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Mittwoch 20.04.2022
DER MANN DER DIE WELT ASS (plus Interview mit Regisseur Joannes Suhm)
Ab 28. April 2022 im Kino
Ein getriebener Karrierist in seiner Lebensmitte provoziert brutal eine private und berufliche Krise und zerstört alles, was in seinem Leben wichtig ist. Als sein dement werdender Vater bei ihm einzieht, verschiebt sich sein Leben auf den Nullpunkt. Ist er Opfer oder selbst verantwortlich für sein persönlichen Niedergang? Die Gräben zwischen ihm und allen, die ihn lieben, sind tief.
Ein Film von Johannes Suhm
Mit Johannes Suhm, Hannes Hellmann, Konrad Singer, Maja Schöne, Max Mauff und Michael Goldberg
Dieser Mann ist ein Desaster: verantwortungslos, aggressiv und gierig narzisstisch. Seine Frau mit den gemeinsamen Kindern hat er verlassen, den Unterhalt zahlt er unregelmäßig. Den kranken Bruder hält er auf Distanz und sein bester Freund taugt allenfalls noch als Punchingball und billiger Kreditgeber. Sogar den erfolgreichen Job hat er geschmissen, um sich selbstständig zu machen, „endlich frei zu sein“. Dafür zerstört er alles, was in seinem Leben wichtig war.
Wie und warum er sich so fühlt, darüber spricht er nicht: Ist er depressiv, ist es eine Midlife Crisis, vielleicht ein Burnout? Als dann sein alleinstehender, dement werdender Vater Hilfe benötigt und er ihn zu sich ziehen lässt, bricht ein Generationenkonflikt auf, der sichtbar macht, wie missverständlich und hilflos diese Vater-Sohn-Beziehung war und ist. Der Sohn möchte seinem Vater ge fallen, der Vater ersehnt sich nichts weiter als den Erfolg des Sohnes. Die Gräben zwischen den beiden sind tief und der Abstieg des Sohnes nicht aufzuhalten.
PRODUKTIONSNOTIZ
Johannes Suhms zurückhaltende Adaption des international erfolgreichen Theaterstücks „Der Mann der die Welt aß“ von Nis Momme Stockmann ist das Portrait eines Mannes, stellvertretend für eine ganze Generation in ihrer Lebensmitte. Der Sohn ist auf der Suche nach einer tragfähigen Identität, befindet sich aber im Kampf mit dem eigenen Ego und einer fehlgeleiteten Männlichkeit, der die Vorbilder abhanden gekommen sind. Seine seelischen Wunden scheinen tiefer zu sein, als er selbst es für möglich hält.
Eine Geschichte über männliche Hybris, verdrängte Gefühle, unbewusste Depressionen und den harten Kampf um Erfolg in einer kapitalistischen Welt, die wenig Raum für Verletzlichkeit lässt.
Der Film wurde ohne Förderung mit einem sehr kleinen Team und mit nur minimalen finanziellen Mitteln produziert – ein echter „Independent Film“. Es wurden jeweils nur wenige Drehtage in Folge abgeschlossen. Die Dreharbeiten erstreckten sich so übereinen Zeitraum von 12 Monaten im Jahr 2019, was für die Produktion eines Filmes ungewöhnlich ist. Das gab dem Team jedoch die Möglichkeit, Szenen in der Vorbereitung über einen langen Zeitraum ohne Druck zu erarbeiten und ‚reifen‘ zu lassen.
Vom ersten Tag an unterstützten der Autor Nis Momme Stockmann und sein Verlag die Entstehung des Filmes, so auch die Komponisten und Motivgeber. Die Finanzierung des Filmes wurde von Johannes Suhm über eine Crowdfunding Kampagne realisiert. Der Film feierte seine Uraufführung bei den 54. Internationalen Hofer Filmtagen. Die Premiere findet am 24. April 2022 mit einer anschließenden Podiumsdiskussion in Kooperation mit dem Bundesforum Männer e.V. in Berlin statt.
FRAGEN AN JOHANNES SUHM
Wie haben Sie das Stück von Nis Momme Stockmann entdeckt und was hat sie daran am meisten beeindruckt?
Im Jahr 2012 spielte ich die Hauptrolle in diesem Stück in einer Inszenierung am Theater Erlangen. Wir spielten in der „Garage“, einer Nebenspielstätte, dort sitzen die Zuschauer ‚laborartig‘ ganz nah an den Schauspielern. Ich spürte damals, dass die Sprache des Stücks, die einerseits sehr musikalisch formal geschrieben ist, doch auch durch ihre Schnoddrigkeit etwas sehr Filmisches hat. Die Präzision, die Pointen und auch den Humor des Stücks wollte ich festhalten.
Beeindruckt hat mich aber auch die dramaturgische Setzung der Hauptfigur. Wie der Autor den „Sohn“ dem Urteil des Publikums aussetzt, ist aus meiner Sicht schon besonders: Wie schrecklich kann ein Mann sein! Gefangen in sich selbst, macht er alles falsch, sagt zum falschesten Zeitpunkt das absolut Falscheste. Bis man sich irgendwann zu fragen beginnt, was wohl wirklich in ihm vorgeht. Was seine Probleme sein könnten?
Was war Ihnen besonders wichtig in der Inszenierung?
Ich wollte für den Film in der Besetzung und der Wahl der Drehorte eine so hohe Authentizität schaffen, dass man keinen Zweifel daran hat, dass diese Welt genau so existiert. Vor allem wollte ich mit den Schauspielern genug Vorbereitungszeit haben, um der großen Herausforderung dieser langen Dialogszenen gerecht zu werden.
Die Szenen sollten eine große Selbstverständlichkeit und Tiefe bekommen, damit man vergißt, dass ständig gesprochen wird: Die Geschichten der Figuren untereinander, wie verletzt ihre Beziehungen sind und wie verschämt und teilweise verstörend die Kommunikation untereinander ist.
Wie haben Sie sich die Szenen mit Hannes Hellmann erarbeitet? Ist es Ihnen beiden leichtgefallen?
Als ich Hannes Hellmann gefragt habe, ob er Lust darauf hat, die Rolle zu spielen, hatte ich schnell das Gefühl, dass er ein wirkliches Bedürfnis hat, diesen Vater zu spielen. Dann haben wir uns sehr langsam in mehreren Treffen den Szenen angenähert. Der Vorteil war, dass ich als Regisseur, der selbst mitspielt, den anderen Schauspielern völlige Freiheit geben konnte, da ich selbst ja auch mit meinem eigenen Spiel beschäftigt war. Am Set kam dann Lena Lessing dazu, die dem, was wir erarbeitet hatten, nochmal eine Art „Feinschliff“ geben konnte.
Ein namenloser Sohn, der nicht über sich, seine Gefühle und seine Werte sprechen kann, weil er keine zu haben scheint – und sich als Opfer fühlt: Warum glauben Sie, ist dieser Mann stellvertretend für eine ganze Generation?
Je älter ich wurde, umso mehr fiel mir auf, dass es den Männern in meinem Freundeskreis in der Mehrzahl bisher nicht gelungen war, zu erwachsenen, verantwortungsbewussten und ausgeglichenen Menschen zu werden. Dass bei vielen von ihnen ein verstörendes jungenhaftes Streben nach Erfolg, ein überdimensionierter Konkurrenzkampf und großer Beweisdruck vorherrschte. Mein Glaube daran, dass das Leben in ruhigeren Bahnen verläuft, wenn man die Vierzig überschritten hat, hat sich nicht bestätigt. Im Gegenteil. Als missverstandene Männlichkeit würde ich in diesem Zusammenhang die zwanghafte Suche nach dem eigenen Vorteil bezeichnen. Wenn der Vater als Vorbild nicht funktioniert und man sich an gesellschaftliche Stereotype klammern muss, denen man aber nie gerecht werden kann.
Das Schlimmste ist, wenn Männer in Selbsthass verfallen, weil sie ihren eigenen Idealen und Vorstellungen über ihr Leben nicht gerecht werden können, und dann ihr Umfeld angreifen. Und wenn sie nicht in der Lage sind, über ihre Gefühle zu sprechen, sich unter Umständen auch Hilfe zu holen. Sich versuchen, mit aller Kraft selbst wieder in den Griff zu bekommen, sich zusammenzureißen. Wenn wir ehrlich sind, ist es ja leider heute immer noch so, dass in unserer Gesellschaft der Verlust des Arbeitsplatzes, Altern und Krankheit als Schwäche verstanden und ausgeklammert wird.
Welche Tabus möchten Sie offenlegen? Wenn Sie mit dem Männerbild der Vater und Sohngeneration hadern, was muss sich Ihrer Ansicht nach ändern?
Ich denke, dass das Patriarchat sehr schwere Wunden gerissen hat, auch in uns Männern selbst. Die Generation meines Vaters, die kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurde, ist noch mit solch unerbittlicher Härte erzogen worden, da kann es auch heute nicht einfach sein, zu einem klaren Geschlechterbild als Mann zu finden.
In unserem Film wird zwischen Vater und Sohn thematisiert, dass die Mutter immer der wichtigste Ansprechpartner des Sohnes gewesen ist. Denn ab Ende der 60er-Jahre gab es dann ein feministisches Bestreben, das den Männern zum ersten Mal die „Macht“ in der Erziehung entzogen hat. Da wurde der Vater als das aggressive, bedrohliche Element eher abgeschottet. Und diese Entfremdung zwischen Vater und Sohn wollte ich im Film erzählen.
Was würden Sie Ihrem Sohn unbedingt mit auf den Weg geben wollen?
Der Vater ist für seinen Sohn das wichtigste männliche Vorbild, auch wenn man das vielleicht als Sohn selbst negieren möchte.
Dementsprechend bin ich mir bewusst, dass mein Sohn entscheidende Informationen, die er zum Leben braucht, von mir bekommt. Ob ich das möchte oder nicht. Deswegen möchte ich mit meinem Sohn über Gefühle sprechen können und ihn zum lebhaften Denken anregen. Ich möchte ihm zeigen, dass sich Männer im Austausch über das Leben bereichern können und sich gegenseitig helfen können. Er soll lernen, emphatisch zu sein, aber auch in der Lage sein, sich selbst zu schützen. Vor allem wünsche ich ihm, sich selbst nicht zu sehr unter Druck zu setzen.
Glauben Sie, dass Frauen den Film anders schauen als Männer? Wie?
