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1. Nelio Biedermann „Lázár“
2. Anton Corbijn „Waits / Corbijn“
3. Roland Schimmelpfennig „Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“
4. Marita Krauss "Ludwig I. von Bayern, Träume und Macht"
5. Konrad Merz „Ein Mensch fällt aus Deutschland“
6. Chaim Nachman Bialik „Wildwuchs – Erzählungen aus Wolhynien“
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Mittwoch 05.11.2025
Nelio Biedermann „Lázár“
Es ging alles ein wenig arg schnell. Und das schon, bevor das erste Wort aus Nelio Biedermanns Roman „Lázár“ offiziell erschien. Da waren die Verträge nämlich schon unter Dach und Fach, dass dieser gut 330 Seiten starke Debüt-Roman in 20 Ländern erscheinen würde. Der Autor: Gerade einmal 22 Jahre. Stürmte hier ein Jahrhunderttalent das erste Dutzend der Bestsellerplätze? Der Marketing-Plan war auf jeden Fall wirkungsvoll.
„Lázár“ ist eine Familiengeschichte, in deren Mittelpunkt Lajos steht, ein um 1920 geborener Adliger „ … das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen …“. Lajos wächst im Kreise eine komplexen Familiendynamik im Waldschloss im Süden Ungarns auf, einem ebenso mythenumwobenen wie von harter Realität gezeichneten Ort. Er erlebt von hier aus den endgültigen Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie, das Aufkeimen von totalitären Systemen und auch das Erlernen der Kunst des Überlebens nimmt von hier aus seinen Lauf.
Es sind etliche kleine Lebensgeschichten, Ausschnitte und Anekdoten, eingebettet in die große europäische Weltgeschichte, die Nelio Biedermann hier miteinander geschickt wie emotional verzahnt. Das Aufbrausen und Lärmen der Weltgeschichte ist allenthalben zu spüren, ob in der verruchten Nazizeit oder während der Schreckenseroberung und anschließenden Schreckensherrschaft der Sowjetunion, bis in die Hoffnung suggerierenden 1950er Jahre.
Biedermann bricht diese ganze gesellschaftliche Katastrophenstimmung immer wieder mit kleinen erotischen Szenen auf und lässt zudem ein ganzes Tableau an Weltliteraten durch die Szenerien geistern. So wird der geistige Verfall von Imres Onkel mit Zitaten aus E.T.A. Hoffmanns „Nachtstücken“ kommentiert, Simone de Beauvoir und Virginia Woolf stehen für ein von Feminismus gezeichnetes Frauenbild von Imres Töchtern, es werden Thomas Mann und Arthur Schnitzler bemüht und so bekommt diese ganze Geschichte einen hehren Anspruch, den der 22jährige zwar literarisch wunderbar formuliert, aber zusammenfassend doch nicht durchgängig erfüllen kann.
Der Text selbst berührt in seiner unaufgeregten prosaischen Art. Hier hat einer den passenden Ton gefunden - auch für die Zeit in der wir leben und dieses Buch schließlich lesen. Denn diese Zeit ist in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit die der vergangenen Epochen.
Hoffen wir, dass Nelio Biedermann nicht über die Maßen zu einem medialen Ereignis stilisiert wird, dass er nicht in Talkshows und anderweitigen Gesprächsrunden inflatiös herumgereicht wird, bis von seiner bemerkenswerte Authentizität und seinem absoluten Talent nur noch wenig übrig ist. Aber wie will jemand, der schon jetzt derartigen Erfolg hat, bei sich bleiben? Aber warten wir, was nocht kommt. Gespannt sind wir allemal.
Alfred Esser

Nelio Biedermann
„Lázár“
Rowohlt
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Donnerstag 09.10.2025
Anton Corbijn „Waits / Corbijn“
Sein letztes offizielles Album „Bad As Me“ stammt aus dem Jahr 2011. Der letzte Film, in dem er auftrat, war „Father Mother Sister Brother“, der unter der Regie von Jim Jarmusch vor erst wenigen Wochen in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausgezeichnet wurde. Tom Waits geistert seit über fünf Jahrzehnten durch den kulturellen Underground der USA. Und wenn der eine oder andere zu Anfang noch glaubte, diese gequälte Stimme aus dem Rinnstein und dieses prägnante Gesicht sei im Grunde nur Masche, der wurde peu á peu eines besseren belehrt. Denn Waits begann im Laufe seiner Karriere künstlerisch zu wachsen, seine Platten wurden mit der Zeit ebenso sperriger, wie sie vollendeter klangen; die Filme, denen er Stimme und Charakter lieh, lebten nicht selten erst durch seine kauzige, manchmal auch teuflische Art. Unvergessen in dem Episoden-Streifen der Coen Brüder „The Ballad of Buster Scruggs“, in dem Waits einen namenlosen Goldsucher verkörpert, der mit seinem Tun in die unberührte Idylle der Natur einbricht. Er ist der Gegenentwurf zur Hightech-Kunst, der Prototyp des melancholischen Trunkenboldes.
