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1. Fürstenfeld: Ballett Salzburg mit „Carmen / Rosa / Bolero“
2. Landsberg: Nik Bärtsch’s Ronin - Perspektivwechsel
3. Fürstenfeld: Philharmonischer Chor Fürstenfeld - Opulenter Chorklang
4. Jack DeJohnette (geb. 09. August 1942 Chicago, gest. 26. Oktober 2025 Woods...
5. Landsberg: Tieftöner – Breit gefächertes Repertoire
6. Neue Bühne Bruck: Die Frau von früher
Dienstag 04.11.2025
Fürstenfeld: Ballett Salzburg mit „Carmen / Rosa / Bolero“
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Fotos: Christian Krautzberger
Fürstenfeld. Mehr Spanien geht an einem Abend nicht. Das Salzburger Landestheater hat sich in seinen Tanz-Neuinszenierungen im Herbst dieses Jahres auf die iberische Halbinsel konzentriert und präsentiert in der nasskalten Jahreszeit Sonne, Sinnlichkeit und Temperament. Der dreiteilige Ballettabend „Carmen / Rosa / Boléro“, der erst vor einer Woche in Salzburg Premiere feierte, ist samt Ensemble auf Tour und gastierte am Montagabend in der Fürstenfelder Theaterreihe. Zwei Stunden exzessive Bewegung, zwei Stunden pathetische Musik, zwei Stunden illustrierende Choreographien.
Die drei Stücke entführen in verschiedene Welten. Die preisgekrönte kroatische Choreografin Valentina Turcu beschäftigte sich eingehend mit „Carmen“, der nach Liebe dürstenden Arbeiterin aus einer Zigarettenfabrik in Sevilla, die durch Bizets Oper Weltruhm erlangte. Die Musik stammt in diesem Fall von Rodion Schtschedrin, der 24 Schlaginstrumente in Anlehnung an George Bizets Original in perkussive Stimmung brachte. In dem Stück wird die dramatische Handlung von Liebe, Eifersucht, Rivalität und Tod tanzend erzählt und erhält dadurch einen fast klassischen Charakter. Ausdrucksstarke Körperlichkeit kommt in schwelgerischer Schönheit über die Bühne. Eine Art neoklassischer Interpretation des sinnlichen Stoffs, in der Valbona Bushkola als Carmen ihre Bewegungskunst in voller Ästhetik zum Ausdruck bringen konnte.
Reginaldo Oliveiras, in Rio de Janeiro aufgewachsen und heute Leiter des Balletts des Salzburger Landestheaters, setzte sich in seiner Arbeit „Rosa“ mit Lebensabschnitten der erst 1992 geborenen spanischen Popdiva Rosalia Vila Tobella, genannt Rosalia, auseinander. Ob es so passend und wirkungsvoll ist, einzelne Pop-Arien von Rosalia musikalisch aneinander zu reihen, als Grundlage für diese Inszenierung, sei dahingestellt. Die Begeisterung des Publikums spricht für sich. Rosalia mäandert zwischen Flamenco mit Hitpotenzial, schwerer Oper, Hip Hop und stimmlich leidenschaftlicher Theatralik. Die Choreographie wirkt durch ihre Disziplin. Die einzelnen Tänzer haben nicht all zu viel Spielraum, beeindrucken in ihren minimal körperbetonten Bewegungen.
Zum Schluss dann der von Maurice Ravel von vornherein als Ballettmusik konzipierte „Bolero“. Auch wenn Ravel französischer Landsmann ist, der Bolero ist ein spanischer Tanz im ¾ Takt und zudem die Bezeichnung eines Teils der Tracht des spanischen Toreros. Insofern ist auch im dritten Stück des Abends die deutliche Verbindung zur iberischen Halbinsel hergestellt.
Die Choreographin Yonggeol Kim hat Ravels bekanntestes Stück für Tänzer bearbeitet und einen Reigen an aufreizenden Tanzfiguren und rhythmischen Bewegungsabläufen entworfen. Virtuos die Körperartikulationen und beeindruckend das synchrone, oft sanfte Schwingen, das sich letztendlich physisch entlädt. Der Abend insgesamt kommt einer Einschätzung der US-amerikanischen Choreographin Sara Shelton Mann recht nahe, die im Jahr 2000 sagte: „Tanzen heißt, ein Haus ohne Wände zu erbauen, ohne Vergangenheit und Zukunft, und sich dem, was ist, hinzugeben.
Das Publikum dankte mit Standing Ovation.
Jörg Konrad
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Montag 03.11.2025
Landsberg: Nik Bärtsch’s Ronin - Perspektivwechsel
Landsberg. Es gibt wenig Musik, die sich in einem unablässig herausfordernden Spannungsverhältnis von Präzision und Befreiung entwickelt. Nik Bärtsch's Ronin zum Beispiel ziehen ihren kreativen Impuls genau aus dieser Wechselwirkung. Am Sonntagabend gastierte das Schweizer Quartett im Landsberger Stadttheater und machte hier zum wiederholten Mal deutlich, wie weit die Band dabei von jeder Routine entfernt ist – und das nach über zwei Jahrzehnten ihres Bestehens. So wurde der Abend am Lech zu einer mitreißenden Expedition in ein musikalisches Land der klanglichen Gegensätze und stilistischen Unterschiede, zu einem grandios ausgeleuchtetem Abenteuer von Intensität und Leidenschaft.
Nik Bärtsch (Piano), Sha (Altsaxophon, Bass-und Kontrabassklarinette), Jeremias Keller (Bass) und Kaspar Rast (Schlagzeug) beherrschen die instrumentale Askese perfekt und sind zugleich die Protagonisten eines gnadenlosen Grooves, der das Universum zum Pulsieren bringt. Edmund Epple, Kurator der hiesigen Musik-Reihe, hatte im Vorfeld nicht zu viel versprochen, als er im Bezug auf die Musik von Ronin von einem „Perspektivwechsel“ schrieb, dem dieses Quartett frönt.
Denn einerseits wird das, was Ronin spielen, unter der Rubrik Jazz gelistet und eingepflegt. Andererseits nennt die Band ihre Spielweise unter anderem Zen Funk. Vom klassischen Jazz und seinen Definitionsversuchen soweit entfernt wie nur irgend etwas. Doch was sind in der Instrumentalmusik schon Worte?
Versuchen wir es trotzdem. Der Jazz bietet immerhin das tragbare Fundament und ein dichtes wie schützendes Dach vor ungewollten Einflüssen von außen. Er, der Jazz, gibt mittlerweile vielen Stilformen und Ausdrucksweisen, die sich weit abseits des kommerziellen Musik-Zirkus bewegen, präventives Asyl. Auch Ronin bewegen sich weit abseits des Mainstream-Zentrums in einer solchen Diaspora. Sie nehmen unterschiedlichste Ingredienzien und Inspirationen auf und formen daraus einen völlig eigenen, unverkennbaren Sound.
Ihrer Mixtour aus Jazz, Groove, Minimal und Exotismus birgt ein unglaublich kraftvolles Potenzial. Sie navigieren sich und das Publikum während des Sets in einen regelrechten Trancezustand. Ständige Wiederholungen, bei leichten Verschiebungen, kommen fast einem rituellen Charakter nahe.
Im Gegensatz zu vorherigen Auftritten entwickelte sich die Musik am Sonntag nicht schrittweise graduell. Geschlossenheit und Dynamik füllten vom ersten Ton an den Raum, der förmlich zu atmen schien. Es war Luft in der Musik, die angetrieben wurde, von sich ständig ändernden Schlagzeugfiguren. Kaspar Rast wurde nicht müde, Rhythmen aufzubrechen, sie zu zerhäkseln, sie zum Tanzen zu bringen. Er trieb seine Mannen unentwegt vor sich her, gab ihnen Halt und Richtung, navigierte sie überwältigend über jedwede harmonische Klippe, in ständiger Korrespondenz mit Jeremias Keller am Bass. Pure Magie die beiden im Zusammenspiel.
Natürlich laufen die Fäden bei Nik Bärtsch zusammen, oder sollte man sagen er knüpft aus diesen seine Message. Ebenso streng wie relaxt, auch ohne Hundertmeterläufe an der Klaviatur, weiß er zu beeindrucken. Manchmal sagt ein einzelner Ton weitaus mehr, als eine Traube von Noten. Und ähnlich bewegt sich auch Sha melodisch leicht verspielt durch die Module. Er verziert, hebt hervor und ästhetisiert dadurch die Musik auf eine ganz individuelle Weise.
Dass dieses Konzert von ECM mitgeschnitten wurde, sei nur am Rande erwähnt. Es nährt jedoch die Hoffnung, diesen grandiosen Musik-Abend als Album nachzuhören.
Jörg Konrad
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Dienstag 28.10.2025
Fürstenfeld: Philharmonischer Chor Fürstenfeld - Opulenter Chorklang
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Jubiläumskonzert zum 50-jährigen Bestehen des Philharmonischen Chores Fürstenfeld im voll besetzten Stadtsaal

