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13. Peter Kemper „The Sound Of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz...
14. Michael Köhlmeier „Das Philosophenschiff“
15. André Franquin „Die Bravo Brothers“
16. Helmut Schlaiß „Kafkas Kosmos – Eine fotografische Spurensuche“
17. Dana Vowinckel „Gewässer im Ziplock“
18. Henrik Pontoppidan „Kaum ein Tag ohne Spektakel“
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Mittwoch 20.03.2024
Peter Kemper „The Sound Of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz“
Die Frage existiert, seitdem er wissenschaftlich durchleuchtet wird: Ist Jazz politisch? Eine klare, wie ebenso knappe Antwort ist schwierig. Zwar ist der Jazz generell gesellschaftlich relevant, jedoch, neben der jeweiligen künstlerischen Individualität des Ausführenden, abhängig von den äußeren, auch soziologischen Bedingungen. Doch wenn er prinzipiell politisch wäre, dann ginge es nicht nur um seine Entstehung, sondern zugleich um seine Wirkung. Die Meinung von Cecil Taylor und Monty Sunshine oder von Archie Shepp und Dave Brubeck fällt naturgemäß ihres musikalischen Anspruches sehr verschieden aus. Aber vielleicht zeigt sich hier schon das Besondere in der politisch-ästhetischen Auseinandersetzung.
Die Antwort des Musikjournalisten, Redakteurs, Biographen und Juroren Peter Kemper füllt immerhin ganze 750 Seiten. „The Sound Of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz“ - ein enormes Werk, voller Beispiele, Verweise, kluger Gedanken und persönlicher Portraits zum Thema Jazz. Allein mit folgendem Eingangsstatement macht Kemper klar, wohin die Reise geht: „Eine Grundannahme dieses Buches lautet: Jazz ist als Innovation von Afroamerikanern entstanden und hat sich im Kontext ihrer Emanzipationsbewegung und ihres Kampfes um Bürgerrechte entwickelt.“
Im Folgenden geht es Kemper also darum, diese Annahme anhand von Beispielen, sowohl musikalischen als auch sozialen, wie ebenso kulturpolitischen und philosophischen Bezügen, zu unterstützen resp. nachzuweisen.
Natürlich geht Kemper zuallererst von der Musik selbst aus. So beschäftigt er sich intensiv mit Armstrong und Parker, mit Charles Mingus und Albert Ayler, mit John Coltrane, Miles Davis, bis hin zu Kamasi Washington und Matana Roberts. Die Ergebnisse, was die Politisierung der Musik betrifft, fallen, wie schon erwähnt, unterschiedlich aus. Denn neben den Themen Klassenkampf und Rassismus werden auch spirituelle Ansätze in Form von religiösen Bekenntnissen angesprochen und durchleuchtet.
Gleichzeitig fließen philosophische Betrachtungsweisen eines Georges Bataille (in Bezug auf Pharoah Sanders) oder Jacques Derrida (in Bezug auf Ornette Coleman), sowie von Adorno und Heidegger in dieses Werk mit ein, wodurch ein gesellschaftspolitischer Blick von außen gegeben ist.
Als spannendstes Kapitel darf an dieser Stelle das siebzehnte unter dem Titel „The Future Is Female“ genannt werden. Die Saxophonistin, Komponistin und Sängerin Matana Roberts hat mit einem Großprojekt („Coin Coin“) afroamerikanische Ahnenforschung betrieben und ähnlich der AACM-Bewegung aus Chicago die Vergangenheit historisch aufgerollt, um die Zukunft des Jazz bewusst neu zu gestalten. Aus diesem Konzept heraus und zusätzlich inspiriert von der #Me-Too Bewegung ist wiederum eine Aktionsgruppe entstanden, deren akustische Spuren deutlich in der Musik der Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington nachzuhören sind. Die 1980 geborenen Sängerin, Klarinettistin und Komponistin Angel Bat Dawid geht noch einen Schritt weiter. Sie sprengt die Rolle als Musikerin und „verwandelt die Musik in eine suggestive und multimediale Performance-Kunst“. Mit ihren Auftritten steht sie für ein „pulsierendes Manifest des zeitgenössischen Black Empowerments“. Sie fasst ihr Credo folgendermaßen zusammen: „Wenn Du schwarz bist, ist am-Leben-bleiben schon ein Erfolg“.