Ich möchte mir nicht anmaßen, das als Mann beurteilen zu können, aber ich würde mir wünschen, dass vielleicht auch Frauen sich durch den Film Gedanken machen, wie ihr Verhältnis zu Männern ist, deren Verzweiflung sich auf ähnliche Weise äußert.
Autor: Siehe Artikel
Mittwoch 13.04.2022
FUOCO SACRO (plus Interview mit Jan Schmidt-Garre)
Ab 21. April 2022 im Kino
Opernabende können anregend sein, sie können langweilig sein. Manchmal sind sie lebensverändernd. Wer die Callas gesehen hat, spricht noch heute von ihr. Auch in unserer Zeit gibt es sie: Sängerinnen, die den Zuschauer ins Herz treffen. Drei von ihnen begleitet Jan Schmidt-Garre in seinem neuen Dokumentarfilm Fuoco sacro – Suche nach dem heiligen Feuer des Gesangs: Ermonela Jaho, Barbara Hannigan und Asmik Grigorian – Sängerinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten und doch eines gemeinsam haben: Sie gehen für ihre Kunst bis zum Äußersten. Der Film geht der Frage nach, was sie machen, wie sie es machen und was es in uns auslöst.
Ein Film von Jan Schmidt-Garre
Mit Asmik Grigorian, Barbara Hannigan, Ermonela Jaho u.a.
Fuoco Sacro – Suche nach dem heiligen Feuer des Gesangs ist ein essayistischer Film, der drei sehr unterschiedliche Sängerinnen von der Probe bis zum Auftritt begleitet: Ermonela Jaho kanalisiert ihr eigenes Leid, um ihrem Gesang eine Seele zu verleihen. Barbara Hannigan arbeitet permanent
daran, ihre Technik zu perfektionieren und pusht sich wie eine Sportlerin immer weiter. Asmik Grigorian hat einen eher intuitiven Zugang, der ihren Gesang so einzigartig macht. Obwohl die Sängerinnen aus den verschiedensten Kulturen – Albanien, Kanada, Litauen – kommen, verbindet sie ihre grenzenlose Leidenschaft für die Oper: Sie schonen sich nicht; auf der Bühne geben sie mehr als alles. Den letzten Schutzschild, auf den ihre Kolleginnen nicht verzichten wollen, brauchen sie nicht. Sie verschmelzen mit ihren Bühnenfiguren und wollen das totale Erlebnis. Nur mit Künstlerinnen wie ihnen kommt die Oper zu sich und es entsteht Musiktheater im empathischen Sinn.
Wie Stanislawski, der großen Schauspielern nachspionierte, um ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen, beobachtet der Film die Protagonistinnen und öffnet so den Blick für den Schaffensprozess selbst: Wie gestalten sie den Tag vor einer Premiere? Wie bereiten sie sich vor, damit ein perfekter Auftritt gelingt? Was geht ihnen durch den Kopf, wenn sie wenige Minuten vor dem Auftritt ein letztes Mal über die leere Bühne gehen? Was geschieht in den Sekunden vor dem Auftritt?
In seinem intimen Charakter wirft dieser Film einen bisher ungesehenen Blick hinter die Kulissen großer Opernbühnen. Der Regisseur des Films Jan Schmidt-Garre ist selbst Opern-Regisseur: Ihm öffnen sich die Sängerinnen wie selten zuvor und sprechen über ihre ganz eigenen Vorbereitungsrituale, ihre Beziehung zum Publikum, ihren Zugriff auf Gefühle und darüber, wie sie diese auf der Bühne ausdrücken. Dabei offenbaren sie dem Zuschauer das Glück der Selbstvergessenheit wie auch die Abgründe, ohne die keine große Kunst entsteht.
Jan Schmidt-Garre begibt sich auf die Suche nach dem heiligen Feuer des Gesangs und findet es an der Bayerischen Staatsoper in München, in der Oper in Frankfurt, bei den Salzburger Festspielen, in der Opéra national de Paris, beim Aldeburgh Festival in Großbritannien und in Göteborg. Wir sehen und hören Ermonela Jaho als Violetta in Giuseppe Verdis La Traviata und als Angelica in Puccinis Suor Angelica (mit Kirill Petrenko), Asmik Grigorian in und als Richard Strauss ? Salome sowie Barbara Hannigan als Mélisande in Claude Debussys Pelléas et Mélisande.
Ein Film über drei große Sängerinnen und zugleich ein Film über das Herz der Oper.
REGIE – JAN SCHMIDT-GARRE
Der Film- und Opernregisseur Jan Schmidt-Garre wurde in München geboren. Dort studierte er Philosophie an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten und Regie an der Filmhochschule München. Nebenbei arbeitete er als Regieassistent und Volontär bei den Regisseuren Rudolf Noelte,
David Esrig, Joachim Herz, Jean-Pierre Ponnelle und Harry Kupfer (unter anderem bei den Salzburger und Bayreuther Festspielen und an der Metropolitan Opera).
Danach arbeitete er als Regisseur und Produzent von Dokumentar- und Spielfilmen im thematischen Umfeld von Musik und Kunst: Darunter waren unter anderem ein Film-Essay mit dem Titel Bruckners Entscheidung über einen entscheidenden Moment im Leben des Komponisten Anton Bruckner; das filmische Portrait des legendären Konzeptkünstlers John Baldessari – This Not That; der Dokumentarfilm Der atmende Gott über den Ursprung des Yoga und die 360°-Oper 360° Figaro, in der erstmals eine Opernszene eigens für Virtual Reality (VR) konzipiert und inszeniert wurde.
In jüngster Vergangenheit führte er Regie im Musiktheater, unter anderem bei Manon von Massenet und Die tote Stadt von Korngold am Theater St. Gallen. An der Oper Leipzig inszenierte er 2015/16 Arabella und 2020/21 Capriccio. Sein Fidelio wurde für Kino und Fernsehen aufgezeichnet.
Jan Schmidt-Garres Filme wurden in über dreißig Länder ausgestrahlt und auf den Filmfestivals von Berlin, Chicago, Paris, Monte Carlo, Ohio, München und Prag ausgezeichnet.
INTERVIEW MIT REGISSEUR JAN SCHMIDT-GARRE
Was stand am Anfang Ihres Projekts Fuoco Sacro?
Eine Stimme. Ohne Bild, ohne Körper. Ich hörte im Autoradio eine CD-Rezension der selten gespielten Oper Zazà von Leoncavallo, und die Stimme dieser Zazà traf mich wie ein Blitz. Da war ein Zittern in dieser Stimme, Verletzlichkeit, Weisheit, Menschlichkeit, wie ich es eigentlich nur von der Callas kannte. Und von Carla Gavazzi, einer wunderbaren Sängerin, die in meinem Film Opera Fanatic auftrat. Es war die Stimme von Ermonela Jaho. Zu Hause habe ich sofort recherchiert, mir Youtube-Videos angesehen und bin dann nach London gefahren, um sie live als Butterfly in Covent Garden zu sehen. Dort gab sie sich so sehr der Rolle hin, zerfiel und starb vor meinen Augen, dass ich dachte: „Wie toll, dass ich das miterleben durfte, aber wie schade, dass dies
Ermonela Jahos letzter Abend war. Ich hatte das Gefühl, einem dieser seltenen Momente beizuwohnen, in denen Kunst und Realität miteinander verschmelzen, wie bei Keilberths Tod bei der Aufführung von Tristan.“ Aber Ermonela Jaho war nicht tot. Drei Tage später kam sie gut erholt wieder ins Theater, machte ihr seltsames Aufwärmtraining auf dem Gymnastikball, das ich später kennenlernen sollte, und starb wieder auf offener Bühne vor zweitausend Zuschauern. Da wusste ich, was für einen Film ich machen musste.
Und wie fanden Sie die beiden anderen Protagonisten?
Es sollte kein Porträt werden, sondern ein Film über die äußerst seltenen Grenzüberschreitungen, nach denen wir letztendlich suchen, wenn wir ins Kino gehen. Aber es war mir klar, dass es keine zweite Jaho gibt. Dass es aber eine Sängerin gibt, die die gleichen Grenzen überschreitet, obwohl sie in jeder Hinsicht das Gegenteil von Jaho ist, das wusste ich, und diese Sängerin war Barbara Hannigan. Sie war die Einzige, die mir sofort einfiel. Eine, die intellektuell ist, nachdenklich, cool, experimentierfreudig, geradezu sportlich im Ausprobieren und Ausreizen der eigenen Mittel. Irgendwie gehören diese beiden Frauen in denselben Film, dachte ich, aber wie soll ich das anstellen? Ich will sie nicht gegeneinander ausspielen, und jetzt, wo ich rede, graut mir schon vor dieser falschen Betonung. Als ob Jaho heißblütig und unre- flektiert wäre. Blödsinn: Sie weiß genau, was sie tut und wie sie es tun muss. Vielleicht ist sie sogar die Kontrollierte und Hannigan diejenige, die sich dem Affekt hingibt.
Bei zwei Protagonisten ist der Vergleich fast unvermeidlich.
Und deshalb habe ich mich gefragt, wen ich noch hinzufügen sollte, einen männlichen Sänger vielleicht, aber ich kannte niemanden mit dieser Kraft. Und dann hörte ich von den Proben von Romeo Castellucci in Salzburg, die eine große Aufführung der Salome versprachen, und von der Sängerin der Salome, Asmik Grigorian. Sie war gleichzeitig eine tragische Schauspielerin aus der Antike und ein Mensch von heute, textgetreu und völlig frei, ein Teenager und eine Frau. Und da hatte ich die Konstellation, von der ich hoffte, dass sie funktionieren würde.
Man führt Gespräche mit den Sängern, aber vor allem beobachtet man sie in Momenten, die man selten sieht: beim Aufwärmen, kurz vor der Aufführung oder unmittelbar danach.
Ich dachte an Stanislawski, der, bevor er der große Regisseur und Schauspiellehrer wurde, selbst ein Schauspieler war, und zwar ein sehr guter. Als junger Mann spionierte Stanislawski den berühmten Schauspielern seiner Zeit, wie Eleonora Duse oder Tommaso Salvinbuchstäblich hinterher, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Er beobachtete, was sie vor der Aufführung taten, wie ihre Rituale aussahen, wie ihre Garderobe aussah, und so weiter. Er wollte herausfinden, was diese Genies anders machen als ihre normal begabten Kollegen. Genau das habe ich mit den Sängern gemacht.