Fürstenfeldbruck. Wenn ein Chor sein 50-jähriges Bestehen feiert, dann ist das zunächst die Bestätigung, dass es ihn noch gibt – was alles andere als selbstverständlich ist. „Der Chor“ ist allerdings eine abstrakte Größe, eigentlich sind es die Menschen, die die Ideen und das Feuer durch diese Zeitspanne getragen haben. Und da sind fünfzig Jahre eine besondere Zeit, weil die Verbindung zur Anfangszeit noch durch die Gründer lebendig werden kann. Beim Jubiläum des Philharmonischen Chores Fürstenfeld im ausverkauften Stadtsaal am Samstag wurde die Vergangenheit nicht nur in die Gegenwart zurückgeholt, immer wieder blitzte auch auf, wie stark die musikalische Gemeinschaft wie eine große Familie Raum für Initiativen und Entwicklungen gab.
Zwei Personen überspannten quasi den Abend und wurden mehrfach frenetisch gefeiert: Günter Mayr, der einen Chor brauchte, um als Tenorsolist auftreten zu können, und Heinz Große Boymann, der sich einen Chor als sinnvolle Ergänzung seines schon bestehenden Orchesters, des Akademischen Kammerorchesters München, wünschte. Damit war die Gründung der „Musikfreunde Grafrath“ besiegelt, Jahre später wurde das Ensemble in „Philharmonischer Chor Fürstenfeld“ umbenannt. Beide Gründer waren schon damals vielfältige Berufsmusiker, die im Laufe der Jahre ihre beruflichen Stationen mit den Chorprojekten verknüpften. Auf diese Weise entstand eine Repertoirebreite, die bei Chören ganz außergewöhnlich ist: Die großen geistlichen Werke der Oratorienliteratur wurden durch veritable Aufführungen ganzer Opern ergänzt.
Schon bald stellte sich heraus, dass das eine oder andere Chormitglied nicht nur über sängerische, sondern auch über komödiantische Talente verfügt, die im Fasching sehr wirkungsvoll zur Geltung gebracht werden können: Die Philharmonischen Faschingskonzerte im Sparkassensaal waren geboren, nicht zuletzt auch als finanzielles Rückgrat der opulenten Aufführungen in der Kirche und auf der Bühne. Dass auch diese Tradition nicht versteinert stehen blieb, sondern bis heute zur jährlichen Kultveranstaltung in Bruck gehört, beweist nicht zuletzt die vor einigen Jahren erfolgte Umbenennung in „PhilChor-Musical“.
Das Jubiläumskonzert am Samstag im Stadtsaal des Fürstenfelder Veranstaltungsforums stand voll im Jetzt: Der Philharmonische Chor Fürstenfeld und das Akademische Sinfonieorchester München füllten den ganzen Bühnenraum und wurden abwechselnd von Andreas Obermayer und Carolin Nordmeyer geleitet. Als Solisten waren Florentine Schumacher (Sopran), Eva Summerer (Mezzosopran), Nikolaus Pfannkuch (Tenor) und Manuel Kundinger (Bariton) zu hören. Einen großen Anteil an der Spritzigkeit des Abends hatte Daniel Große Boymann, der als Conférencier und zugleich Sohn eines Gründers nicht nur höchst kenntnisreich durch den Abend führte, sondern auch launig und voll Witz über die eine oder andere Anekdote plauderte.
Das Programm des Abends illustrierte quasi musikalisch die zahlreichen Aktionsfelder des Chores: Kraftvoll, aber doch präzise in der Polyphonie erklang der Satz „Stimmt an die Saiten“ aus Joseph Haydns „Schöpfung“, weich fließend ordneten sich die drei Solisten in den Gesamtklang in Charles Gounods „Gloria“ aus der „Cäcilienmesse“ ein. Voll Inbrunst durfte das „Libera me“ aus Giuseppe Verdis „Messa das Requiem“ nicht fehlen – und beeindruckte in der fast unendlichen Spannungspause nach dem letzten Ton und vor dem Applaus. Ein besonderes Highlight und zugleich eine Ehre für den Chor war die Uraufführung des für diesen Abend entstandenen Stücks „Der dunkle Spiegel“ des anwesenden Komponisten Enjott Schneider. An der Nahtstelle zwischen gesprochenem Wort, deutlichem Parlando und leise bebenden Orchesterklängen ergab sich eine ganz eigene Mischung aus Vertrautheit und neuer Klangsprache.
Nach der Pause gab es auch Verdi, hier aber den berühmtesten Chor „Va pensierò“ aus seiner Oper „Nabucco“. In die Operette ging es mit Johann Strauß und schmissigen Ausschnitten aus seiner „Fledermaus“. Die auf den Philharmonischen Chor umgedichtete „Telefonbuchpolka“ von Georg Kreisler war ein meisterliches Glanzstück von Daniel Große Boymann, der in atemberaubender Geschwindigkeit alle relevanten Namen genial unterbrachte. Drei Nummern aus Carl Orffs „Carmina Burana“ und eine XXL-Version für Chor von „Music“ aus der Feder von John Miles beschlossen schließlich das Programm.
Am Schluss gab es nicht enden wollenden Beifall für alle Beteiligten sowie eine Zugabe. Während die aktiven Chormitglieder auf der Bühne standen, war eine große Zahl an ehemaligen Sängerinnen und Sängern im Zuschauerraum verteilt. Die Nachfeier brachte dann alle zusammen.
Klaus Mohr
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Montag 27.10.2025
Jack DeJohnette (geb. 09. August 1942 Chicago, gest. 26. Oktober 2025 Woodstock)
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Sonorfell und Autogramm von Jack DeJohnette vom 24. Oktober 1993 nach einem Konzert im Theater von Gütersloh
mit Sängerin Betty Carter, Pianistin Geri Allen, Bassist Dave Holland und Schlagzeuger Jack DeJohnette.