Beinahe die Hälfte seines Lebens begleitete der niederländische Fotograf Anton Corbijn Waits. Die Zusammenarbeit gipfelte in dem 2013 erstmals erschienenen, großformatigen Bildband „Waits / Corbijn“. Die editierte Sammleredition war noch bevor sie in den Handel kam ausverkauft. Nun haben die beiden grünes Licht zu einer unlimitierten, leicht verkleinerten, aber inhaltlich unveränderten Ausgabe gegeben. Schirmer/Mosel machen es möglich – mit einem einführenden Text von Jim Jarmusch.
Die Karrieren der beiden sind im Grunde untrennbar miteinander verbunden. „Ich arbeite gern mit Anton“, erzählt Waits, „er ist ein Mensch mit Standpunkt. Glauben Sie mir, nur mit einem Dracula-Umhang vom Felsen zu springen, das mach ich nicht für jeden.“ Und Corbijn erläuterte: „Es kommt nicht oft vor, dass man jemanden mehr als 30 Jahre photographiert. … Wir nehmen unsere Arbeit sehr ernst, aber wenn es um gemeinsame Sachen geht, sind wir wie Kinder, die nicht erwachsen werden wollen. Es ist befreiend und eine legale Droge, die wir dringend brauchen.
Dieser Band präsentiert nicht nur 145 Portraits, die Anton Corbijn von Tom Waits über vier Jahrzehnte aufnahm. Er enthält auch etlichen überwiegend fotografische Arbeiten von Waits, Gedanken und Skizzen, die nie zuvor veröffentlicht wurden.
Waits steht inhaltlich für all jene Künstler, die vom Straßenrand hochgespült wurden und von denen er sich inspiriert fühlt: Jack Kerouac, Sonny Terry und Brownie McGhee, Frank Zappa und Captain Beefheart, Dr. John und Allen Toussaint, Howlin’ Wolf, Keith Richards und Marc Ribot. Eine illustre Schar an kreativen Köpfen, ohne die unsere Kulturwelt heute um etliches ärmer aussehen und klingen würde.
Anton Corbijn arbeitete unter anderem mit den Rolling Stones, U2, Frank Sinatra, Nick Cave, Depeche Mode, Henry Rollins und Nirvana. Er drehte (preisgekrönte) Filme wie „Control“, „The American“ oder „A Most Wanted Man“ und dutzende Musikvideos. Ein visueller Künstler, der das ausgehende 20. Jahrhundert und den Beginn des 21. Jahrhunderts wie kaum ein anderer belichtet und dokumentiert hat. Zwei große Erzähler sind in diesem Band vereint, denen die akustische und visuelle Identität am Herzen liegen, die die Kratzer auf den glänzenden Oberflächen lieben – weil man dadurch auch einen Teil darunter sieht.
Jörg Konrad

Anton Corbijn
„Waits / Corbijn“
Schirmer/Mosel
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Dienstag 16.09.2025
Roland Schimmelpfennig „Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“
Als vor mehr als hundert Jahren das Bühnenstück „Reigen“ von Arthur Schnitzler zum ersten Mal vollständig aufgeführt wurde, kam es zum größten Theaterskandal des Jahrhunderts. Es gab Krawalle, Prozesse und Verbote wegen angeblicher Obszönität und Pornographie.
In den zehn erotischen Dialogen des Stückes finden sich zehn Figuren jeweils zu einem Paar zusammen, und jedes Mal kommt es zu einer sexuellen Begegnung. Nach jeder Szene wechselt eine der Figuren zu einem neuen Partner, wobei alle sozialen Schichten - vom Proletariat bis zur Aristokratie - repräsentiert sind, bis sich im letzten Akt der Kreis schließt und der Graf wieder bei der Dirne landet. Schnitzler hat sein desillusionierendes Stück eine Komödie genannt. Er hält der Gesellschaft des Fin de siècle in satirischer Überspitzung den Spiegel vor und entlarvt ihre Verlogenheit und Doppelmoral.
