Michael Köhlmeiers Buch „Das Philosophenschiff“ berichtet von Ereignissen aus der russischen Vergangenheit, die heute wieder erschreckend aktuell sind. Geschichte lässt sich ja am besten durch Geschichten von Menschen anschaulich machen. Köhlmeier vermischt in seinem Roman – wie auch in anderen seiner Bücher – Fiktion und Realität gekonnt miteinander. Eine Hundertjährige bittet ihn, ein entscheidendes Kapitel aus ihrem langen Leben niederzuschreiben. Diese Anouk Perleman-Jacob, eine sehr wache alte Dame und berühmte Architektin, hat sich der Autor ausgedacht, doch viele Figuren und Begebenheiten des Romans sind historisch verbürgt.
Anouk, die hier ihre Geschichte erzählt, wuchs in Sankt Petersburg als Tochter von zwei jüdischen Wissenschaftlern auf. Nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 herrschte in Russland Bürgerkrieg. Das junge Mädchen erlebte das Grauen, wurde Zeugin von Not, Angst und Mord. Die Bolschewiki, die unter der Führung Lenins durch Zwang und Gewalt eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen erschaffen wollten, führten auch gegen die Zivilbevölkerung einen erbitterten Krieg. Millionen Menschen verloren ihr Leben, und die Intellektuellen, „die Lakaien des Kapitals“, standen besonders im Fokus der Säuberungen.
Durch deutliche Anspielungen auf Wladimir Putin schlägt Köhlmeier im Roman auch einen Bogen in die Gegenwart. So lässt er die alte Dame von dem größenwahnsinnigen Zar Pawel I. erzählen, einem Sohn Katharinas der Großen, der sich einen acht Meter langen Tisch zimmern ließ, an dem er seine Gäste empfing, und der einen Krieg gegen die Ukraine plante.
Im September 1922 werden die 14-jährige Anouk und ihre Eltern von zwei Herren der Geheimpolizei abgeholt und auf ein Schiff gebracht. Dieses besondere Philosophenschiff ist eine Erfindung des Autors: ein riesiger Luxusdampfer mit nur zehn verängstigten Menschen an Bord. Ein Geisterschiff, das so aussieht, „als würde es ins Jenseits fahren“. Zu dieser phantastischen Szenerie gehört auch der unbekannte Gast, der eines Nachts auf das Schiff gebracht wird. Niemand sonst bekommt ihn zu Gesicht, nur Anouk, ein starkes, intelligentes Mädchen, macht auf dem Sonnendeck der 1. Klasse die Bekanntschaft eines halbseitig gelähmten Mannes im Rollstuhl. Er gibt sich als Lenin zu erkennen, und die beiden kommen ins Gespräch. Sie unterhalten sich über vieles, über Liebe und Macht, und Anouk nennt ihn, obwohl er die Schuld am Tod so vieler Menschen trägt, einen Freund. Denn angesichts seines eigenen Todes ist er „doch nur irgendein Mensch“.
Am Ende der Geschichte wird Lenin von seinem Nachfolger und ärgsten Feind entsorgt. Bevor er ihn über Bord des Dampfers kippen lässt, rechnet Stalin mit seinem Vorgänger ab. Die Schlussszene kann man als Verbeugung Köhlmeiers vor einem großen russischen Schriftsteller lesen. Sie weist viele Parallelen zu Dostojewskis „Großinquisitor“ auf. Lenins Idee von der Schaffung eines neuen, vom Joch der Unterdrückung befreiten Menschen, so Stalin, war ein Irrtum. Denn die meisten Menschen fürchten die Freiheit. Sie wollen vor allem genug zu essen haben und sind grob wie er selbst. „Mit einem Unterschied. Ich kann zuschlagen.“ So verweist der Autor auf die Zeit nach Lenin: den stalinistischen Terror.
Michael Köhlmeier ist ein großartiger, raffinierter Erzähler. Immer wieder macht er kleine Abstecher, spielt mit Dichtung und Wahrheit, spricht über die Vieldeutigkeit von Lyrik, stellt sich Fragen nach seiner eigenen Vergangenheit, in der er als junger Mann mit der RAF sympathisierte. Aber immer bleibt das eine Thema im Zentrum seines Buches: die Kontinuität der Despotie in Russland.
Lilly Munzinger, Gauting
Michael Köhlmeier
„Das Philosophenschiff“
Hanser
„Das Philosophenschiff“
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