Jack DeJohnette
„Pictures“
(ECM, 1976)


Vor 40 Jahren
Im Laufe seiner mittlerweile über fünfeinhalb Jahrzehnten andauernden Karriere hat er weit über 40 Aufnahmen unter eigenem Namen veröffentlicht. Als Sideman dürften es an die Tausend sein. Jack DeJohnette gehört unter den modernen Schlagzeugern im Jazz zu den Vielseitigsten, den Druckvollsten, den Dynamischsten, zu den Musikalischsten und ist aufgrund dessen einer der Gefragtesten Begleiter.
Geboren 1942 in Chicago erhielt er ab seinem vierten Lebensjahr Klavierunterricht. Erst mit achtzehn begann er sich autodidaktisch intensiver mit dem Schlagzeug zu beschäftigen. „Wenn ich geübt oder einen Gig gespielt habe, dann habe ich mich um musikalische Einfälle bemüht“, sagte er vor vielen Jahren in einem Interview. Jack spielt von Beginn an die unterschiedlichste Musik, von Avantgarde bis Rhythm & Blues, er kann lebhaft swingen wie die großen Drummer der 1930er Jahre, besitzt ein Faible für Musik, die man seit ein paar Jahren in den Bereich der Weltmusik verortet, er liebt knackigen Rock'n Roll und ist in der Lage Jazzsängerinnen einfühlsam zu begleiten. Immer steht bei ihm die Musik in ihrer Ganzheitlichkeit im Zentrum. Dieser ordnet er sein Spiel unter, lässt sich von ihr inspirieren und gibt ihr eigene Ideen und Denkanstöße zurück. Diese im Grunde instrospektive Arbeitsweise ist bei Trommlern die Ausnahme. Ebenfalls außergewöhnlich die Tatsache, dass der hauptamtliche Schlagzeuger nicht nur bei einzelnen Titeln den Klavierpart übernimmt. Jack spielte im Laufe seiner Karriere etliche Piano- und Synthesizer-Alben ein.
1966 erhielt er ein Engagement beim damaligen Jazz-Idol Charles Lloyd – an der Seite von Keith Jarrett. Dort wurde Miles Davis auf ihn aufmerksam, der ihn anschließend für seine ersten elektrischen Besetzungen engagierte. So gehörte Jack auch zur Besetzung der legendären „Bitches Brew“-Session. Es folgten Engagements bei Stan Getz, Chick Corea, Joe Henderson, Freddie Hubbard und vielen anderen großen Leadern - bis er 1973 erneut mit Keith Jarrett zusammentraf und für ECM München das Duo-Album „Ruta and Daitya“ veröffentlichte. Es war der Beginn einer Zusammenarbeit, die über vier Jahrzehnte anhielt, was sich in Dutzenden Titeln dokumentiert.
Sein erstes Schlagzeug-Solo-Album (natürlich mit Klavier- und Synthesizer Beiträgen) entstand 1976 in den Osloer Talent Studios. „Pictures“ ist eine Ansammlung von kurzen, zwar stillen, aber in dieser Stille sehr intensiven Aufnahmen. Impressionen voller Anmut, als würde Jack sein Instrument erkunden, es zum Singen bringen, Atmosphären einfangen. Es ist das Ergebnis von überragendem Handwerk, das sich mit überragender Schöpferkraft auf Augenhöhe befindet. Ebenso virtuos eingespielt, wie die Tiefen der Seele auslotend. Abstrakte Kammermusik, wie man sie von Schlagzeugern bis dahin nicht gekannt hat. Der Gegenentwurf zu allem, für das Jack zuvor bekannt wurde. Für drei Aufnahmen hat er sich den Gitarristen John Abercrombie mit ins Studio geholt, ein ebenso sensibler wie couragierter Begleiter, der hier mit seinen melancholisch verschatteten Impressionen die Musik um eine zusätzliche magische Stimme erweitert.
Jörg Konrad
(KultKomplott, Dezmber 2022)