Jörg Konrad
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Dienstag 20.02.2024
Michael Köhlmeier „Das Philosophenschiff“
„Philosophenschiff“ – das klingt wie ein Name aus einem romantischen Roman. Aber die Wirklichkeit dahinter ist alles andere als poetisch. Philosophenschiffe nannte man Schiffe, auf denen im Jahr 1922 Hunderte von russischen Wissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellern außer Landes und ins Exil geschickt wurden. Lenin hatte den Befehl dazu gegeben, und Trotzki nannte ihre Ausweisung einen Akt der vorausschauenden Humanität. Denn diese politisch unzuverlässigen Personen würden sich später als Agenten des Feindes erweisen und man wäre dann gezwungen, sie zu erschießen.
Michael Köhlmeiers Buch „Das Philosophenschiff“ berichtet von Ereignissen aus der russischen Vergangenheit, die heute wieder erschreckend aktuell sind. Geschichte lässt sich ja am besten durch Geschichten von Menschen anschaulich machen. Köhlmeier vermischt in seinem Roman – wie auch in anderen seiner Bücher – Fiktion und Realität gekonnt miteinander. Eine Hundertjährige bittet ihn, ein entscheidendes Kapitel aus ihrem langen Leben niederzuschreiben. Diese Anouk Perleman-Jacob, eine sehr wache alte Dame und berühmte Architektin, hat sich der Autor ausgedacht, doch viele Figuren und Begebenheiten des Romans sind historisch verbürgt.
Anouk, die hier ihre Geschichte erzählt, wuchs in Sankt Petersburg als Tochter von zwei jüdischen Wissenschaftlern auf. Nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 herrschte in Russland Bürgerkrieg. Das junge Mädchen erlebte das Grauen, wurde Zeugin von Not, Angst und Mord. Die Bolschewiki, die unter der Führung Lenins durch Zwang und Gewalt eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen erschaffen wollten, führten auch gegen die Zivilbevölkerung einen erbitterten Krieg. Millionen Menschen verloren ihr Leben, und die Intellektuellen, „die Lakaien des Kapitals“, standen besonders im Fokus der Säuberungen.
Durch deutliche Anspielungen auf Wladimir Putin schlägt Köhlmeier im Roman auch einen Bogen in die Gegenwart. So lässt er die alte Dame von dem größenwahnsinnigen Zar Pawel I. erzählen, einem Sohn Katharinas der Großen, der sich einen acht Meter langen Tisch zimmern ließ, an dem er seine Gäste empfing, und der einen Krieg gegen die Ukraine plante.
Im September 1922 werden die 14-jährige Anouk und ihre Eltern von zwei Herren der Geheimpolizei abgeholt und auf ein Schiff gebracht. Dieses besondere Philosophenschiff ist eine Erfindung des Autors: ein riesiger Luxusdampfer mit nur zehn verängstigten Menschen an Bord. Ein Geisterschiff, das so aussieht, „als würde es ins Jenseits fahren“. Zu dieser phantastischen Szenerie gehört auch der unbekannte Gast, der eines Nachts auf das Schiff gebracht wird. Niemand sonst bekommt ihn zu Gesicht, nur Anouk, ein starkes, intelligentes Mädchen, macht auf dem Sonnendeck der 1. Klasse die Bekanntschaft eines halbseitig gelähmten Mannes im Rollstuhl. Er gibt sich als Lenin zu erkennen, und die beiden kommen ins Gespräch. Sie unterhalten sich über vieles, über Liebe und Macht, und Anouk nennt ihn, obwohl er die Schuld am Tod so vieler Menschen trägt, einen Freund. Denn angesichts seines eigenen Todes ist er „doch nur irgendein Mensch“.