Und was haben Sie entdeckt?
Ganz einfache Dinge, aber sie sind sehr charakteristisch. Ermonela Jaho zum Beispiel bittet immer um eine Garderobe in einem anderen Stockwerk als ihre Kollegen. Das heißt nicht, dass sie arrogant ist und eine Sonderbehandlung will – ganz und gar nicht, sie ist eine sehr bescheidene Person und sehr kooperativ. Aber sie muss sich auf sich selbst einstellen. Sie kann nicht zehn Minuten vor der Aufführung mit der Suzuki-Sängerin über faule Agenten oder unmusikalische Regisseure reden. Da ist sie schon in ihrer fiktiven Welt.
Als Dokumentarist ist Ihr Ausgangspunkt ist immer die Realität?
Unbedingt. Und zwar in all ihrer Banalität und Zufälligkeit. Man kann einen Dreh so gut planen und vorhersehen, wie man will – was tatsächlich passiert, ist weitgehend zufällig. Und oft unbedeutend. Es ist reines Rohmaterial, aus dem ich erst im Schnitt die Realität schaffe, die ich mir vorgestellt habe. Und das gilt auch für die Puristen unter den Dokumentarfilmern, die scheinbar die nackte Wirklichkeit abbilden wie Frederick Wiseman.
Aber Sie manipulieren das Filmmaterial nicht.
Das hängt davon ab, wie man Manipulation definiert. Zu Beginn sichten die Cutterin Sarah Levine und ich das gesamte Material. Ich schreibe mit, markiere gute Stellen, mache mir Notizen über mögliche Kombinationen und Platzierungen. Das dauert ewig und ist gerade deshalb der unangenehmste Teil der Arbeit, weil das Material noch so zufällig und ungeformt ist. Dann beginnen wir, die Szenen zu komprimieren, immer noch vorsichtig, mit viel Luft. Indem wir eine Auswahl treffen, lösen wir uns bereits ein wenig von der, sagen wir, alten Realität. Und dann geht es unmerklich in die heiße Phase, wo wir beginnen, Module zu kombinieren, zu verschieben und den Puls des Materials immer mehr zu spüren. Manche Szenen sehe und höre ich tausendmal, es ist wie eine Psychoanalyse. Im Stoff tun sich Falten auf – das kann man sich nicht vorstellen. Alles wird transparent. Ich könnte ein zweihundertseitiges Buch über einen Satz von Asmik Grigorian schreiben, so viel entfaltet sich dort. Ich höre so viele Nuancen und Untertöne.
Das ist auch irgendwie pervertiert. Irgendwann sind die Sängerinnen und Sänger nur noch Farben auf der Palette, mit denen ich mein Bild male. Sie brauchen diesen Film ja nicht. Sie dienen meiner Erfüllung, und dafür sollte ich ihnen dankbar sein.
Wie ist es denn, wenn man nach der Fertigstellung eines solchen Werkes die Protagonistinnen wiedertrifft? Die ja wahrscheinlich schon weitergezogen sind?
Ich bin überrascht, dass sie noch am Leben sind.
Wie meinen Sie das?
Wie der Mörder in Süskinds Das Parfüm habe ich sie ausgequetscht, um ihren Duft zu erhalten. Da kann eigentlich nichts mehr übrig sein. Das ist natürlich Blödsinn, aber es beschreibt ein bisschen das Gefühl, das man nach so intensiver Arbeit gegenüber den Protagonistinnen hat. Am Anfang habe ich gar nicht das Bedürfnis, sie noch einmal auf der Bühne zu sehen. Das kommt erst langsam zurück, wenn der Film sein Eigenleben beginnt, unabhängig von mir.
In Fuoco Sacro haben Sie eine dritte Form gefunden, den inneren Monolog der Heldinnen.
Die „Inner Films“, wie wir sie nennen. Die Idee war, so nah wie möglich an das heranzukommen, was im Kopf einer Musikerin vor sich geht, während sie singt. Ein Maler kann reden, während er arbeitet, aber eine Sängerin kann das nicht. Ich habe das auch mit Pianisten versucht und bin dabei, daraus eine Reihe von Kurzfilmen zu machen.
Was soll das Publikum im Idealfall erleben?
Oh, ich möchte immer, dass dem Publikum am Ende die Tränen kommen. Und in diesem Fall hoffe ich, dass sie erleben, was Singen sein kann: ein hörbarer Kuss.
Autor: Siehe Artikel
Donnerstag 07.04.2022
SON OF CORNWELL
Ab 14. April 2022 im Kino
John Treleaven wird in einem kleinen Fischerdorf in Cornwall zufällig entdeckt. Sein Gesangstalent stellte er bis dahin nur im örtlichen Chor unter Beweis, als eine Konzertpianistin sein Potenzial erkennt. Johns Stimme ist der Ausweg aus dem verschlafenen Ort Porthleven und das Sprungbrett für seine internationale Karriere.
Doch wenn der Vorhang fällt, wird aus dem Star ein Privatmann und Familienvater. Heute ist er in Rente und kann auf ein bewegtes Leben voller Erfolg aber auch zahlreiche Entbehrungen zurückblicken – denn nicht immer ist es ihm gelungen, mit dem Leistungsdruck der Branche umzugehen.
Im Sommer 2018 verbringen John und sein Sohn Lawrence einige Wochen auf den Küstenstraßen Cornwalls, der Heimat Johns. In Vorfreude auf ein Konzert von John am Ende des Roadtrips genießen sie die gemeinsame Zeit, die dem Sohn früher oft verwehrt blieb. In Gesprächen und Interviews werfen die beiden einen nicht immer angenehmen Blick auf die Vergangenheit zwischen Karriere und Familienleben. Der Dokumentarfilm erforscht, was John als Künstler antreibt und bewegt. Aber es geht auch um die Schattenseiten eines Lebens auf und hinter der Bühne und die Opfer, die John für seine Karriere und Leidenschaft bringen musste.
Setting sind die malerischen Küstenstraßen Cornwalls, von denen John sich einst zu den Bühnen der Welt aufmachte. Der Roadtrip ist gespickt mit Material von Treleavens großen Auftritten und Interviews mit Unterstützern und Familienmitgliedern. „Son of Cornwall“ ist eine 90-minütige, biografische Dokumentation über den Aufstieg eines Talentes, die Schattenseiten einer Karriere als Opernstar und was es bedeutet, seinen Träumen zu folgen.
Ein Dokumentarfilm von Lawrence Richards
REGIE: LAWRENCE RICHARDS
Lawrence Richards wurde in Pretoria, Südafrika, geboren und wuchs in Großbritannien in London und Glasgow auf. Mit 12 Jahren zog er nach Mainz. Er wurde in eine Musiker- und Künstlerfamilie hineingeboren und trat in seiner Kindheit in verschiedenen Theaterstücken, Opern und Musicals für das Mainzer Staatstheater auf. Seit seinem 12. Lebensjahr entwickelte er eine große Leidenschaft für den Film. Nach Abschluss der Schule in Deutschland absolvierte er einen Masterstudiengang in Englisch, Film- und Theaterwissenschaft. Er begann auch für die deutschen Fernsehunternehmen SWR, ZDF und Sat-1 als Kamera- und Lichtassistent zu arbeiten, wo er viel über die Fernsehproduktion lernte. Danach erweiterte er sein Wissen und seine Erfahrung und arbeitete als freier Kameramann und Redakteur für NBC. Trotz seiner Arbeit für das deutsche Fernsehen blieb der Film immer seine Leidenschaft. Er beschloss, seine Ausbildung in Großbritannien fortzusetzen, wo er Film- und Fernsehproduktion an der Bournemouth University studierte. Während seiner Zeit in Großbritannien sammelte er weitere Erfahrungen bei der BBC als Regieassistent.
2009 gründete er seine eigene Filmproduktionsfirma namens Indievisuals. Sein erster Erfolg mit Indievisuals war ein Musikvideo für den Produzenten und Rapper Shuko, das auf MTV gezeigt wurde. Anschließend bekam er weitere Jobs als freiberuflicher Regisseur, Kameramann und Cutter für Film- und Fernsehproduktionen. Im Laufe der Jahre gewann er mehrere internationale Filmpreise für seine Arbeit als Kameramann und Regisseur bei verschiedenen Kurzfilmprojekten. „Son of Cornwall“ ist sein Regiedebüt für einen Abendfüllenden Dokumentarfilm.
STATEMENT DES REGISSEURS:
Mein Vater ist immer eine große Inspiration für mich gewesen und ich bin fest davon überzeugt, dass seine Geschichte viele andere Menschen inspirieren kann; insbesondere aufstrebende Künstler. Seit ich zur Filmschule gegangen bin, wollte ich seinem einzigartigen Leben einen Dokumentarfilm widmen. Als ich als Filmemacher anfing, dachte ich immer, meine Karriere sei das Wichtigste. Ich wollte wohl genauso erfolgreich sein wie mein Vater.
Aber als ich herausfand, dass ich selbst Vater werden würde, wurden die Zweifel in meinem Kopf immer lauter. Ich begann mich zu fragen, ob ich jemals die richtige Balance zwischen Familienleben und einer erfolgreichen Karriere finden werde und ob mein Streben nach Anerkennung es wert ist, persönliche Opfer zu bringen. Wer wäre besser geeignet diese Fragen zu beantworten als mein eigener Vater, der all diese Opfer vor mir gebracht hat!? Der große Erfolg meines Vaters hatte seinen Preis und es war nicht einfach für ihn, uns immer wieder monatelang zu verlassen. Egal wie einsam er wurde, die Show musste weitergehen.
Als ich jung war, haben wir nie wirklich viel geredet. Als er in seine Heimat eingeladen wurde, um ein Konzert in Cornwall zu singen, beschloss ich, mit ihm einen Roadtrip zu machen und die Momente auszugleichen, die wir verpasst hatten. Ich hoffte, dass ich durch den Besuch der Orte, die seine Kindheit prägten, herausfinden würde, was ihn zu dem Mann machte, der er heute ist. Ich möchte wissen, ob seine Karriere alle Opfer wert war und herausfinden, ob Johnny Richards aus Porthleven wirklich der Superheld ist, für den ich ihn immer gehalten habe. Wenn mein Vater sich für die Kamera öffnet und seine tiefsten Gefühle erforscht, wird er hoffentlich andere dazu inspirieren, ihren Träumen zu folgen und genug Zeit für ihr Familienleben zu haben, egal wie schwierig es wird.