Keith Jarrett / Gary Peacock / Jack DeJohnette
„Somewhere“
(ECM, 2013)


Es sind schon ganz besondere Tage für alle Jazzfreunde rund um die bayrische Landeshauptstadt. Speziell jedoch für jene, die ihr musikalisches Glück eng mit dem Katalog des Münchner Labels ECM verbinden. Denn gestern wurde dessen Gründer und Chefproduzent Manfred Eicher 70 Jahre alt; vor ein paar Tagen spielte im Amerika Haus der große Saxophonist Charles Lloyd, seit seinem grandiosen Comeback 1989 fest unter Vertrag bei ECM (über beide, Eicher wie Lloyd, gab´s, ebenfalls gestern, in der Süddeutschen Zeitung außerordentliche Würdigungen!). Und dann fand, natürlich gestern, in der Philharmonie im Gasteig eines dieser seltenen und atemberaubenden Konzerte des epochalen Trios Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette statt. (Zwei Drittel dieser Besetzung revolutionierten übrigens Ende der 1960er Jahre gemeinsam mit Charles Lloyd den Jazz ganz gehörig – trotz Grateful Daed und Jimi Hendrix!). Erst vor wenigen Wochen ist mit „Somewhere“ der neuste CD-Geniestreich von Jarrett, Peacock und DeJohnette erschienen. Wo? Und hier schließt sich der Kreis wieder: Natürlich bei Manfred Eicher und ECM.
Vor dreißig Jahren begann in den New Yorker Power Stations dieses aberwitzige Musikabenteuer der drei Musketiere des Jazz. Sie griffen mit Piano, Bass und Schlagzeug gehörig tief in die Archive der Jazzliteratur und polierten die dort still vor sich hin schlummernden Perlen des Great American Songbook neu auf. Mal als treibende Swingnummer, mal als schleppenden Blues, mal als jauchzenden Gospel, mal als fahrigen Bop. Aber immer die Balance zwischen lyrischer Vollkommenheit und rotznäsiger Frechheit haltend. Und diese Standards aus der „Mottenkiste des Jazz“, die Schlachtrösser in Form von Schlagermelodien und Filmhits, begannen unter ihren Händen zu glänzen, neu zu leuchten, in einem Licht zu strahlen, das man bis dahin nicht für möglich gehalten hat. Ungeheuerlichkeiten in Zeiten, in denen die Musikbranche begann, die weißen Areale exotischer Weltmusik für die Allgemeinheit zu erobern, zu beackern, sie wirtschaftlich zu erschließen und künstlerisch zu kolorieren. Zurück in die Zukunft – ein Erfolgsmodell mit Langzeitwirkung.
Bis heute, nach hunderten Konzerten und 20 Veröffentlichungen, hat die Musik dieser Supergroup des Jazz nichts von ihrer Spannung, ihrer Intensität, ihrer Konzentration und unbändigen Freiheit verloren. „Somewhere“ fasziniert mit improvisierter Musik im Schwebezustand. Die Themen gehen ineinander über, büßen vielleicht etwas an Tempo, aber nie an Eleganz ein. Diese Musik atmet die Größe und die Unwiederbringlichkeit des Augenblicks und sie feiert zugleich die Bedeutsamkeit der Stille.
Jörg Konrad
(KultKomplott, Juli 2013)



Kenny Wheeler
„Gnu High“
(ECM, 1976)


„ … eines der schönsten Alben der letzten Zeit überhaupt ...“ schwärmte im April 1976 das damals noch in Stuttgart beheimatete Jazzpodium über Kenny Wheelers „Gnu High“. Vor fast fünf Jahrzehnten erschien diese Platte und die Musik hat inhaltlich und in ihrer Wirkung bis heute nichts von ihrem Zauber eingebüßt. Insofern ist es nur konsequent und sollte für alle „Spätgeborenen“ eine tatsächliche Freude sein, dass ECM seine neue audiophile Vinyl-Reissue-Serie Luminessence mit eben jener Wheeler-Debüt-Aufnahme eröffnet.
„Gnu High“ gehört zu den wirklich raren Einspielungen, in denen Keith Jarrett außerhalb des Dunstkreises von Charles Lloyd und kurz darauf einen Miles Davis als Sideman zu hören ist. Jarrett setzt hier seine virtuose Kunst einfühlsam ein und glänzt mit aufreizenden, differenzierten Improvisationen. Er begleitet gelassen und spielt in seinen Solis gegen jede larmoyante Vergänglichkeit strukturiert an.
Der kanadische Trompeter Kenny Wheeler entschied sich bei der Vervollständigung dieses grandiosen Quartetts für den Bassisten Dave Holland und den Schlagzeuger Jack DeJohnette. Beide hatten mit Jarrett schon in Miles Davis Bands gemeinsam gespielt und faszinieren auch hier mit ihrer rhythmischen Finesse und aufregenden Balance, was den Gruppenduktus betrifft.
Wheeler selbst besticht mit seinem klaren wie melancholischen Ansatz auf Trompete und Flügelhorn. Er gibt der Musik eine melodische Strahlkraft, überrascht in den drei wunderbaren, eigenen Kompositionen aber auch mit schrillen, durchdringenden Attacken, sowie langlinigen Sehnsuchts-Intonationen. In dieser Reife und diesem Ewigkeitsanspruch gehört „Gnu High“ in eine Reihe von Aufnahmen, die dem Verstehen des „neuen“ Jazz extra Türen geöffnet hat, deren akustische Nachbeben bis heute zu vernehmen sind.
Neben dieser Kenny Wheeler-Einspielung ist zugleich das Album „Saudades“ des brasilianischen Perkussionisten Nana Vasconcelos auf Vinyl erschienen. Es folgen weitere, längst vergriffene oder bisher nie auf Vinyl erschienene Aufnahmen von Jan Garbarek, Don Cherry, Gary Burton, Zakir Hussain u.a..
Jörg Konrad
(KultKomplott, Juni 2023)