Roland Schimmelpfennig, einer der meistgespielten Dramatiker unserer Zeit, nennt den „Reigen“ einen Meilenstein der Theatergeschichte. In seinem Buch „Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“ übernimmt er weitgehend das Strukturprinzip, das Personal und die Schauplätze der einzelnen Akte und überträgt das Ganze in die Gegenwart. In kurzen, prägnant erzählten Szenen begegnen sich zehn Figuren aus unterschiedlichen sozialen Schichten im zyklischen Liebesreigen. Der eigentliche Liebesakt wird, wie bei Schnitzler, nur angedeutet und nie auserzählt.
Ein großer Unterschied zu Schnitzlers Werk ist, dass Schimmelpfennig kein Drama, sondern einen Roman geschrieben hat. So kann er noch weiter in die Innenwelten der Figuren eintauchen, in ihre Gedanken- und Gefühlswelt. Allerdings erkennt man auch den Dramatiker, wenn er an den Anfang jedes neuen Kapitels eine Art Regieanweisung setzt, in der wie im Drama Ort und Atmosphäre der Szene charakterisiert werden. „Sie wartet, aber sie weiß nicht auf wen. Die meisten Leute meiden um diese Uhrzeit den Park. Es ist eine warme Nacht, Ende Juni. Der Wind rauscht leise in den alten Bäumen…“ So beginnt das erste Kapitel des Buches, und es schlägt bereits den Ton des ganzen Romans an, in dem gleichzeitig Einsamkeit, Hoffnung und Bedrohung mitschwingen.
Wer hier wartet, ist die Prostituierte Alejandra, die als Mann Karim heißt und sich zwischen den Geschlechtern bewegt. Sie wird im Park einem Soldaten begegnen und mit ihm Sex haben. Schnitzler nennt die Figuren des ersten Aktes nur die „Prostituierte“ und den „Soldaten“. Bei Schimmelpfennig haben sie dagegen Namen, sie sind nicht nur Repräsentanten einer Klasse, sondern Menschen mit einer Geschichte. Und ihre Geschichten sind typisch für unsere Zeit: Karim musste als Homosexueller aus dem Iran fliehen und hält sich in Deutschland durch Prostitution über Wasser; Martin, der Soldat, ist schwer traumatisiert von einem Einsatz in einem Kriegsgebiet zurückgekehrt. Während der Radius des Schnitzlerschen Personals ganz auf das Wien der Jahrhundertwende beschränkt bleibt, ist im modernen Roman die Welt der Figuren sehr viel weiter und gefährlicher geworden, die Geschlechter sind nicht immer eindeutig definiert, Gewalt und Drogen spielen eine große Rolle.
Schimmelpfennig zeichnet in unterschiedlichen Spielarten ein pessimistisches, entzaubertes Bild von der Liebe in unseren Zeiten. An einem Ehepaar aus der gebildeten Mittelschicht, das im Roman eine zentrale Rolle einnimmt, zeigt der Autor zwei extrem gegensätzliche Vorstellungen: Der Ehemann, ein älterer Intellektueller, ist der einzige, der noch an einem romantischen Liebesideal festhält. Für ihn ist die Liebe eine metaphysische Kraft. Seine Frau dagegen empfindet seinen Wunsch nach Treue als besitzergreifend und sucht bei häufig wechselnden Partnern schnellen, unverbindlichen Sex.
Die meisten Figuren des Romans haben Verlust - und Entwurzelungserfahrungen erlebt und erwarten sich in flüchtigen Liebesbegegnungen allenfalls ein wenig Halt oder bessere Aufstiegschancen. In der letzten Gestalt des Reigens, einem Filmproduzenten, kann man eine Anspielung auf Harvey Weinstein erkennen. Er wird als brutaler Zyniker gezeigt, dem es bei seiner Triebbefriedigung vor allem um Macht geht.
Und doch gibt es im Roman auch immer wieder Momente von Hoffnung, von Mitgefühl, Zärtlichkeit und Solidarität.
Mit „Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“ hat Roland Schimmelpfennig einen harten, melancholischen Roman geschrieben, der sich packend liest und den Vergleich mit seinem großen Vorbild nicht scheuen muss.