PROTAGONIST: JOHN TRELEAVEN
Treleaven studierte in London – unter anderem bei Sir William Lloyd Webber – Gesang, außerdem ließ er seine Stimme in Neapel ausbilden. Sein erster Auftritt als Solist fand im Jahr 1979 in der Covent Garden Opera statt. Er gastierte in allen großen britischen Opernhäusern, wechselte dann aber nach Deutschland. Dort debütierte er am Nationaltheater Mannheim und mit den
Bamberger Symphonikern. Er gastierte dann auch in Australien und den Vereinigten Staaten. Während der Jahre 2004 und 2005 sang er an der Finnischen Nationaloper den Siegfried im Ring des Nibelungen von Richard Wagner. 2006 sang Treleaven an der Finnischen Nationaloper in Richard Strauss’ Die Frau ohne Schatten den Kaiser. In Amsterdam debütierte Treleaven unter Simon Rattle in der Rolle des Tristan in Richard Wagners Tristan und Isolde. Diese Rolle sang er vielfach in diversen Opernhäusern, etwa der Hamburgischen Staatsoper, dem Gran Teatro del Liceu in Barcelona, Oper Frankfurt, beim Brisbane Festival, im Teatro Giuseppe Verdi in Triest, dem Teatro Regio Turin, in Santiago de Chile. In der Partie sprang er auch in einem Konzert in Montreal ein und sang sie beim Luzern Festival unter Claudio Abbado, sowie mit dem BBC Symphony
Orchestra unter Donald Runnicles in London. Den Tristan verkörperte er auch bei den Münchner Opernfestspielen 2006 und 2007. Treleaven ist seit 1998 in mehr als einem Dutzend Film-Rollen erschienen.
Autor: Siehe Artikel
Mittwoch 30.03.2022
WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT
Ab 07. April 2022 im Kino
Paris, die ewige Stadt der Liebe. Hier leben sie dicht gedrängt, zwischen Sehnsüchten, Abenteuern, Dramen: Émilie schlägt sich nach ihrem Elite-Studium mit billigen Gelegenheitsjobs herum, hat schnellen Sex und träumt von einer Beziehung; Camille hat als junger Lehrer beruflich noch Illusionen, dafür keine in der Liebe, außer unkomplizierten Sex; Nora ist in die Stadt gekommen, um ihrer Vergangenheit zu entfliehen und mit Anfang Dreißig ihr Jura-Studium wieder aufzunehmen und Louise bietet als Amber Sweet im Internet erotische Dienste gegen Bezahlung an. Drei Frauen, ein Mann. Ihre Lebenswege kreuzen sich im 13. Arrondissement in Paris. Der attraktive Camille zieht bei Émilie als Mitbewohner ein, wird ohne Umschweife ihr Liebhaber und zieht ebenso schnell wieder aus. Liebe ist angeblich nicht sein Stil – bis er die kühle Nora trifft. Noras Hoffnungen auf einen akademischen Neuanfang in Paris haben sich unterdessen zerschlagen: Nach einer wilden Disconacht wollen Kommilitonen in ihr den Pornostar Amber Sweet wiedererkennen. Noras Zukunftsträume wanken. Sie muss die süße Amber nun unbedingt persönlich kennenlernen. Jacques Audiard zementiert mit seinem neuen Film WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT seinen Ruf als Meister des amoralischen Erzählens vom menschlichen Ringen um Liebe, Selbstbehauptung und Freiheit. Selten wurde im Kino mit solch anarchischer Schönheit gesucht, gerungen und geliebt. Mit seinem modernen Liebesreigen in Zeiten von Dating Apps und Sex im Internet erschafft Audiard einmal mehr unvergleichliche Filmkunst. Rohe Poesie des Lichts in Zeiten der Dunkelheit.
Ein Film von Jacques Audiard
Mit Lucie Zhang, Makita Samba, Noémie Merlant u.a.
Émilie (Lucie Zhang) ist gefangen im modernen Großstadttaumel von Paris. Über dem Alltag der Mittzwanzigerin, deren Familie ursprünglich aus Taiwan stammt, liegt eine gewisse Einsamkeit. Sie sehnt sich nach Liebe und Zugehörigkeit, ohne sich jedoch darauf einzulassen und ihr selbstbestimmtes Leben aufgeben zu wollen. Gefühle zu zeigen und zuzulassen fällt ?milie sehr schwer. Sie versteckt sich lieber hinter einer abgeklärten Maske, was nach außen erwartungsgemäß missverstanden wird. Ihr Studium an der Elite-Schule Sciences Po hat ihr nicht die Zukunftsperspektive verschafft, die sie sich erhoffte: Halbherzig verrichtet sie Gelegenheitsjobs im Call Center oder als Kellnerin. Sie versucht ihre eigenen Zukunftswünsche und ihr Bedürfnis nach Freiheit, über die einengenden Erwartungen ihrer Familie zu stellen und versteht es, die besorgten Anrufe der Mutter und Schwester erfindungsreich zu umgehen. Miete zahlen für ihr Apartment im begehrten 13. Arrondissement muss sie nicht – die Wohnung gehört ihrer Großmutter, die im Pflegeheim ähnlich einsam ist wie Emilie selbst. Ihre wechselnden Untermieter taugen mitunter für eine kurze Beziehung. In diesen Zeiten des Übergangs, in denen die Zukunft noch in einer manchmal wohltuenden, oft verunsichernden Unschärfe liegt, tritt Camille in Emilies Leben. Der Lehrer für Literatur zieht als neuer Untermieter bei ihr ein. Aus anfänglichem Zeitvertreib wird schnell echte Liebe – zumindest für Emilie. Sich dies selbst eingestehen kann sie jedoch nicht.
Camille (Makita Samba) steht mit beiden Beinen im Leben – er ist Mitte 30, Lehrer, ein Frauenschwarm. Ein erfolgreicher, gutaussehender Mann, gefestigt in seinem Welt- und auch in seinem Selbstbild. Letzteres manchmal zum Leidwesen seiner Mitmenschen. Die ersten Gehversuche seiner kleinen Schwester, die gerne Stand-Up-Comedian werden möchte, werden von ihm nicht ernst genommen. Vom Schulsystem ist er vollständig desillusioniert. Seine Bereitschaft sich emotional zu binden, tendiert gegen null. Er lernt die junge ?milie kennen, deren Apartment er bezieht und deren unverblümtes Auftreten ihn aus der Fassung bringt. Und auch die unschuldige Nora, die tatsächlich romantische Gefühle in ihm weckt. Die Beziehungen zu beiden Frauen hinterlassen erste Risse in der Maske Camilles – sie endgültig abstreifen kann aber nur er selbst.
Nora (Noémie Merlant) möchte alles auf Anfang stellen. Obwohl sie schon Anfang 30 ist, will sie ihr Jura-Studium in Paris wieder aufnehmen – im Rückspiegel wird die französische Provinz, der Job als Immobilienmaklerin und ihre schmerzhafte Familiengeschichte immer kleiner. Hinter ihrem
motivierten, vorgeblich selbstsicheren Auftreten liegt eine große Unsicherheit. Sie möchte offener, aufregender und begehrenswerter, weniger kindlich und naiv sein. Der Kauf einer Perücke für den Discobesuch, ein erster Schritt in diese Richtung, geht direkt nach hinten los. Denn das Netz verordnet ihr eine ganz neue Identität, die kaum abzuwehren ist. Ihre Mitstudenten wollen in ihr die Porno-Queen Amber Sweet erkannt haben. Anfeindungen von allen Seiten sind die Folge – Noras mühsam errichtete Struktur bricht zusammen. Ihr bleibt die rätselhafte Faszination von dem „echten“ Cam-Girl Amber Sweet, die sie nun unbedingt kennenlernen möchte. Ihre allabendliche Begegnung vor dem Laptopbildschirm wird zum Ritual der Einsamkeitsbekämpfung.
Amber Sweet (Jehnny Beth) ist zuallererst nur ein Körper, auf den ihre Kunden Fantasien projizieren können. Es ist kein echter Name, sondern der Alias einer ehemaligen Pornodarstellerin, die sich mittlerweile als Cam-Girl bei Pariser Studenten großer Beliebtheit erfreut. Als die junge Studentin Nora durch einen unglücklichen Zufall mit Amber verwechselt wird, tritt sie dem Chatroom der Sexarbeiterin bei.Anders als die drei anderen Protagonisten des Films hat Amber totale Kontrolle über ihre Welt – eine Welt der Wunscherfüllung und der Oberflächlichkeit. Im Gespräch mit Nora lässt Amber alle seelischen Hüllen fallen und den beiden Frauen gelingt es, die Zweidimensionalität aufzubrechen, die der Laptopbildschirm zwischen ihnen diktiert. Der glitzernde, auf Wunscherfüllung konditionierte Chatroom wird zum intimen Schauplatz einer echten Begegnung.
REGIE: JACQUES AUDIARD
Als Sohn des bekannten Regisseurs und Drehbuchautors Michel Audiard (DER KÖRPER MEINES FEINDES) kam Jacques Audiard 1953 in Paris zur Welt. Trotz anfänglichen Zögerns, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, zog es ihn mehr und mehr ins Filmgeschäft: Erst als Schnittassistent, dann als Theaterregisseur und schließlich als Drehbuchautor. Gemeinsam mit seinem Vater verfasste er 1983 das Drehbuch zum Psycho-Thriller DAS AUGE, der fünf César-Nominierungen erhielt. Sein Erfolg als Drehbuchautor setzte sich während der 1980er Jahre fort, bis er Mitte der 1990er Jahre seine ersten Regiearbeiten realisierte: WENN MÄNNER FALLEN (1994) und DAS LEBEN: EINE LÜGE (1996).
Schicksalhafte Begegnungen, die den Verlauf des Lebens für immer verändern, und die daraus entstehenden Prozesse der körperlichen, seelischen und historischen Transformation stehen von Beginn an im Mittelpunkt von Audiards Schaffen. Seine Figuren sind die Protagonisten privater und politischer Umwälzungsprozesse, im Transit zwischen den Welten. Verlorene, flüchtende Menschen, Einzelgänger und Systemverlierer. Und wo die Welt im Wandel ist, muss auch Kommunikation neu gedacht werden – die Sprache der Freundschaft, des Begehrens und der Liebe muss im Kino Audiards stets neu dechiffriert werden.
