Michael Maars 650 Seiten umfassende Stilanalyse ist die Frucht jahrzehntelangen intensiven Lesens, und sein Buch ist selbst eine immer wieder überraschende und beglückende Lektüre, eine schier unerschöpfliche Fundgrube für alle Literaturbegeisterten. Es zeigt, wie man ein großes, anspruchsvolles Thema in bestem Sinne unterhaltsam, mit Humor und Witz behandeln kann, ohne je oberflächlich oder trivial zu werden.
Schlechten Stil zu beschreiben ist relativ leicht, sagt Michael Maar. Unfreiwillige Wiederholungen, Klischees, schiefe Bilder sind oft unschwer auszumachen. Doch der gute Stil braucht ein Gefühl für etwas nicht Messbares, aber doch Reales. Und diese Sensibilität, dieses feine Gespür hat der Autor in höchstem Maße.
Grundsätzlich gilt, dass Form und Inhalt in der Literatur nicht zu trennen sind. Der Stil muss dem Inhalt angemessen sein. Die richtige Balance zwischen beidem nennt Maar nach antikem Vorbild das „Aptum“. Im ersten Teil des Buches befasst er sich in einer Art „Stufenhierarchie“ mit den Bausteinen eines Textes, mit Satzzeichen, Wortarten, der Syntax, mit Metaphern und Rhythmus, und er versucht, stilistische Grundregeln zu erläutern. Das klingt trocken, ist aber höchst amüsant zu lesen und wird an einer Fülle von Einzelbeispielen veranschaulicht. Dabei gilt jedoch immer: keine Regel ohne Ausnahme! Eine gute Schriftstellerin oder ein guter Autor kann jede Regel durchbrechen. Da ist z.B. das Adjektiv oder Beiwort. Eine alte Schulweisheit, die auch schreibenden Debütanten eingebläut wird, lautet: Meide das Adjektiv! Wenn Verb und Substantiv stimmen, ist es oft überflüssig. Hier war vor allem der Adjektivasket Ernest Hemingway stilbildend. Aber: Was wäre z.B. ein Text von Thomas Mann ohne Beiworte? Wenn es in „Joseph und seine Brüder“ heißt: “Die Brüder lächelten ängstlich“, entsteht gerade durch das „ängstlich“ die Komik des Satzes, weil es in ironischer Reibung zum Verb steht. In Herta Müllers Roman „Die Atemschaukel“, der ihr den Nobelpreis eingebracht hat, sind es besonders die ausgefallenen Adjektive, die den durch Kriegsgefangenschaft seelisch beschädigten Oskar Pastior treffend charakterisieren: „Meine stolze Unterlegenheit. Meine zugemaulten Angstwünsche…“Auch Joseph Roth ist für Maar ein Meister des Adjektivs und der genauen, oft kühnen Metapher, ganz im Gegensatz zu Stefan Zweig, dessen Beiwörter und Sprachbilder meist erwartbar und blass wirken.
Überhaupt hat Michael Maar keine Scheu, auch anerkannte Autoren zu kritisieren und ein wenig an ihrem Denkmal zu kratzen. Irmgard Keuns frischen, naiven Ton, der ihren Roman „Das kunstseidene Mädchen“ in den 1930-er Jahren über Nacht berühmt gemacht hat, nennt er eine „ Kindchenschema-Manieriertheit“, und Fontanes „dahinplätschernde Dialoge“ empfindet er als ermüdend. Man muss ihm nicht in allem folgen, aber seine Urteile sind immer begründet und durch Beispiele belegt.
Das gilt auch für den zweiten Teil des Buches, in dem Michael Maar die Leserin und den Leser durch seine Privatbibliothek führt, seine Sammlung deutschsprachiger Prosa von der Weimarer Klassik bis zu dem 1982 in Graz geborenen Clemens J. Setz. Die Auswahl ist, wie Maar betont, subjektiv und durch seine persönlichen Vorlieben bestimmt. Wichtige Schriftsteller wie Böll oder Grass fehlen ganz. Auf der anderen Seite entdeckt er so manchen verborgenen Schatz, und so ist eine Literaturgeschichte entstanden, die nicht ganz dem Mainstream entspricht. An jeder einzelnen Autorin und jedem Autor analysiert Maar die Eigenheit ihres Stils und versucht, dessen Geheimnis auf die Spur zu kommen. Dabei gilt sein Augenmerk auch in starkem Maße weiblichen Schriftstellerinnen, darunter auch solchen, die vergessen oder bisher kaum bekannt sind. In dem Kapitel „Löwinnen um Goethe“ z.B. hebt er Rahel Varnhagen als stilistisch glänzende Briefeschreiberin hervor.
Ganz besonders schätzt Maar die österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts. Seine Helden sind Joseph Roth, Franz Werfel, (Stefan Zweig weniger), Heimito von Doderer, Franz Kafka; fast alle sind Juden. Die überragende Rolle, die jüdische Autoren für die deutschsprachige Literatur gespielt haben, begründet er mit der jüdischen Tradition, mit der Liebe zum Wort.
Diese Liebe zum Wort zeichnet auch Michael Maar selbst aus, und sie ist die Grundlage seines wunderbar reichen Buches „Die Schlange im Wolfspelz“.
Lilly Munzinger, Gauting
Michael Maar
„Die Schlange im Wolfspelz: Das Geheimnis großer Literatur“
Rowohlt
„Die Schlange im Wolfspelz: Das Geheimnis großer Literatur“
Rowohlt