Lilly Munzinger, Gauting

Roland Schimmelpfennig
„Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen“
S. Fischer
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Montag 04.08.2025
Marita Krauss "Ludwig I. von Bayern, Träume und Macht"
Woche des Buches oder Urlaubslektüre (5)

Im Jahr 1806 erhob Napoleon das Kurfürstentum Bayern zum Königreich. Nach dem Tod seines Vaters Max I. Joseph, des ersten Königs von Bayern, bestieg Ludwig I. vor genau 200 Jahren den bayerischen Königsthron. Ihm ist die diesjährige bayerische Landesausstellung in Regensburg gewidmet. Das Thronjubiläum ist ebenso Anlass für eine neue Biographie der Historikerin Marita Krauss mit dem Titel „Ludwig I. von Bayern, Träume und Macht“.
Goethe sagte nach einer Begegnung mit Ludwig, es sei ihm unschätzbar, den König persönlich gesehen zu haben, denn nun erst könne er sich „dieses merkwürdige, vielbewegliche Individuum auf dem Throne allmählich erklären…, der mit aller Energie seines Willens so mächtig auf die Zeitgestaltung einwirke…“.
Mit dem Namen Ludwig I. verbinden wir dagegen heute vor allem seine leidenschaftliche Beziehung zu Lola Montez, der angeblich spanischen Tänzerin. Die fatale Affäre wirkte in Bayern als Katalysator für die Revolution von 1848 und trug dazu bei, dass Ludwig I. sich zum Rücktritt vom bayerischen Königsthron genötigt sah. Dem Klischee vom König und der Tänzerin, das Ludwigs Leistungen als König häufig überdeckt, möchte Marita Krauss in ihrer Biographie entgegenwirken. Sie will ihn als Politiker und vor allem als Menschen in ein neues Licht rücken.
Dazu hat sie eine Fülle von persönlichen Aufzeichnungen Ludwigs gesichtet und ausgewertet, ein, wie sie es nennt, „ungeheures, kaum zu übersteigendes Gebirge an hochsensiblem und hochrelevantem Material“. Ludwigs Gefühlswelten und Empfindungen sind für sie Schlüssel zu seiner Person. Der König hat tausende Seiten Tagebücher, unzählige Gedichte, einen äußerst umfangreichen Briefwechsel und ein Traumtagebuch von fast 400 Träumen hinterlassen. Dieses Traumtagebuch, ein für die damalige Zeit völlig ungewöhnliches Zeugnis der Selbstreflexion, war bisher nicht zugänglich. In all diesen „Ego-Dokumenten“ begegnet einem ein gebildeter Mann mit breit gefächerten Interessen und großer Schöpferkraft, ein begeisterungsfähiger Mensch von hoher Emotionalität, der stark durch das Zeitalter der Empfindsamkeit und durch die Romantik geprägt war. Sein Lebensgefühl und seine Energie bezog er aus der Liebe. Er hatte eine innige Bindung an seine Mutter, die früh verstarb. Bis zu seinem Tod war er immer wieder neu verliebt; neben seiner Ehe mit Therese pflegte er zahlreiche leidenschaftlich- romantische Beziehungen zu schönen Frauen. Krauss nennt ihn einen „Erotiker auf dem Thron“, wobei sie betont, dass die meisten seiner Schwärmereien und Liebesbeziehungen rein platonischer Natur waren.
Neben seiner „Liebe zur Liebe“ war die Kunst Ludwigs große Leidenschaft, wie Krauss schreibt. Er war Freund und Förderer von vielen Künstlern seiner Zeit. Auf seinen häufigen Reisen in sein geliebtes Italien ließ er sich inspirieren, und er verehrte die griechische Kunst. Mit seinem Hofbaumeister Leo von Klenze machte er aus der provinziellen katholischen Residenzstadt München eine Kunststadt von europäischem Rang. Die Ludwigstrasse mit ihren Prachtbauten, die Residenz, die Alte Pinakothek, das Nationaltheater, der Königsplatz mit Glyptothek und Propyläen wurden zum Zentrum der Hauptstadt des jungen bayerischen Königreichs.
Doch bei all seiner Begeisterungsfähigkeit und visionären Liebe zur Kunst war Ludwig kein Träumer wie sein Enkel Ludwig II. Er war fleißig und diszipliniert und brachte mit großer Sparsamkeit und Umsicht die desolaten Staatsfinanzen in Ordnung, die er von seinem Vater übernommen hatte.