Egal ob die schüchterne Sekretärin Carla (Emmanuelle Devos) und der impulsive Ex-Sträfling Paul (Vincent Cassel) in LIPPENBEKENNTNISSE (2001), die verletzte Wal-Trainerin Stéphanie (Marion Cottilard) und der Taugenichts Ali (Matthias Schoenaerts) in DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN (2012) oder der 19-jährige Kriminelle Malik (Tahar Rahim) und Mafiaboss César (Niels Arestrup) in EIN PROPHET (2009) – lange Blicke, subtile Gesten und sorgfältig gewählte Worte bestimmen diese Beziehungen gegenseitiger Abhängigkeit und die behutsame Annäherung, von der diese bestimmt sind. Die Liebe ist im Kino Audiards eine absolute Notwendigkeit. Der Mensch und sein Bedürfnis nach schützender Geborgenheit steht immer an erster Stelle.
Auch die Figuren in WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT kämpfen mit diesem Bedürfnis, vor allem aber mit den neuen Regeln der Kommunikation, die ihre – und damit unsere – Zeit vorschreibt. Audiard erzählt von der Liebe im modernen Großstadtleben, das durch Chatrooms, Dating-Apps und Social Media rationalisiert und in Algorithmen übersetzt wurde. Der pessimistische Blick auf diese Gegenwart, den eine Auseinandersetzung mit digitaler Kommunikation leicht anbietet, bleibt jedoch aus. Audiard liegt in seinem neuen Meisterwerk vor allem daran, die Regeln und Möglichkeiten dieser neuen, sowohl sinnlichen als auch entfremdeten Sprache der Liebe nachzuspüren – und verstehen zu lernen.
Zwischen der Studentin Nora und dem Cam-GirlAmber Sweet,ein Kennenlernen,das sich nur zwischen den Oberflächen ihrer Laptop-Bildschirme vollzieht, entsteht eine der innigsten Beziehungen des Films. Die Menschen und ihre Masken, das wahre Ich und seine Darstellung, die Identität und ihre Herstellung werden in einen Reigen der Zufälle, der Begegnungen und des Begehrens miteinander verbunden und neu konstelliert. Das Internet ist längst ein neuer Paragraph im Diskurs der Liebe – Audiard schafft ein Generationenporträt, das mit großer Leichtigkeit von der Verlorenheit im Übergang und schlussendlich vom Ankommen im Hier und Jetzt erzählt.
Der Weg, den Jacques Audiard in seiner mittlerweile fast dreißigjährigen Regiekarriere zurückgelegt hat und der ihm die Goldene Palme, zehn Césars und unzählige Nominierungen eingebracht hat, ist geprägt von diesen Momenten des Ankommens. Kaum ein Regisseur hat die Feinheiten (zwischen) menschlicher Bedürfnisse und die sich wandelnden Wege, wie diese kommuniziert werden können, mit so viel Einfühlungsvermögen beobachtet wie er. Der Weg durch seine Filmografie führt durch viele schattenhafte Orte und Zeiten und bahnt sich nun seinen Weg zurück ins Licht. Oder auch: zu dem Ort, wo in Paris die Sonne aufgeht.
Filmografie (Auswahl):
2021 WO IN PARIS DIE SONNE AUFGEHT
2018 THE SISTERS BROTHERS
2015 DÄMONEN UND WUNDER
2012 DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN
2009 EIN PROPHET
2005 DER WILDE SCHLAG MEINES HERZENS
2001 LIPPENBEKENNTNISSE
1996 DAS LEBEN: EINE LÜGE
1994 WENN MÄNNER FALLEN
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Mittwoch 23.03.2022
BIS WIR TOT SIND ODER FREI
Ab 31. März 2022 im Kino
„Wir werden alles ändern. Alles.“ Es sind die frühen 1980er-Jahre in der Schweiz – Rebellion liegt in der Luft. Die engagierte Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger) will das rückständige Justizsystem von Grund auf umkrempeln. Sie vertritt Linksautonome wie die rebellische Heike (Jella Haase) und nutzt das Gericht als ihre Bühne. Eines Tages sucht der Industriellen-Sohn und Berufskriminelle Walter Stürm (Joel Basman), gerade mal wieder aus dem Gefängnis geflohen, ihren Rat. Der charismatische Stürm widerspricht allen Regeln, lebt bedingungslosen Egoismus und gerät dabei immer wieder mit dem System aneinander. Nicht nur Heike verfällt seinem jungenhaften Charme, auch Barbara fühlt sich zu ihrem Mandanten hingezogen. Als der Ausbrecherkönig erneut im Knast landet, kommt er in Isolationshaft. Und ausgerechnet Stürm, der keiner Ideologie anhängt, wird in linken Kreisen zum Symbol für Freiheit und die Würde des Einzelnen – und zum Objekt der Begierde zweier ungleicher Frauen.
Ein Film von Oliver Rihs
Mit Marie Leuenberger, Joel Basman, Jella Haase, Bibiana Beglau, Anatole Taubman u.v.a.
BIS WIR TOT SIND ODER FREI von Regisseur Oliver Rihs (Blackout, SCHWARZE SCHAFE) erzählt die auf wahren Begebenheiten basierende Geschichte des Schweizer Ausbrecherkönigs Walter Stürm und ist ein Film über Freiheit, Rebellion und Liebe.
In den Hauptrollen glänzen Marie Leuenberger (DIE GÖTTLICHE ORDNUNG, HELLE NÄCHTE), Joel Basman (WIR SIND JUNG. WIR SIND STARK, EIN VERBORGENES LEBEN) und Jella Haase (LIEBER THOMAS, BERLIN ALEXANDERPLATZ, FACK JU GÖHTE).
Seine internationale Premiere feierte BIS WIR TOT SIND ODER FREI im Hauptwettbewerb des Internationalen Filmfestivals Tallinn, wo Marie Leuenberger mit dem Preis für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Auch beim renommierten portugiesischem Avanca Film Festival erhielt der Film u.a. Auszeichnungen als Bester Film, für die Beste Hauptdarstellerin und die Beste Kamera. Die Deutschlandpremiere fand beim Filmfest Hamburg statt.
Auf den Straßen von Zürich kommt es 1980 bei Demonstrationen immer wieder zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen der Polizei und jungen Autonomen. Vermummte Polizisten prügeln mit Gummiknüppeln auf unbewaffnete Demonstranten ein und befördern sie in eine Polizeiwanne. Mittendrin die Anwältin Barbara Hug (Marie Leuenberger): „Ich hol euch hier wieder raus! Wir werden alles ändern. Alles!“ Ein paar Straßen entfernt gelingt dem legendären Ausbrecherkönig Walter Stürm (Joel Basman) zum wiederholten Mal die Flucht aus der Haft. In der Uniform, die er einem Polizisten gestohlen hat, steigt er mit seiner eigenen, umfangreichen Gefängnisakte unterm Arm in ein Polizeiauto.
Vor Gericht verteidigt Barbara Hug die junge deutsche Autonome Heike (Jella Haase), die wegen Teilnahme an einer unerlaubten Demonstration angeklagt ist. Für Staatswalt Peter Rothenburg (Anatole Taubman) sind die aufmüpfigen Jugendlichen ein rotes Tuch, er will hart durchgreifen: „Was soll das sein, Menschenrechte?“ tobt er. „Wir sind hier in der Schweiz, das ist der solideste Rechtsstaat der Welt. Hier gilt das Schweizer Gesetz und nichts anderes.“
„So machen Sie die ganze Schweiz zum Gefängnis“, kontert Barbara Hug und bricht bewusstlos zusammen. Seit in ihrer Kindheit ein Tumor entdeckt, eine Niere entfernt und sie zu hoch dosiert bestrahlt wurde, ist sie auf regelmäßige Dialyse-Behandlungen angewiesen. Doch wichtiger als ihre eigene Gesundheit sind ihr die Nöte ihrer Mandanten und der Kampf gegen die Missstände in der Schweizer Justiz. Ihr kämpferischer Elan wird durch ihren versehrten Körper immer wieder gebremst. Mit einem Trick gelingt es Barbara Hug, Heikes Freilassung zu erwirken, unter der Bedingung, dass sie das Land verlässt. Im Foyer des Gerichtsgebäudes lernt sie die deutsche Anwältin Meret Spengler (Bibiana Beglau) kennen, eine Freundin von Heike. Ihre in Schwaben gelegene Villa überlässt Spengler, die Tochter eines SS-Mannes einer alternativen Kommune mit Verbindungen zur RAF. Schon länger schauen die Anwälte in Barbara Hugs Kanzlei voll Bewunderung nach Deutschland, wo die berühmten Anwälte Ströbele und Schily das Gericht als Bühne nutzen. Von dort erhofft sich Barbara Hug frischen Wind für ihren eigenen Kampf. „Ich fände es total spannend, wenn wir uns mit euch deutschen Genossen austauschen könnten. Etwas mehr Kampfgeist täte uns gut!“
Draußen auf einer Parkbank beobachtet Barbara Hug wie ein Obdachloser unverhältnismäßig brutal von der Zürcher Polizei abgeführt wird, als sich unvermittelt Walter Stürm neben sie setzt. „Glückswunsch zum Titelblatt“, sagt er anerkennend, denn Hugs Spruch von der Schweiz als Gefängnis ist dort prominent platziert, während er selber es mit einem Juwelenraub nur zu einer kurzen Meldung gebracht hat. Für ihren Kampf gegen die Schweizer Justiz überlässt er ihr seine Gefängnisakte. Vor Gericht kann sie mit den gestohlenen Dokumenten zwar nicht antreten, aber sie spielt der Presse ausgewählte Ausschnitte zu, um die menschenunwürdigen Zustände publik zu machen. In den Beschwerden Stürms, unter anderem über das unzumutbare Gefängnis-Müsli, schlägt immer wieder sein subversiv schlitzohriger Humor durch.