Am Ende der Geschichte wird Lenin von seinem Nachfolger und ärgsten Feind entsorgt. Bevor er ihn über Bord des Dampfers kippen lässt, rechnet Stalin mit seinem Vorgänger ab. Die Schlussszene kann man als Verbeugung Köhlmeiers vor einem großen russischen Schriftsteller lesen. Sie weist viele Parallelen zu Dostojewskis „Großinquisitor“ auf. Lenins Idee von der Schaffung eines neuen, vom Joch der Unterdrückung befreiten Menschen, so Stalin, war ein Irrtum. Denn die meisten Menschen fürchten die Freiheit. Sie wollen vor allem genug zu essen haben und sind grob wie er selbst. „Mit einem Unterschied. Ich kann zuschlagen.“ So verweist der Autor auf die Zeit nach Lenin: den stalinistischen Terror.
Michael Köhlmeier ist ein großartiger, raffinierter Erzähler. Immer wieder macht er kleine Abstecher, spielt mit Dichtung und Wahrheit, spricht über die Vieldeutigkeit von Lyrik, stellt sich Fragen nach seiner eigenen Vergangenheit, in der er als junger Mann mit der RAF sympathisierte. Aber immer bleibt das eine Thema im Zentrum seines Buches: die Kontinuität der Despotie in Russland.
Lilly Munzinger, Gauting

Michael Köhlmeier
„Das Philosophenschiff“
Hanser
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Dienstag 13.02.2024
André Franquin „Die Bravo Brothers“
Am 03. Januar diesen Jahres wäre der großartige französische Comiczeichner André Franquin 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dieses Jubiläums ist im Carlsen Verlag eine der wohl schönsten von ihm gestaltenden Stories in einem Prachtband veröffentlicht worden: „Die Bravo Brothers“. Weitere Jubiläumsausgaben mit Gaston oder seine „Schwarzen Gedanken“ sind bereits erschienen. Weitere Titel sind angekündigt.

Die Story: Was schenkt man dem immerzu gestressten und nahezu dauernervösen Reporter Fantasio zum Geburtstag? Die Lösung: Der Bürobote des Carlsen Verlages Gaston kauft von einem insolventen Zirkus drei Affen, die im Verlag für ordentlich Action und Chaos sorgen. Die Aufgabe: Fantasios Freund Spirou bringt in Erfahrung, dass der menschenscheue Dompteur Noah die „Bravo Brothers“ genannten Affen dressiert hat und sorgt letztlich dafür, dass alles wieder in geregelte Bahnen kommt. Damit sind alle wichtigen Protagonisten vorgestellt und Franquin kreierte mit ihnen eine rasante Story, die zeit seines Lebens eine seiner Lieblingsgeschichten war und ihn selbst immer wieder zum Lachen brachte.

Bei der vorliegenden Gesamtausgabe handelt es sich um die komplette 22-seitige Erzählung aus dem Jahr 1965, sorgfältig restauriert und neu koloriert. Auf weiteren fast fünfzig Seiten wurde zusätzliches Material aus dem Bravo Brothers Universum zu Tage gefördert und nun erstmals veröffentlicht. Angefangen von Cover(entwürfen) bilden die kompletten, geinkten s/w Originalseiten, versehen mit Kommentaren von José-Louis Bocquet und Serge Honorez das Herzstück dieser Ausgabe. Franquins grandiose Arbeitsweise lässt sich anhand dieser Seiten am eindrucksvollsten nachvollziehen. Durch die Kommentierung erfährt der Leser mehr über herzliche Kleinigkeiten, Hintergründe, Details und Anspielungen, die Franquin hier umsetzte und die seinen unverwechselbaren Zeichenstil letztlich prägten.
Thomas J. Krebs
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Mittwoch 07.02.2024
Helmut Schlaiß „Kafkas Kosmos – Eine fotografische Spurensuche“
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2024 – Kafkas Todestag jährt sich zum einhundertsten Mal. Diesbezüglich gibt es eine kaum zu überschauende Anzahl an Neuveröffentlichungen auf dem Buchmarkt, die sich mit dem Autor und seinem Werk beschäftigen. Zu recht, war er doch einer der wirkgewaltigsten Schriftsteller deutscher Sprache, dessen Werke, trotz seiner ungeheuren Popularität, den Reiz des Geheimnisvollen, des Unergründlichen, des Subtilen zum Ausdruck bringen.