Ludwig lebte in einer Zeit gewaltiger politischer Umwälzungen. Er hatte den festen Willen, als König zu herrschen und zu gestalten. Das Resümee seiner Herrschaft fällt allerdings durchaus zwiespältig aus. Während er entschieden am monarchischen Prinzip und dem Gottesgnadentum der Fürsten festhielt und darin noch dem Ancien Regime verhaftet war, stand er in seinen frühen Jahren auch liberalen Ideen offen gegenüber. Er war ein Befürworter der Verfassung und der Pressefreiheit und ein früher Verfechter der „teutschen“ Einheit. Doch unter dem Eindruck der Revolution von 1830 in Frankreich und den Forderungen nach bürgerlicher Teilhabe auf dem Hambacher Fest von 1832 schwenkte Ludwig zunehmend um in eine restaurative Politik nach dem Vorbild Metternichs und ging mit großer Härte gegen revolutionäre Tendenzen vor.
Marita Krauss ist es in ihrer gut lesbaren, lebendigen Biographie auf beeindruckende Weise gelungen, Ludwig I. in der ganzen Vielfalt seiner Persönlichkeit darzustellen und ihn als bedeutenden bayerischen König zu würdigen, dabei aber auch seine Schattenseiten im Blick zu behalten.
Lilly Munzinger, Gauting

Marita Krauss
"Ludwig I. von Bayern, Träume und Macht"
C.H. Beck
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Dienstag 29.07.2025
Konrad Merz „Ein Mensch fällt aus Deutschland“
Woche des Buches oder Urlaubslektüre (4)

Unter dem Motto „Wider den undeutschen Geist“ fand am 10. Mai 1933 in Deutschland die Bücherverbrennung unter der Regide der NSDAP statt. Bei diesem kulturverbrecherischen Akt wurden Werke von über 250 Autoren vernichtet und sie damit einer Art Lynchjustiz preis gegeben. Daraus folgend fand die erste große Auswanderungswelle von Schriftstellern in Deutschland statt.
Zugleich ist dieses Datum der Beginn der sogenannten Exilliteratur. Autoren schrieben ihre literarische Texte im Ausland, verlegten diese in eigens gegründeten Exil-Zeitschriften und Exil-Verlagen. Anfangs in Ländern wie Österreich, Frankreich oder den Niederlanden, bis diese nicht mehr sicher waren. Viele Autoren emigrierten weiter in die Sowjetunion, die USA oder nach Mexiko.
Auch Konrad Merz, geboren am 02. April 1908 in Berlin, flüchtete nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Niederlande, da er während seines Jurastudiums 1934 aus rassistischen Gründen exmatrikuliert und von den Nazis verfolgt wurde.
Er schrieb und veröffentlichte erste Texte für die in Paris erscheinende Exil-Zeitung „Das Neue Tage-Buch“ und verfasste zwei Jahre später seinen ersten Roman „Ein Mensch fällt aus Deutschland“, der im Amsterdamer Exil-Verlag Querido erschien.
Konrad Merz, der mit bürgerlichem Namen Kurt Lehmann hieß (er hatte sich dieses Pseudonym zugelegt, um seine noch in Berlin lebende Mutter zu schützen), verarbeitete in diesem Buch seine Biographie. Es ist ein Mosaik aus Erinnerungen, Erlebnissen, Emotionen, sozusagen ein Erfahrungsbericht seines bisherigen Lebens. Merz, der nach dem Krieg wieder nach Deutschland kam und als Physiotherapeut arbeitete, hat diesen Text während des Fluchtprozesses geschrieben, ihn aus dem Geschehen heraus verfasst, wobei nicht abzusehen war, wie sich diese für ihn schwierige Situation entwickeln würde. Dabei politisiert er nur indirekt, legt im Grunde Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit der Fremde ab. Dies geschieht in Form von Tagebucheintragungen und Briefen, die den authentischen Charakter des Buches deutlich hervorheben.
Erschütternd deutlich sind die Beschreibungen der gefühlten Entwurzelung, die Verluste von Heimat und Identität. Es scheint, als sei das Schreiben für ihn ein (vielleicht unbewusster) therapeutischer Akt, um den Schmerz des Verlusts zu verarbeiten und die Gegenwart zu überstehen.