Als Stürm Barbara Hug bald darauf um Fluchthilfe bittet, fahren die beiden über die Grenze nach Deutschland in Merets Kommune. Dort macht der völlig unpolitische Stürm Eindruck, mit seinen Safeknacker-Künsten und dem Versprechen, 50 Sturmgewehre für den bewaffneten Widerstand zu beschaffen. Ein bisschen missmutig beobachtet Barbara Hug, dass es zwischen Heike und Walter funkt. „Wir können ihn doch beide haben“, wird Heike später sagen. „Ich will ihn nicht für mich haben, ich will ihn frei.“ Doch lange hält es Stürm nicht in Deutschland aus. Sein nächster Anruf kommt schon wieder aus dem Gefängnis, denn bei einem Banküberfall, bei dem sein Kumpel ganz gegen Stürms entschiedene Gewaltfreiheit brutal auf die ältere Kassiererin einschlägt, wird er wieder festgenommen. Die Konfrontationen zwischen Stürm und der Justiz werden härter, Stürm kommt in Isolationshaft, geht in den Hungerstreik, verweigert die Rasur für eine Gegenüberstellung, wird von Gefängniswärtern schikaniert. Die Kanzlei kommt ins Visier der Staatsmacht, die überwachten Anwälte streiten sich über ihre Ziele und Methoden. Draußen vor dem Gefängnis demonstrieren die Autonomen, darunter auch Heike, der in der Schweiz das Erziehungsheim droht: „Isolationshaft ist Folterhaft“, steht auf Plakaten und Transparenten. Der unpolitische Stürm wird vor den politischen Karren gespannt.
„Es geht doch nicht darum, was Stürm vielleicht ist, sondern was man aus ihm machen kann“, argumentiert Hug.
Die Presse berichtet und Barbara Hug kämpft für die Sache und um sein Leben. „Schreiben Sie Ihre Geschichte auf, erzählen Sie, was mit Ihnen und Ihrer Würde passiert“, fordert die Anwältin. „Ich bin ein Täter, Frau Hug, Sie machen mich nicht zum Opfer“, kontert Stürm. Als er aus der Isolationshaft entlassen wird und zum Arbeitsdienst in der Metallwerkstatt des Gefängnisses eingeteilt wird, nutzt er eine Strafnachtschicht, um sich eine Leiter für den nächsten Ausbruch durch die Dachluke zu bauen. „Freiheit für Stürm!“, fordert ein Wandgraffiti, „i bi jo dusse“, schreibt der Komiker Stürm im Vorbeifahren noch schnell an die Wand: „Ich bin ja schon draußen.“ Noch einmal erbittet er eine Nacht Unterschlupf bei seiner Anwältin – und bringt Heike mit.
Am nächsten Tag wollen die beiden im geklauten Campingwagen Richtung Istanbul fliehen: „Nieder mit den Alpen, freie Sicht aufs Mittelmeer!“ Doch an der Grenze zu Italien kommt es nach einem Streit der beiden zum Zwischenfall mit Schusswechsel. Wieder landet Stürm im Gefängnis, wieder kämpft Hug um seine Würde, seine Freiheit, sein Leben. „Der Showdown am Zollhaus hat Sie zum neuen Wilhelm Tell gemacht, Ihr Fanclub wächst!“, stellt Hug fest. „Echte Veränderungen fangen immer mit einem Buch an!“ Barbara Hug bringt ihrem Mandanten eine Schreibmaschine.
HISTORISCHER HINTERGRUND
DIE SCHWEIZER JUGENDPROTESTE
Im Mai 1980 wurde Zürich durch gewalttätige Jugendproteste, die sogenannten Opernhauskrawalle, erschüttert. „Züri brännt!“ hieß ein 1981 vom Videoladen Zürich produziertes Video, das die Jugendunruhen aus Sicht der Aktivist*innen dokumentierte. Entzündet hatte sich der Funke an der konservativen Kulturpolitik der Stadt Zürich. Die Stadtregierung hatte kurz zuvor einen Kredit von 60 Millionen Franken für die Sanierung des Opernhauses bewilligt, Forderungen von Jugendlichen nach alternativkulturellen Angeboten jedoch abgelehnt. Am Abend des 30. Mai 1980 versammelten sich mehrere Hundert Jugendliche vor dem Zürcher Opernhaus, die Demonstrierenden warfen Bretter, Farbbeutel und Eier gegen die Polizei, diese antwortete mit dem Einsatz von Gummischrot und Tränengas. Es gab insgesamt mehrere hundert Verletzte auf beiden Seiten und Sachschäden in Millionenhöhe. Ausgehend vom Opernplatz breiteten sich die Unruhen in der ganzen Stadt aus und griffen später auch auf andere Schweizer Städte wie Basel, Bern und Lausanne über. Kleinere Jugendbewegungen formierten sich außerdem in St. Gallen, Luzern und Zug. In Winterthur wurde 1980 ebenfalls demonstriert, eine radikale Jugendszene machte in den folgenden Jahren mit einer Reihe von Farb-, Brand- und Sprengstoffanschlägen auf sich aufmerksam, die ihren Höhepunkt im August 1984 mit einem Sprengstoffattentat auf das Haus von Bundesrat Rudolf Friedrich erreichte. Die Behörden antworteten darauf mit einer rigorosen Verhaftungswelle, in deren Verlauf eine Frau in Untersuchungs-Isolationshaft Suizid verübte. International gab es in den frühen 1980ern vergleichbare Jugendbewegungen in Westberlin, Hamburg oder Amsterdam.
Am 20. Juni 1980 wurden mehrere Exponenten der Jugendbewegung als „Rädelsführer“ verhaftet. Eine Woche darauf öffnete unter Trägerschaft der Sozialdemokratischen Partei der Stadt Zürich das Alternative Jugendzentrum (AJZ) an der Limmatstrasse hinter dem Hauptbahnhof. In den folgenden zwei Monaten ereigneten sich wiederholt schwere Zusammenstöße zwischen der Jugendbewegung und der Polizei in der Innenstadt. Im Laufe der Jahre kam es wegen Drogenproblemen immer wieder zu Razzien, Räumungen und Schließungen. Am 25. Oktober 1980 wurde zunächst provisorisch das Kulturzentrum Rote Fabrik im Züricher Stadtteil Wollishofen eröffnet.
Der sogenannte Opernhauskrawall markiert den Beginn der alternativen Jugendbewegung in der Schweiz. Er bildete den Auftakt zu einer zwei Jahre dauernden Konfliktphase mit immer wieder gewalttätig ausartenden Straßenprotesten mit teilweise bis zu 3.000 Teilnehmer*innen. Die Zürcher Jugendunruhen kamen für Behörden und Öffentlichkeit überraschend, hatten sich aber bereits früher angekündigt. Schon in den späten 1960er Jahren gab es die „Globuskrawalle“, die ebenfalls mit dem Wunsch nach einem AJZ im Zusammenhang standen, nachdem der Stadtrat sein Versprechen eines Jugendhauses 30 Jahre lang nicht eingelöst hatte. Im internationalen Vergleich der 68er-Bewegungen dreht sich der Globuskrawall eher untypisch um die Forderung nach einem Autonomen Jugendzentrum.
Der Verdruss vieler Wähler*innen über die anhaltenden Krawalle führte bei den Gemeindewahlen im März 1982 zu einem Rechtsrutsch, parallel zum internationalen konservativ-neoliberalen Trend,mit dem Thatcherismus in Großbritannien, den Reaganomics in den USA und Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ in der Bundesrepublik. Auch bei den Stadtratswahlen flog die Sozialdemokratische Partei der Schweiz erstmals im 20. Jahrhundert aus der Regierung. Zehn Tage nach den Wahlen löste die AJZ-Trägerschaft den Vertrag mit der Stadt auf, und der Stadtrat ließ das Areal räumen und das Gebäude abreißen. Das Ende des AJZ hatte aber auch zur Folge, dass die seit den frühen 1970er Jahren zwischen verschiedenen Orten der Innenstadt pendelnde Drogenszene wieder heimatlos wurde und sich ab 1986 auf dem Platzspitz festsetzte.
Weitere Themen der Bewegung waren sozialpolitische Anliegen wie Wohnungsnot oder Drogenelend und der Überwachungsstaat. Gekämpft wurde weniger mit ideologischem Überbau als mit unkonventionellen Mitteln, wie Sprachwitz und Ironie, die sich in Parolen wie „Macht aus dem Staat Gurkensalat“ oder „Freier Blick aufs Mittelmeer – Sprengt die Alpen“ niederschlugen, mit aufwändiger grafischer Gestaltung von Flyern und Postern, die sich auch an Cartoons orientierte, mit neuen Kommunikationsmitteln wie Piratensendern und Videofilmen. Auch Graffitis der Bewegung waren an den Hauswänden Zürichs allgegenwärtig. Ein besonderer Coup gelang den Aktivisten am 16. Juli 1980 mit der sogenannten „Müller-Sendung“, einem der größten Skandale der Schweizer Fernsehgeschichte. In einer Diskussionsrunde mit prominenten Vertretern von Polizei und Politik traten zwei Vertreter der Bewegung als „Herr und Frau Müller“ auf. Mit der subversiven Forderung nach einem strengen Vorgehen gegen die Demonstranten, unter anderem mit dem Einsatz von Militär und Napalm, hielten sie der Gesellschaft einen wirksamen Spiegel vor.
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Freitag 18.03.2022
COME ON COME ON
Ab 24. März 2022 im Kino
Der New Yorker Radiojournalist Johnny (Joaquin Phoenix), der nach einer langen Beziehung wieder Single ist, arbeitet an einer Reportage, für die er Jugendliche in den gesamten USA zu ihrer Zukunft befragt. Doch nach einem Anruf seiner Schwester Viv (Gaby Hoffmann) muss er sich unerwartet um ihren Sohn kümmern, den neunjährigen Jesse (Woody Norman). Es ist das erste Mal, dass Johnny wirklich mit dem Thema Elternschaft in Berührung kommt und die Verantwortung für ein Kind übernehmen muss. Und für den ebenso aufgeweckten wie sensiblen Woody ist es das erste Mal, dass er längere Zeit von seiner Mutter getrennt ist.
Gemeinsam begeben sie sich auf einem Roadtrip quer durch die USA, auf dem Johnny versucht, sein Radioprojekt fertigzustellen, und mit jungen Menschen über Träume, Ängste und Hoffnungen spricht. Zwischen den beiden entsteht nach und nach eine tiefe, emotionale Verbindung, und die Reise mit all ihren Höhen und Tiefen verändert Onkel und Neffen für immer.