Keith Jarrett / Gary Peacock / Jack DeJohnette
"Up For It"
(ECM, 2003)

Seit zwanzig Jahren touren die drei gemeinsam durch die kargen Studios und mondänen Festhallen dieser Welt. Seit über zwanzig Jahren spielen Standards, kleiden sie das Great American Songbook in moderne, zeitgemäße Gewänder - erfolgreich wie kaum eine andere Jazzband. Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack Dehonette fahren unermüdlich fortauf ihren Exkursionen durch die Historie, die großen und weniger bekannten Songs der zwanziger und dreißiger Jahre immer wieder auf Herz und Nieren prüfend. Auf über einem Dutzend Veröffentlichungen haben sie stets neu deren Stärken in unserem Bewußtsein verankert und mit grandiosen Improvisationen manch eine ihrer Schwächen fließend umspielt. Und trotz der Unerbittlichkeit des Augenblicks folgen sie ihren Ideen auch heute noch mit beinahe kindlicher Neugier, ist die Bühne für sie eine Art kreativer Spielplatz.
So passt sich auch "Up For It" nahtlos in das Gesamtwerk des Trios ein. Aufgenommen an einem verregneten Sommerabend im südfranzösischen Antibes, zerlegen die drei zum wiederholten Mal "my Funny Valentine" fachgerecht, umspielen sie "Someday My Prince Will Come" mit Charme, weisen sie in "Autumn Leaves" neue Wege, die mitten hinein in die grandiose Up tempo Studie "Up For It" führt. Oliver Nelson "Butch & Butch" donnert wie ein gut geschmierter Güterzug durch den Raum und "Two Degrees East, Three Degrees West" von John Lewis klingt nach einer Reminiszenz an den Kopf des Modern Jazz Quartets und seinem liebevollen Verhältnis zum Blues.
Gwohnt ziehen sich jarrett, Peacock und DeJohnette in das Innenleben der Kompositionen zurück, weit entfermt von den eingängigen Themen dieser Gassenhauer des Jazz. Wie in einem Irrgarten suchen sie dort nach neuen Wegen, spüren Abgründe auf, die sie dann selbst überbrücken und übersteigen leichtfüßig wie leidenschaftlich, die stilistischen Grenzen eingefahrener Riten. Hierbei halten sich intellektueller Anspruch und emotionale Wirkung die Waage und alssen "Up For It" zu einem Fest für die Sinne werden. Musik für jede Tages- und Nachtzeit.
Jörg Konrad
(Jazzpodium, 7/8 2003)


John Abercrombie
„Gateway 2“ und „Characters“
(ECM, 1978 & 1978)

Vor 40 Jahren
Als der isländische Vulkan Eyjafjallajökull im April 2010 mit seinen dunklen Aschewolken sämtliche Flugpläne dieser Welt durcheinanderwirbelte, saß Gitarrist John Abercrombie, nach einem viel umjubelten Auftritt, für eine knappe Woche im sachsen-anhaltischen Halberstadt fest. Sämtliche transatlantischen Flüge waren auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Anstatt im Hotel einer unpersönlichen Großstadt auf die nächste Reisemöglichkeit nach New York zu warten, verbrachte der Gitarrist die folgenden Tage in dem kleinen Harzstädtchen. Es wurde mit dem ortsansässigen Musikverein gemeinsam gekocht, der Jazz-Star gab private Konzerte und Workshops für die heimischen Gitarrenfreaks, man diskutierte über Musik und die Welt „da draußen“ – zu der jeder direkte Kontakt abgebrochen schien. Die Zeit stand still, man war entspannt unter Gleichgesinnten, völlig privat. Und mitten drin eben jener Musik-Held, der einst aus der weiten Ferne mit so großartigen Alben wie „Gateway II“ oder „Characters“ auch den Musikgeschmack der Halberstädter Jazzfreunde nachhaltig formte.
„Gateway“ war Abercrombies vielleicht bekanntestes Trio. Jene Formation, mit der der Gitarrist seinen künstlerischen Durchbruch endgültig realisierte. Im seelenverwandten Verbund mit Bassist Dave Holland und Jack DeJohnette am Schlagzeug brachte er diese raffinierte wie virtuose Mischung aus Rock`n Roll, Kammermusik und freier Improvisation zum schwingen. Mit der zweiten Gateway-Veröffentlichung aus dem Jahr 1977, um die es hier geht, kamen stilistische Metaphern zum Ausdruck, wie sie für den Jazz damaliger Prägung nicht alltäglich waren. Die Intensität der Musik richtete sich nach innen. Sie implodierte regelrecht, ließ lyrische Spannungsbögen entstehen und Abercrombie verfeinerte die Single-Note-Stilistik auf eine ganz individuelle Art. Er hielt sich spielerisch zurück, entwickelte an seinem Instrument eine spröde und leicht flirrende Tonsprache, die nichts mit der protzigen Art zu tun hatte, wie sie die meisten Gitarristen an den Tag legen. Natürlich konnte auch Abercrombie kräftig in die Saiten greifen, konnte spielen bis die Funken sprühen, wie zuvor in den Bands von Billy Cobham oder der Fusion-Formation Dream. Aber hier war vieles anders. Es gab ein vorsichtiges Abtasten der drei Instrumentalisten, ein Erforschen von Stimmungslagen und Befindlichkeiten, bis die Musik langsam aber sicher an Fahrt aufnahm. Hier spielten Ideen und Handwerk mutig ineinander. Es gab keine Furcht vor trotzigen Behauptungen oder provozierenden Querschlägern, vor impressionistischen Träumereien und konzentrierter Entschlossenheit – bis am Horizont sich ganz leise ein Thema herausschälte. Oder diese radikale Bass-Linie in „Nexus“. Keiner konnte so etwas knapper und eindringlicher formulieren als Dave Holland. Und Jack DeJohnette? Der war schon zuvor an einigen Aufnahmen mit John Abercrombie beteiligt. Beide verstanden sich beinahe blind. DeJohnette gab den freien Improvisationen einen rhythmischen Fluss, der auch gehörige Untiefen und Stromschnellen aufwies. Schon damals ein brodelnder Feingeist unter den Schlagzeugern.
Kurz nach „Gateway II“ erschien „Characters“, das erste Solo-Album John Abercrombies. Auf verschiedenen akustischen und elektrischen Gitarren und Mandolinen schuf er sinnliche Atmosphären. Mal wirkten diese sentimental, mal distanziert, mal waren sie näher am Folk, mal näher am Jazz. Ein freies Spiel der Fantasie, vertonte Novellen in angedunkelten Räumen. Unprätentiös, behutsam, berührend. Das Ergebnis rauschhaft schön. Was er sich einmal wünschte? „Ich wäre gern perfekter“, sagte er in einem Interview um diese Zeit. Zum Glück ist er es nie geworden. John Abercrombie starb am letzten Dienstag 72jährig in New York. Seine Musik wird bleiben.
Jörg Konrad
(KultKomplott. April 2021)