Zu einem der schönsten dieser Bücher gehört mit Sicherheit der Bildband „Kafkas Kosmos – Eine fotografische Spurensuche“ von Helmut Schlaiß. Der im Baden-Würtembergischen lebende Fotograf Schlaiß hat sich samt Auftrag vom Manesse Verlag und seiner Leica M Monochrom plus dem „Normalobjektiv“ APO-Summicron auf den Weg nach Prag gemacht, um ein gutes Jahrhundert später das Lebensumfeld Kafkas abzulichten. Letztendlich wurden es drei Reisen, genauer zwei Aufenthalte in der Goldenen Stadt an der Moldau und ein Besuch des heute tschechischen Dorfes Si?em (Zürau), in dem Kafka für zwei Jahre bei seiner Schwester Ottla lebte.
Schlaiß gelingt es auf über 80 ausschließlich Schwarz-Weiß-Aufnahmen eine magische Atmosphäre einzufangen, die dem des „Alten Prag“ entspricht. Es ist eine Aura von Melancholie und Vergängnis, die selbst dann noch berührt, wenn Straßenbahnen im Nebel der Großstadt das Bild kreuzen, oder modern gekleidete Menschen die Stufen zum Rudolfinum bevölkern.
Doch im Grunde ist Schlaiß die Wege gegangen, die auch Kafka ging, hat die Orte aufgesucht, an denen auch Kafka war, die Cafés, das Gymnasium, die Wohnhäuser, die engen Gassen und den jüdischen Friedhof der Stadt. Eine Art geheimnisvolle Virtuosität in ästhetischer Vollendung, die Schlaiß hier eingefangen hat. Dabei sind es weniger die Details, die beeindrucken, als die Stimmungen, die der Fotograf mit seinem Apparat einfängt. Sie vermitteln ein Bild, das dem Autor gerecht wird, das visuell einfängt, was Kafka literarisch ausdrückte.
Ähnlich berührend sind die Bilder aus der Umgebung von Zürau (tschechisch Si?em), unweit der nordwestböhmischen Hopfenstadt Žatec / Saaz. Verlassen und verfallen wirkt dieses Dorf mit ca. 60 Häusern, wo noch knapp 90 Menschen leben. Hier verbrachte Kafka acht Monate zur Rekonvaleszenz bei seiner Schwester Ottla, nach einem Blutsturz, als Folge seiner Tuberkuloseerkrankung. Eines der Fotos zeigt sogar den Innenhof, des von Ottla betriebenen landwirtschaftlichen Anwesens - eine Reise in die Vergangenheit.
Die einzelnen Fotos sind mit Originalzitaten Franz Kafkas versehen, die sowohl aus seinen Briefen, als auch aus seinen literarischen Arbeiten stammen. Ein Nachwort von Freddy Langer rundet dieses wunderbare und sehr zu empfehlende Werk ab.
Jörg Konrad

Helmut Schlaiß
„Kafkas Kosmos – Eine fotografische Spurensuche“
Manesse
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Dienstag 23.01.2024
Dana Vowinckel „Gewässer im Ziplock“
Dana Vowinckel wurde 1996 in Berlin als Tochter eines amerikanischen Juden und einer deutschen Protestantin geboren. Im Alter von elf Jahren konvertierte sie zum Judentum, und ihre eigene Erfahrung als junge Jüdin in Deutschland fließt in ihren Debütroman „Gewässer im Ziplock“ ein.
Sie erzählt darin die Geschichte einer zerbrochenen jüdischen Familie, die sich zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem abspielt. Die Autorin wollte einen Roman der Gegenwart schreiben, doch heute ist er für sie ein historischer Roman, wie sie in einem Interview sagt. Denn die beispiellosen Anschläge der Hamas auf Israelis am
7. Oktober 2023 haben die Welt für alle Juden verändert. Die Hoffnung auf einen Zufluchtsort, der eine - wenn auch bedrohte - Sicherheit und Heimat verspricht, ist zerstört.
