aufgrund der verschiedenartigen Einflüsse und instrumentalen Brückenschläge als eine stark rhythmisch akzentuierte Weltmusik, als ein für die Ewigkeit eingemeißeltes Funk-Rock-Manifest beeindruckt.
Columbia veröffentlichte das vorliegende Nachmittagskonzert aus Osaka einige Monate später unter dem Titel „
Agharta“. Agharta ist ein mythologischer Ort, der im Okkultismus als arisches Weltzentrum betrachtet wird. Musik also aus anderen Räumen und anderen Sphären? Miles spielte gern mit derartigen Verweisen – obwohl er im Grunde seines Wesens eher ein der Realität zugewandter, pragmatischer Musiker war.
Am Abend des gleichen Tages spielte die Band noch ein zweites Konzert, das unter dem Titel „
Pangea“ veröffentlicht wurde. Zwar ähnelt sich die musikalische Quintessenz dieser opulenten Werke, aber gleichzeitig sind auf den insgesamt acht Plattenseiten stark unterschiedliche ethnische Einflüsse und Klangideen musikalisch verarbeitet.
Außerdem hat sich Produzent
Teo Macero in Absprache mit dem Trompeter entschlossen, ganz im Gegensatz zu den vorangegangenen Aufnahmen diese Auftritte ungeschnitten und inhaltlich unbearbeitet zu veröffentlichen. Somit ist hier nach langer Zeit die Möglichkeit gegeben, den Entstehungsprozess der Musik in der für MD so typischen Ausführlichkeit akustisch mitzuerleben.
Auf „Agharta“ „verirrt“ sich völlig unerwartet das Bassmotiv des alten „So What“-Themas, auf das tatsächlich einer der Gitarristen mit dem einstiegen Bläserriff antwortet. Ein versteckter Hinweis darauf, das sich das momentane musikalische Konzept nicht weiterführen lässt, ohne die Geschichte zu zitieren? Oder ein Anhaltspunkt dafür, dass es für diese Orgie gestalterischer Intensität keine Steigerung mehr gibt?
Kurze Zeit später zog sich der Trompeter für sechs lange Jahre aus der Öffentlichkeit zurück. Er hatte mit der Geburt des Bebop, der „Erfindung“ des Cooljazz, dem grundlegenden Entwurf einer modalen Spielweise im Jazz und der wegweisender Symbiose aus Jazz und Rock vorerst genug für die Musik des 20. Jahrhunderts getan – bis er 1981 wie Phönix aus der Asche wieder aufstieg. Aber das ist eine völlig andere Geschichte.
Jörg Konrad
Vor 50 Jahren:
Miles Davis
„Agharta“ & „Pangea“
Sony