Keith Jarrett / Gary Peacock / Jack DeJohnette
"Standards Vol. 1" & "Standards Vol. 2" & "Changes"
(ECM, 1983 & 1984)

Vor 40 Jahren
Am 06. Januar 1983 hatte der damalige Bundespräsident Prof. Dr. Karl Carstens die Auflösung des Deutschen Bundestages angeordnet. Vorausgegangen war ein konstruktives Misstrauensvotum Helmut Kohls (Bundeskanzler, CDU) nach Artikel 67 des Grundgesetzes. Ebenfalls im Januar desselben Jahres fand im Münchner Residenztheater die Uraufführung des Theaterstückes „Bruder Eichmann“ von Heinar Kipphardt statt - ein Skandal. Das Stück schildert den SS-Führer Adolf Eichmann als den Typus eines funktionalen Menschen, der im 20. Jahrhundert zum „Normalfall“ geworden sei.
Ein US-amerikanisches Forscherteam berichtete im Januar 83 über die Entdeckung des ersten Schwarzen Loches außerhalb unserer Galaxie und der schwedische Tennisspieler Björn Borg (11-maliger Grand-Slam Gewinner und 5-maliger Wimbledon-Sieger) erklärte zu jener Zeit seinen Rücktritt vom Profisport.
An einem Dienstagvormittag im Januar 1983 trafen sich im New Yorker Stadtteil Brooklyn, in den dortigen Power Station Studios, drei amerikanische Musiker, ein deutscher Produzent, ein norwegischer Toningenieur und ein halbes Dutzend dort angestellter Mitarbeiter. Es sollte die Geburtsstunde einer Formation werden, die mit ihren Veröffentlichungen die nächsten Jahrzehnte im Jazz enorm, um nicht zu sagen legendär bereichern sollte. Unter dem Bandnamen Standard Trio fanden die schon zuvor miteinander vertrauten Keith Jarrett (Piano), Gary Peacock (Bass) und Jack DeJohnette (Schlagzeug) in den holzverschalten Hallenstudios zusammen.
Im Gepäck hatten sie keine neuen, frisch komponierten, spektakulären Songs. Im Gegenteil: Im Studio verteilt lagen ganze Stapel von alten Noten und Manuskripten, die Klassiker des Jazz beinhalteten, „abgenutzte“ Stücke also, die zu den Standards dieser Zunft zählen. Sie wurden schon zuvor unzählige Male eingespielt und verschiedentlich interpretiert. Kompositionen, die aber zur Grundausstattung, zum Rüstzeug eines jeden ernsthaften Jazzmusikers gehörten und bis heute gehören. Es sind Melodien aus Broadway-Shows, aus erfolgreichen Musicals, aus mehr oder weniger bekannten Hollywood-Filmen und sogar Operetten-Hits aus den 1920er, 1930er und 1940er Jahren finden hier Eingang. Alle zusammen könnte man auch zum inneren Kreis der Evergreens des Jazz zählen.
Und mit diesen allseits bekannten Schlachtrössern des Genres wollte man in einer Zeit, als das Abenteuer Weltmusik in voller Blüte stand, als Miles Davis seine Karriere zwar mühsam, aber immerhin wiederholt ankurbelte, als Anthony Braxton seine mathematischen Formeln und sein Schach-know-how in avantgardistische Saxophonformeln goss und James Blood Ulmer mit seinem unvergleichlichen Free Funk die ersten Schritte unter eigenem Namen ging, in dieser Zeit also wollten die drei innovativsten unter den Instrumentalisten mit einem traditionellen Programm dem Zeitgeist neues Leben einhauchen, wollten mit „Oldies“ punkten. Aber Keith Jarrett sagte auch (laut Booklet): „Standards werden deshalb unterschätzt, weil die Leute gar nicht verstehen, wie schwer es ist, Melodien zu schreiben.“
Jarrett, Peacock und DeJohnette einigten sich auf ein umfassendes Repertoire und am 11. Januar um 11.25 Uhr begann die gemeinsame Session, die für zwei Tage angesetzt war, mit „Meaning Of The Blues“ von Bobby Troup. Drei Individualisten, die in den zurückliegenden Jahren jeder für sich Meilensteine des Jazz aufgenommen hatten, mussten hier ad hoc eine gemeinsame Basis finden, sich auf Augenhöhe begegnen, ohne Starallüren, und ohne sich solistisch jeweils in den Vordergrund zu spielen - um einen Gemeinschaftsfluss zu entwickeln. Das lief letztendlich weitaus besser und zügiger als gedacht – es waren eben absolute Profis am Werk. Nach dem ersten Stück hörten sie sich das Ergebnis an. Fazit: „Meaning Of The Blues“ geriet mit gut zwölf Minuten zu lang. Also noch einmal das Ganze, etwas bluesiger und etwas kompakter. Das zweite Ergebnis war perfekt – das erste Stück für das kommende Album somit im Kasten.
Das Trio nahm kontinuierlich ein Stück nach dem anderen auf und fast durchgehend gelang ihnen jeweils der erste Take brillant. So entstanden neben „Meaning Of The Blues“, ein furios explodierendes „All The Things You Are“ (Kern/Hammerstein), ein traumhaft getragenes „It Never Entered My Mind“ (Rodgers/Hart), ein in tänzerischer Gospelatmophäre interpretiertes „God Bless The Child“ (Herzog/Holiday) und am nächsten frühen Nachmittag „So Tender“ (Wilder/Engvick/Palitz) im mehr exotischen Bossa Nova Rhythmus. Elf Titel waren letztendlich eingespielt, die durchweg außergewöhnlich klangen (Jarrett: „Ich glaube, die Typen, die das damals geschrieben haben, hätten ihre Freude gehabt").
Keith Jarrett jedenfalls durchpflügt und zerpflückt die Melodien, setzt sie geschickt neu zusammen, findet Verweise zu anderen Songs und etlichen Zitaten aus der reichhaltigen Jazzgeschichte. Er bringt Lyrik und Swing spielerisch zusammen, arbeitet mit Kontrapunkten, beschränkten Pathos und hinreißenden Arpeggien. Es sind regelrechte Exkursionen, die er unternimmt, von den Zentren ohrwurmhafter Kompositionen, bis an die Ränder des freien Musikantentums.
All dies wird elegant begleitet, bekommt eine körperlich rhythmische Note, wird von Gary Peacock am Bass entschiedend unterstützt, verknüpft, aus dem Zusammenhang gerissen und wieder in Beziehung gesetzt. Er schafft eine Atmosphäre des Fundamentalen, von eingängigen Phrasen weit entfernt. Alles in allem groovende Intimität.
Jack DeJohnette nimmt all die rhythmischen Fäden und Chargen, die harmonischen Strukturen und taktartigen Verästelungen auf, webt neue Verbindungen und knüpft individuelle Koalitionen. Diese sensible Leidenschaft bringt die Musik tatsächlich zum Fliegen. Manchmal leise und behutsam, dann aber auch temperamentvoll und kontrastreich. Jack DeJohnette ist und bleibt das trommelnde Epizentrum im Jazz.