Alfred Esser

Konrad Merz
„Ein Mensch fällt aus Deutschland“
Fischer / Querido-Amsterdam
Mit einem Nachwort von Klaus Mann
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Freitag 25.07.2025
Chaim Nachman Bialik „Wildwuchs – Erzählungen aus Wolhynien“
Woche des Buches & Urlaubslektüre (3)

Wer weiß denn heute noch wo Wolhynien lag? Dieses kleine, vom Schicksal der Großmächte wie Russland und Polen geteilte und gedemütigte Land mit gerade einmal knapp drei Millionen Bewohnern. Hier lebten bis Ende des 19. Jahrhunderts viele Deutsche, die im Laufe des 1. Weltkriegs zwangsausgesiedelt wurden. Der Hitler-Stalin-Pakt entschied 1939, dass Wolhynien endgültig ein Teil der damaligen Sowjetunion werden sollte.
Da jedoch lebte der russisch-österreichisch jüdische Dichter Chaim Nachman Bialik schon nicht mehr. 1873 in der Nähe der Großstadt Schytomyr, der heutigen Nordwestukraine geboren, starb er am 4. Juli 1934 in Wien.
Chaim gilt als einer der einflussreichsten hebräischen Autoren Israels und wird als jüdischer Nationaldichter hochverehrt. Nachdem er früh seinen Vater verlor, wuchs er beim Großvater auf, der ihm eine traditionelle jüdische Erziehung zukommen ließ. Chaim beschäftigte sich zudem mit Literatur und Politik, las säkulare Werke der europäischen Literatur in Deutsch und Russisch.
Als der Großvater starb ging er 1900, mittlerweile verheiratet, mit seiner Frau nach Odessa, wurde dort vom Zionismus beeinflusst und gründete mit Freunden einen Buch-Verlag, in dem er Klassiker der hebräischen Literatur und Schulbücher herausgab. Außerdem übersetzte er Meisterwerke der Literatur wie Shakespeares „Julius Caesar“, Schillers „Wilhelm Tell“, Cervantes’ „Don Quichotte“ und Gedichte von Heinrich Heine. Er lebte mit kurzen Unterbrechungen zwanzig Jahre in Odessa und wurde hier Augenzeuge mehrerer Progrome, die er literarisch in Gedichtform verarbeitete, die ins jiddische, russische und polnische übersetzt wurden.
1922 durfte Chaim dank der Fürsprache Maxim Gorkis die Sowjetunion verlassen. Es zog ihn, nebenher immer literarisch tätig, nach Berlin, von da aus nach Bad Homburg, wo er einen Ausreiseantrag ins britische Mandatsgebiet Palästina stellte und nach Tel Aviv auswanderte.
Er baute sich im Zentrum der Stadt ein großes Haus – bis heute das Balik-Haus. Von einer inneren Unruhe getrieben reiste er quer durch Europa und in die USA, verlegte weiter Bücher, schrieb selbst Gedichte sowie Erzählungen und brachte editorische Projekte voran. Er starb 1934 aufgrund von Komplikationen nach einer Operation in Wien.
Wildwuchs – Erzählungen aus Wolhynien“ enthält drei erstmals ins Deutsche übersetzte Erzählungen von Chaim Nachman Bialik . Sie beschreiben in Auszügen einen Teil des jüdischen Lebens, wie Chaim es in seinen Jugendjahren erlebt hat. Es sind sehr emotionale Geschichte, in denen Tragisches neben Urkomischen steht, Schmerz, Freude und Hoffnung innerhalb einer versunkenen Welt zum Ausdruck kommt. Einige dieser berührenden Beschreibungen erinnern an Siegfried Lenz und seine Sammlung von Kurzgeschichten in „So zärtlich war Suleyken“. Es sind Liebeserklärungen an eine Landschaft, an die dortigen Menschen, handeln aber auch von den inneren Unsicherheiten und seelischen Verwirrspielen eines Heranwachsenden.
Zudem enthält das Buch Chaims berühmtestes und erschütterndes Langgedicht „In der Stadt des Tötens“ über russische Pogrome, die in Kischinew zwischen 1903 und 1906 stattgefunden haben. Hier wird neben dem schreienden Ausdruck der Unmenschlichkeit auch immer wieder seine innere Zerrissenheit zwischen Religion und Aufklärung deutlich - geschrieben in einer Sprache berückender Poesie.
Alfred Esser

Chaim Nachman Bialik
„Wildwuchs – Erzählungen aus Wolhynien“
C.H.Beck
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