Ein Film von Mike Mills
Mit Joaquin Phoenix, Woody Norman
Verantwortlich für COME ON, COME ON zeichnet sich der Oscar®-nominierte Regisseur und Drehbuchautor Mike Mills (JAHRHUNDERFRAUEN, BEGINNERS), der sich zu diesem außergewöhnlich einfühlsamen Schwarz-weiß-Film durch viele Gespräche mit seinem eigenen Sohn inspirieren ließ. COME ON, COME ON feierte seine Premiere im September 2021 auf dem Filmfestival in Telluride und wurde seither bereits mit zahlreichen Kritikerpreisen bedacht und unter anderem für drei Independent Spirit Awards nominiert.
„Wenn Du an die Zukunft denkst, wie stellst Du sie Dir dann vor?“
Mike Mills’ neuer Film COME ON, COME ON ist eine sehr besondere Liebeserklärung an eine sehr besondere Beziehung, nämlich die zwischen Kindern und Erwachsenen. Im Zentrum steht dabei – vor dem Panorama US-amerikanischer Großstädte und uns alle angehender Themen des 21. Jahrhunderts – die Geschichte eines Mannes mittleren Alters, der zum ersten Mal erfährt, was es bedeutet, sich um ein Kind kümmern zu müssen. Es ist die Geschichte eines Erwachsenen, der lernt, die Bedürfnisse, Sorgen und Freuden eines Kindes mit vollem Respekt zu behandeln – und der erkennt, dass sie anders, aber nicht weniger wichtig sind als seine eigenen. Johnny und sein Neffe Jesse treffen in einem Moment der Krise aufeinander, sowohl innerhalb ihrer Familie als auch in der Welt im Gesamten. Ihre gemeinsame Zeit wird zu einem flüchtigen, aber transformativen Roadtrip, der ihre Sichtweise aufeinander und auf sich selbst für immer verändert. Aus den Höhen und Tiefen ihrer Reise durch die USA entwickelt sich eine funkelnde Meditation über Liebe, Elternschaft, Erinnerung und die Frage, wie wir im Leben weitermachen, auch wenn wir nicht wissen, was auf uns zukommt.
Joaquin Phoenix ist Johnny, ein umtriebiger Radiojournalist, der im ganzen Land junge Menschen nach ihren Gedanken zum Thema Zukunft befragt. Doch seine Pläne werden über den Haufen geworfen, als seine Schwester Viv (Gaby Hoffmann), zu der er nicht den engsten Kontakt hat, ihn bittet, in einer Notsituation bei der Betreuung ihres Sohnes Jesse (Woody Norman) einzuspringen. Dass er seiner Schwester helfen möchte, steht für Johnny außer Frage.
Nur Erfahrung mit der Erziehung eines Kindes hat er keine. Schon gar nicht mit einem so klugen und scharfsinnigen Jungen wie Jesse. Diese emotional aufgeladene und häufig sehr lustige Ausgangssituation verwandelt Mills mit dem ihm eigenen Feinsinn in eine sehr persönliche Erkundung der Gefühlswelt eines Mannes, der unerwartet vor den überwältigenden Herausforderungen des Elternseins steht, mit allen Schwierigkeiten und wundervollen Momenten, die dazugehören. In den schönen und den traurigen Zeiten, den stillen Nächten und den erstaunlichen Tagen fassen Johnny und Jesse nach und nach ein zaghaftes, aber tiefgreifendes Vertrauen zueinander.
Sie bringen sich gegenseitig dazu, ihre Ängste auszuhalten, und zu sagen, was viel zu oft nicht gesagt wird. Und während sie sich näherkommen, weitet Mills diese zarte Geschichte aus und berührt dabei Fragen und Themen, die weitaus größer sind: wie wir Menschen alle miteinander verbunden sind; was wir der Zukunft schulden; woran wir uns erinnern, aber auch mit wem wir uns an unsere Vergangenheit erinnern; und wie heilsam es auf dem Weg ins Ungewisse sein kann, für einen anderen Menschen Verantwortung zu übernehmen.
Schon in früheren Filmen wie BEGINNERS oder JAHRHUNDERTFRAUEN widmete sich Mills auf smarte und feinfühlige Weise den unterschiedlichsten zwischenmenschlichen Emotionen. Doch die einzigartige Mischung aus wunderschönen, klassischen Schwarz-weiß-Bildern, lebhaft-realistischen Einblicken in amerikanische Großstädte wie New York, Los Angeles, Detroit und New Orleans, tief berührenden Schauspielleistungen von Oscar®-Gewinner Joaquin Phoenix und dem hinreißenden Newcomer Woody Norman sowie authentischen Interviews mit echten jungen Amerikaner:innen machen COME ON, COME ON zu seiner bislang originellsten, komplexesten und thematisch weitreichendsten Geschichte und zu einem außergewöhnlichen Kinoerlebnis.
JOAQUIN PHOENIX / JOHNNY
Die Besetzung von Joaquin Phoenix als Johnny war für Mills kein typischer Prozess, sondern vielmehr eine nicht immer geradlinig verlaufende Phase vieler Gespräche zwischen den beiden, in denen sie das Drehbuch immer wieder analysierten und auseinandernahmen. Sie spielten das Drehbuch von vorne bis hinten gemeinsam durch, wobei der Regisseur alle Rollen außer Johnny spielte. „Ich bin kein Schauspieler, und das war ziemlich Respekt einflößend“, lacht Mills. „Aber Joaquin mag es, Dinge zu erleben, nicht nur zu lesen.“
Eine ganze Weile lang musste Mills das Projekt vorantreiben, ohne wirklich sicher zu sein, ob Phoenix die Rolle annehmen würde. Als er es dann schließlich tat, stellten die beiden aber schnell fest, dass sie in ihren Instinkten die gleiche Wellenlänge hatten. „Joaquin mag es nicht, wenn Dinge zu sehr wie Schauspielerei wirken. Je realer sich die Dinge anfühlen, desto mehr kann er spielen und frei sein“, beschreibt Mills seinen Hauptdarsteller. „Bei der Arbeit mit ihm ging es also darum, Situationen zu schaffen, in denen die entsprechenden Gefühle auf natürliche Weise entstehen konnten.“ Während sie jede Zeile besprachen, wurde Phoenix für Mills zu einem Vertrauten. „Joaquin hat ein sehr gutes Gespür dafür, wenn etwas Mist ist, und er hat mich immer darauf hingewiesen, wenn irgendetwas nicht ganz richtig oder zu erklärend wirkte. Er war einfach ein großartiger Kamerad und Freund, der immer versucht hat, dabei zu helfen, die Sache noch besser, spezifischer und realer zu machen.“
Am Set bewunderte Mills oft Phoenix' emotionale Durchsichtigkeit, seine Fähigkeit, jede Barriere zwischen seiner inneren Welt und der Kamera verschwinden zu lassen. Seine Arbeit in COME ON, COME ON fühlte sich für Mills anders an, sicherlich im krassen Gegensatz zu den gereizten, aufbrausenden Einzelgängern, die er in Filmen wie THE MASTER und JOKER dargestellt hatte. „Ich denke, diese Rolle ist durchaus Neuland für Joaquin“, kommentiert Mills. „Es kann die schwierigste Form der Schauspielerei sein, wenn man sich nicht so sehr in eine fiktive Figur verwandelt, sondern auf natürliche Weise Verhaltensweisen sichtbar macht, die ziemlich nah dran sind am eigenen Wesen.“
Als erstes tauchte Phoenix in Johnnys Arbeit oder vielmehr Kunst ein, jene ruhigen, aufmerksamen Interviews, die er mit Jesse im Schlepptau im ganzen Land führt. „Radio ist ein fast nostalgisches Medium, aber ich fand es gerade interessant, dass Johnny diese Form nutzt, um über die Zukunft mit Menschen zu sprechen, die vielleicht kaum Zukunft haben“, berichtet der Schauspieler.
Er befasste sich eingehend mit der Arbeit von Studs Terkel, dem Pionier der so genannten Oral History, der Rundfunkgeschichte schrieb, in dem er ausgerechnet ganz normalen, einfachen Menschen die großen Fragen des Lebens stellte. Und Phoenix hörte auch viel Material von Scott
Carrier, der für seine Beiträge in den NPR-Sendungen „This American Life“ und „All Things Considered“ bekannt ist und seine Karriere begann, als er mit einem tragbaren Kassettenrekorder per Anhalter durch Amerika fuhr.
Am meisten Einfluss auf seine Rolle hatte allerdings die Begegnung mit seiner Kollegin Molly Webster, die im Film Johnnys Kollegin Roxanne spielt, im wirklichen Leben aber vor allem als Senior Correspondent für das New Yorker Radio Lab bekannt ist. „Molly hat diese Fähigkeit, dass man sich sofort wohl fühlt, wenn man mit ihr in einem Raum ist. Sie ist neugierig auf andere bezieht sich gar nicht so sehr auf ihre Notizen, sondern achtet lieber wirklich darauf, was gesagt wird“, schwärmt Phoenix. „Von ihrer Art des Zuhörens habe ich viel gelernt.“
Nachdem er Molly bei einigen Interviews in Los Angeles begleitet und gelernt hatte, mit dem Ton-Equipment umzugehen, begann Phoenix, seine eigenen kleinen Unternehmungen zu starten. „Er wollte wirklich verstehen, wie diese Arbeit funktioniert – und wurde ziemlich gut darin“, erinnert sich Mills. „Joaquin spricht sowieso viel lieber über andere Menschen als über sich selbst, und er versuchte vor allem auf eigene Faust herauszufinden, wie er am besten einen Bezug zu den Kindern aufbauen konnte, mit denen er sprach.“
Über die tatsächlichen Interviews, die nun auch im Film zu sehen sind, sagt Phoenix: „Ich wollte einfach so präsent wie möglich sein, diesen Kindern wirklich zuhören und ihre Aussagen nicht in irgendeiner Weise beeinflussen. Ich war überrascht, wie wohl sie sich fühlten. Mike hat realisiert, dass jungen Menschen so selten wichtige Fragen gestellt werden, und tatsächlich waren sie wohl auch deswegen sehr offen dafür, über alles zu reden. Und sie waren alle sehr klug, ehrlich und nachdenklich. Es zeugt von Mikes Genialität in diesem Film, dass er diese ungefilterten, echten Stimmen zu Wort kommen lässt.“
Phoenix vertiefte sich so sehr in die Rolle, dass er Mills fragte, ob er damit experimentieren könne, Aufnahmen von Johnny zu machen, wie er im Bett über seinen Tag mit Jesse spricht. Dem Film und seinen Themen fügen diese Aufnahmen eine weitere, ergänzende Ebene hinzu.