Doch noch immer war Studiozeit vorhanden und so improvisierten Jarrett, Peacock und DeJohnette mit „Flying“ und „Prism“ in furioser Spielfreude zwei freie Stücke, in denen noch einmal der ganze Druck dieser Aufnahmesession von ihnen fiel und sie im freien Spiel jede Angespanntheit von sich schüttelten. Spontanität, Dynamik und Dramaturgie sind hier die einzig bestimmenden Wegmarken. Und alle drei beherrschen diese perfekt, haben in den Aufnahmen zuvor genügend von ihrem jeweiligen Mitmusiker erkundet, um jetzt mit vollem Risiko musikalisches Neuland zu erschaffen.
Geplant war von Beginn an nur ein einziges Album in dieser Besetzung und mit diesem Material. Auch war keine größere Tournee geplant. Doch aufgrund der Fülle und der Qualität der Einspielungen entschloss sich das Label letztendlich für mehrere Veröffentlichungen. So erschien „Standards Volume 1“ am 1. September 1983, „Standards Volume 2“ am 29. April 1985. Das Album „Changes“, mit den Titeln „Flying 1“, Flying 2“ und „Prism“ kam am 01. September 1984 auf den Markt.
Bis heute gehört das Standard-Trio zu den ganz großen Formationen des Jazz. Wie kaum eine andere Band verbinden Keith Jarrett, Gary Peacock und Jack DeJohnette hier Tradition und Moderne. Die Veröffentlichungen unterstreichen durchweg die Zeitlosigkeit des Jazz und machen deutlich, zu welchen musikalischen Glanztaten Solisten auch in Gemeinschaft in der Lage sind.
Jörg Konrad
(KultKomplott, Dezember 2024)
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Foto: Sophie Lücke (Kontrabass)
Sonntag 26.10.2025
Landsberg: Tieftöner – Breit gefächertes Repertoire
Landsberg. Der Programmtitel war originell gewählt - dabei absolut passend: Tieftöner. Denn zwei der drei Instrumente, die am frühen Samstagabend im Mittelpunkt des Landsberger Rathauskonzertes standen, zählen zu den tiefsten Saiteninstrumenten. Der Kontrabass, von Sophie Lücke mehr gestrichen als gezupft und das Violoncello, gespielt von Franz Lichtenstern. Im Verbund mit Tomoko Nishikawa am Klavier waren es die farbigen wie abwechslungsreichen Klangkonstellationen, die diese drei Instrumente in verschiedenen Besetzungen im prunkvollen Festsaal regelrecht hervorzauberten. Hinzu kam ein sehr breit gefächertes Repertoire, für das sich das Trio entschieden hat und dem es sich hingebungsvoll widmete. Es reichte von Werken aus der Spätklassik bis hin zur zeitgenössischen Moderne.
Alle drei Instrumentalisten kennen sich seit Jahren, haben in den unterschiedlichsten Formaten und Ensembles gespielt und sind bestens miteinander vertraut. Und da es nicht allzu viel Literatur für Klavier, Cello und Bass gibt, wechselten die Besetzungen häufig – bis sich dann zum Schluss mit Rossini Fantasia für Violoncello, Kontrabass und Klavier von Giovanni Bottesini (1821-1889) tatsächlich alle drei Instrumente vereinten.
Eröffnet wurde der Abend mit Gioachino Rossini (1792-1868), der in der Zeit zwischen 1810 bis 1829 all seine neununddreißig Opern schrieb. „Der Barbier von Sevilla“ darf dabei wohl als sein bekanntestes Bühnenwerk angesehen werden. Das dreisätziges Duetto D-Dur für Violoncello und Kontrabass war einst eine Auftragskomposition des Londoner Bankiers David Salomons, für die Rossini damals ganze 50 Pfund erhielt. Eine beschwingte und temperamentvolle Komposition, in der Cello und Kontrabass durchweg auf Augenhöhe korrespondieren.
Luise Adolpha Le Beaus (1850-1927) 5 Stücke für Violoncello und Klavier op. 24 teilten Franz Lichtenstern und Tomoko Nishikawa, indem sie die ersten drei romantischen Instrumentalstücke vor der Pause und die beiden folgenden Kompositionen nach der Pause interpretierten.
Einer der Höhepunkte des Abends war mit Sicherheit Krzysztof Pendereckis (1933-2020) Capriccio per Siegfried Palm für Violoncello Solo. Ein Spiel- und Hörabenteuer, das den Bereich der Avantgarde deutlich streift. Franz Lichtenstern holte aus seinem Instrument durch streichen, klopfen, schaben und zupfen ein gewaltiges und aufwühlendes Klangerlebnis heraus. Siegfried Palm, ein herausragender deutscher Cellist, dem diese Komposition gewidmet ist, wurde von seinem Vater mit ganzer Strenge zum Solisten erzogen: „Wenn du ein Solist werden willst, und so scheint es ja, dann werde ich dich triezen, bis dir das Blut unter den Fingern rauskommt. Sonst brauchst du gar nicht erst anzufangen“, soll dieser ihm mit auf den Lebensweg gegeben haben.
Der andere Höhepunkt des Abends war Goerges Aperghis (geb. 1945) Obstinate für Kontrabass solo. Virtuose Schwerstarbeit für Sophie Lücke, die mit vollem Temperament und mit Leidenschaft sich diesem Monument der Sololiteratur widmete. Mit Gesten, Stimmlauten und Interaktionen drückte Sophie Lücke ihre ganzheitliche Nähe zu ihrem Instrument faszinierend und mit flammenden Risiko aus.
Neben der Begeisterung des Publikums für die herausfordernde Moderne, speziell in den Solostücken, stand natürlich das stimmliche Ineinandergreifen der Instrumentalisten im Mittelpunkt des Abends. Tomoko Nishikawa, Sophie Lücke und Franz Lichtenstern beherrschten das Material beeindruckend, wobei sie die einzelnen Phrasen interpretatorisch mit Sensibilität, dabei aber auch ausdrucksstark anlegten und ausspielten. Die farbenreiche Klangkultur des Abends überwältigte das Publikum, das mit lang anhaltendem Applaus dankte. Als Zugabe gab es das kurze wie unterhaltsame Duetto buffo di due gatti (zu deutsch „Humoristisches Duett für zwei Katzen“) von Gioachino Rossini.
Jörg Konrad
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Sonntag 26.10.2025
Neue Bühne Bruck: Die Frau von früher
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Das Spiel von Liebe und Zufall
Premiere an der Neuen Bühne Bruck mit Roland-Schimmelpfennig-Drama

Eine weiße Wand, vier Türen und 18 Umzugskartons – mehr braucht es nicht für die Szenerie von „Die Frau von früher“. Das in ganz Europa erfolgreich aufgeführte Drama von Roland Schimmelpfennig hatte am Samstag Premiere in der Neuen Bühne Bruck. Regie führte Philip Jescheck, der in den vergangenen Jahren wiederholt für eindringliche Inszenierungen an der Neuen Bühne Bruck gesorgt hatte. Eine Aufführung, die sich von den Phänomen Liebe überwältigen ließ und das Tragische, das Drama in den Hintergrund drängte.
„Die Frau von früher“, 2004 im Wiener Burgtheater uraufgeführt, ist seit Jahren ein Publikumserfolg, sein Autor Roland Schimmelpfennig zählt zu den meist gespielten deutschen Dramatikern. Insofern konnte die Neue Bühne Bruck nichts falsch machen, dieses Stück auf den Spielplan zu setzen. Regisseur Philip Jescheck hat sich in den vergangenen Jahren einen sehr guten Ruf u.a. in Innsbruck und am Münchner Volkstheater erworben. Das Credo der Neuen Bühne Bruck, mit Amateur-Schauspielern unter der Regie von versierten Profi-Regisseuren Theater zu machen, ist verwirklicht.
In der Neuinszenierung fliegen die Fetzen. Ähnlich wie bei einer Slapstick-Comedy werden die Türen auf- und zugeknallt, die Handlung wird nur für wenige Minuten angehalten, erneut vorgespult und wieder rekapituliert. Eine Melange aus Liebe und Zufall, die zeigt, dass der Auftritt der Ex-Freundin Romy (Barbara Galli-Jescheck), der Frau von früher, keineswegs tragisch enden müsste. Sie trifft auf das Ehepaar Frank und Claudia (Alexander Schmiedel und Patricia Flür), das sich längst auseinandergelebt hat. Dies drei Hauptrollen werden von den AkteurInnen gekonnt gemeistert. Sohn Andi (Korbinian Butterer) und Freundin Tina (Jasmin Hallbauer) schwärmen, träumen von der großen Liebe.
Die große Liebe – das ist dieser Inszenierung offenbar ein Herzensanliegen. Gleich zu Beginn der Aufführung schwelgen die SchauspielerInnen verliebt in Love-Songs, das Ende ist dagegen tragisch: Somy, „die Frau von früher“ übergibt der Ehefrau Claudia ein tödliches Präsent. Der Übergang von der Komödie zum Drama kommt in der Neuen Bühne Bruck eher beiläufig daher, vielleicht zu beiläufig. Somy hat zu leichtes Spiel - schließlich wird sie nicht aus Liebe zur Mörderin, sondern weil sie eine gemeingefährliche Psychopathin ist. Eine spannende Aufführung, die unaufgeregt und souverän unterhält und offenbar junges Publikum besonders begeistert.
Ina Kuegler

P.S. Die nächsten Aufführungen von „Die Frau von früher“ sind am 26. Oktober (19 Uhr), am 2. November (ebenfalls 19 Uhr), am 8., 14. und 15. November (jeweils 20 Uhr).
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