„Man hört sich selbst anders, wenn man ein Mikrofon in der Hand hat“, meint der Schauspieler. „Es war eine Gelegenheit für Johnny, seinen privatesten Gedanken Ausdruck zu verleihen.“
Diese introspektiven, sehr ungeschützten Bekenntnismomente bilden ein Gegengewicht zu der vibrierenden Energie und Verspieltheit der Szenen zwischen Phoenix und Norman. Während Mills beim Schreiben seine Erfahrungen als Vater im Kopf hatte, beschäftigte sich Phoenix vor allem mit dem Gedanken, dass ein Onkel auch fast, aber eben nicht ganz, eine Elternfigur ist.
„Ein Onkel ist eher ein Freund“, findet er. „Aber gleichzeitig vermittelt der Film meiner Meinung nach auch einen Eindruck davon, dass wir alle eine Verantwortung für Kinder tragen, selbst wenn wir keine Eltern sind. Es geht um die Welt, die wir ihnen hinterlassen, und um die Maßnahmen, die wir ergreifen. Und es ist ja auch spannend, dass wir Kinder durch unsere Obhut zu neugierigeren und offeneren Menschen machen können.“
Bei all dem beobachtete Phoenix aber auch die ganze Zeit seinen Regisseur. Es ist zwar nicht so, dass Johnny ein genaues Abbild von Mills ist. Aber der Einfluss ist deutlich spürbar. „Für Johnny habe ich Mike buchstäblich die Schuhe abgenommen“, lacht Phoenix, „und auch meine Haare sind von ihm inspiriert. Ehrlich gesagt, denke ich, dass man sich bei einem so persönlichen Film immer auch ein bisschen was abguckt bei dem, der ihn geschrieben hat.
Mikes Wärme und Sensibilität haben ohne Frage auf diese Figur abgefärbt. Er ist jemand, der ganz stark reagiert auf das, was er in der Welt sieht, und zu tiefen Gefühlen fähig ist.“ Diese Wärme und Sensibilität spürte Phoenix auch hinsichtlich der Welt des Films und Johnnys Platz darin. „Was an Mike auffällt, ist, wie ausgeglichen und fair er zu jeder seiner Figuren ist“, findet der Hauptdarsteller. „Johnny hätte problemlos die Figur sein können, der am meisten Aufmerksamkeit und Verständnis entgegengebracht wird. Aber Mike behandelt alle anderen mit der gleichen Neugier und Empathie. Jede einzelne Figur wirkt wie ein echter, komplexer Mensch und hat ihre eigene Perspektive.“
WOODY NORMAN / JESSE
Die Geschichte von Kindern im Kino ist weitgehend eine Geschichte der Unschuld oder des Leichtsinns. Doch man kann auch von der Kindheit als etwas erzählen, was emotional und psychologisch nicht weniger kompliziert ist als das Erwachsensein, sondern einfach nur anders. Und genau das hatte Mills mit der Figur des Jesse im Sinn. Dessen Leben als Neunjähriger ist erfüllt von Zauber und verrücktem Spaß, doch es kann auch chaotisch und ärgerlich sein und ist genauso schwer zu bewältigen ist wie das eines Erwachsenen. Jesse ist, wie seine Mutter sagt, „ein komplettes menschliches Wesen“.
Die Herausforderung war entsprechend, einen jungen Schauspieler zu finden, dem es wirklich gelingt, die Kamera an seinen chaotischen, aber tief empfundenen Gefühlen teilhaben zu lassen. Kein leichtes Unterfangen, denn Jesse musste genauso viele Ecken und Kanten haben wie Johnny. Genau wie er ist er von Natur aus eher ein Einzelgänger, der von seiner Neugier und all ihren Gefahren angetrieben wird. Und wie Johnny ringt er damit, seinen Platz in der Familie zu finden, vor allem, während seine Mutter damit beschäftigt ist, seinem bipolaren Vater durch eine Krise zu helfen.
„Ich wollte ein Kind, das nicht nur charmant, niedlich und verspielt ist, sondern auch viele Persönlichkeits-Schattierungen hat“, erklärt Mills. „Ich weiß noch, dass Joaquin am Anfang immer wieder zu mir sagte: ‚Wo findest Du so ein Kind? Du brauchst wirklich ein einzigartiges Kind für diesen Film.’“
Sobald Mills die Auswahl möglicher Kinderdarsteller eingegrenzt hatte, begann Phoenix damit, mit den Jungen, unter denen sich auch Woody Norman befand, improvisierte Spielsessions abzuhalten. „Es klappte nicht alles auf Anhieb, aber bei Woody sahen wir auf jeden Fall etwas, das uns auf Anhieb interessierte. Deswegen buchten wir extra seinen Flug so um, dass er am nächsten Tag noch einmal vorbeikommen konnte“, erinnert sich der Regisseur. „Ich fragte Woody dann, was er normalerweise mit seinem Bruder spielt, und er sagte: Wrestling. Also tat Joaquin so, als sei er ein großer WWF-Kämpfer, und es konnte losgehen.“
Norman wuchs in Großbritannien auf und wurde mit der beliebten BBC-Serie „Poldark“ bekannt. Er hatte noch nie die Hauptrolle in einem Film, aber Mills spürte, dass er das Zeug dazu hatte. „Woody legt es nicht darauf an, zu gefallen oder es jedem recht zu machen. Er möchte einfach für sich herausfinden, was für ihn wahr und real ist. Und dabei ist er selbstbewusst und nie allzu ehrfürchtig“, beschreibt Mills seinen jungen Hauptdarsteller. „Was Jesse sehr ähnlich ist.“
Vor allem aber zeigte Norman eine verblüffende Gabe, sich so sehr in Szenen zu vertiefen, dass er vollkommen darin abtauchte. „Manchmal habe ich mich gefragt, ob Woody überhaupt weiß, dass da eine Kamera ist. Er ist in der Lage, auf sehr ungewöhnliche Weise tief in seine Figur vorzudringen und dann dort zu bleiben“, sagt der Regisseur. „Es gibt viele Momente im Film, in denen Jesse eigentlich mit niemandem wirklich spricht, aber doch außerordentlich präsent und lebendig ist.“
Norman selbst spürte eine Nähe zu Jesse, auch wenn er nicht dessen Liebe zur klassischen Musik teilt, sondern selbst eher Heavy-Metal-Fan ist. Ihm gefiel vor allem, dass die Figur ein typisch moderner Junge ist, der sich aber auch schon mit vielen großen Fragen beschäftigt. „Ich mag an Jesse, dass ich ihn teils als Kind und teils als Erwachsenen sehe“, erklärt Norman. „Er sieht aus wie ein Kind, aber er hat auch schon einige sehr erwachsene Gedanken. So wie die meisten Kinder eigentlich.“
Das Drehbuch bot ihm auch ein emotionales Spektrum, das in Rollen für seine Altersgruppe sonst selten ist. „Innerhalb von ein paar Minuten ist er lustig, traurig, glücklich und wütend“, fasst Norman zusammen. „Und ich denke, dass es genau das ist, was menschliche Beziehungen wirklich ausmacht.“
Phoenix nannte Norman den „X-Factor“, weil er Dinge jenseits des Erwartbaren und Gewöhnlichen tat. „Er ist ein aufgeschlossener, superschlauer, brüllend komischer Junge“, beschreibt Phoenix seinen Ko-Star. „Er hat sich einfach Dinge einfallen lassen, die ein echter Knaller waren. Improvisationen zum Beispiel, die unglaublich persönlich und lebendig wirkten und eine komplette Geschichte der Figur andeuteten.“
Normans Art brachte auch in Phoenix’ Spiel neue Seiten zum Vorschein. „Ich versuche immer, zu der Art von Schauspielerei zurückzukehren, die ich als Kind gemacht habe, weil man so frei ist, nicht selbstzweifelnd und sich nicht wirklich bewusst, dass man eine bestimmte Persona hat. Es war schön, dass wieder zu erleben“, sagt er. „Woody war dabei in so vielerlei Hinsicht ein Wegweiser. Nichts hätte ihn aus der Bahn werfen können. Ich mache das schon so lange, dass man leicht in bestimmte Muster gerät. Was ihn betrifft, gab es keine Fehler.“
Von der Arbeit mit Phoenix ließ sich Norman kein bisschen einschüchtern. Er sah vor allem eine Gelegenheit zum Lernen und nutzte sie. „Joaquin hat mir viel beigebracht“, sagt er und macht Phoenix das vielleicht größtmögliche Kompliment, indem er sagt: „Für mich ist Joaquin eigentlich wie jemand in meinem Alter.“
Vieles von Jesses Körperlichkeit fiel Norman spontan ein, auch die Mimik, die ein wichtiger Bestandteil seiner zwischenmenschlichen Beziehungen ist. „Das geschah alles ganz von allein“, erinnert sich Mills, „also begann ich, es einzubauen. Woody ist großartig darin, mit sehr wenigen Regieanweisungen zu improvisieren. So wie in der Szene mit Scoot McNairy als seinem Vater, in der Woody einen ganzen Tag mit ihm pantomimisch nachstellt und das zu einem unvergesslichen Moment macht.“
Norman war auch in der Lage, sich ganz natürlich in Jesses lebhaftes, psychologisch kompliziertes Fantasieleben hineinzuversetzen – einschließlich des Spiels, in dem er vorgibt, ein trauriges Waisenkind zu sein. Mills gefiel es, diese Teile der Kindheit heraufzubeschwören, die „manchmal wirklich seltsam, aber auch völlig normal sind“, wie er sagt. Aber diese sehr spezielle Waisenkind-Spiel verdankt sich Aaron Dessner, der zusammen mit seinem Zwillingsbruder Bryce die Musik für COME ON, COME ON komponierte. „Als Aaron mir davon erzählte, dass seine Tochter das macht, fragte ich sofort, ob ich das im Film verwenden darf“, lacht Mills.
Der Regisseur fasst zusammen: „Woody und Joaquin haben eine starke Bindung zueinander entwickelt – und wir können in Echtzeit dabei zusehen, wie sich ihre echte Beziehung und Nähe immer weiterwächst. Das war nicht nur gespielt und führte zu Momenten wie dem, in dem Woody in New Orleans plötzlich seinen Kopf auf Joaquins Bauch legte. Das war nicht meine Idee, sondern die beiden waren einfach voll in diesem Moment.“
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