Und doch ist es gerade jetzt lohnend, „Gewässer im Ziplock“ zu lesen. Das Buch beschreibt – neben vielem anderen - jüdisches Leben in Deutschland, das durch die jüngsten Ereignisse besonders in den Fokus gerückt ist. Ausgrenzung und Antisemitismus gehören im Roman zum Alltag, ein Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober allerdings offener, ungenierter und gewaltbereiter zeigt.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die 15-jährige Margarita und ihr alleinerziehender Vater Avi, der als Kantor einer Synagoge in Berlin arbeitet. Avi ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Hier hat er Marsha kennengelernt, eine amerikanische Jüdin, und gemeinsam sind sie nach Deutschland ausgewandert, um ihrer Tochter den Militärdienst zu ersparen. Doch Marsha hat es in dem kalten Land nicht ausgehalten. Als Margarita drei Jahre alt war, hat sie die Familie verlassen und in den USA Karriere als Wissenschaftlerin gemacht.
Das Buch erzählt vom Sommer 2023, als Margarita 15 Jahre alt ist. Während ihr Vater in Berlin bleibt, verbringt sie die Ferien zunächst bei ihren Großeltern in Chicago und besucht danach ihre Mutter Marsha in Jerusalem, die hier ein Fellowship an der Universität erhalten hat. Margarita soll ihrer fremdgewordenen Mutter näher kommen und auf einem gemeinsamen Roadtrip Israel kennenlernen.
Dana Vowinckel ist eine sehr genaue Beobachterin, und sie hat ein Gespür für die feinsten Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen. In „Gewässer im Ziplock“ gelingen ihr hinreißende, lebensnahe Porträts der vielschichtigen Figuren. Abwechselnd erzählt sie aus der Perspektive von Vater und Tochter. Margarita wird als schlagfertiges, trotziges junges Mädchen in der Pubertät geschildert, das von heftigen, widerstreitenden Gefühlen beherrscht wird. Sie macht erste sexuelle Erfahrungen, ekelt sich vor den Essgewohnheiten ihrer Großeltern und vor ihrem eigenen Körper, sehnt sich danach, von gleichaltrigen Jungen begehrt zu werden und schämt sich zugleich für ihre Abhängigkeit von deren Anerkennung, und sie schwankt zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und der Geborgenheit, die ihr Vater ihr gibt.
Avi lässt die Angst um seine Tochter nie los, weil er sie als jüdisches Mädchen potentiell immer in Gefahr sieht. Halt geben ihm sein Glaube und die jüdischen Rituale, deren Schönheit für Vowinckel vor allem in der Musik und der bildreichen Sprache liegt.
Ohne zu werten, schildert die Autorin dagegen in Marsha, Margaritas Mutter, eine säkulare Facette des Judentums. Marsha hält sich nicht an die zahlreichen Vorschriften, und Jiddisch ist für sie vor allem Gegenstand ihrer Forschung als Linguistin. Die Begegnung zwischen Mutter und Tochter und ihre gemeinsame Reise durch Israel gestalten sich äußerst schwierig. Margaritas Wut auf ihre Mutter, von der sie sich ihr Leben lang im Stich gelassen fühlte, führt zu heftigen Streits. Der Schlagabtausch zwischen beiden ist dabei so lebensecht erzählt, dass es immer wieder auch ein Vergnügen ist, ihm zu folgen. Auch deshalb, weil zwischen den Attacken Zärtlichkeit und das Bedürfnis nach Nähe zu spüren sind.
Am Ende des Romans kommt es zu einem Familientreffen am Krankenbett der Großmutter. Alle Figuren beschäftigt und quält in unterschiedlicher Weise, ob und wie jüdisches Leben in Deutschland möglich ist. In einem Land, in dem für alle Juden der Holocaust noch tief im Bewusstsein verankert ist, in dem Avi auf der Straße ein Baseballcap über seiner Kippa tragen muss und Margaritas Freund, als er erfährt, dass sie Hebräisch spricht, sie fragt: „Krass. Aber du bist jetzt nicht so eine Zionistin, oder?“.
Wie Dana Vowinckel sagt, ist das Lesen von Romanen immer auch eine Übung in Empathie. „Gewässer im Ziplock“ kann helfen, eine Tür zu öffnen und unsere jüdischen Nachbarn besser zu verstehen.
Lilly Munzinger, Gauting

Dana Vowinckel
„Gewässer im Ziplock“
Suhrkamp
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Mittwoch 10.01.2024
Henrik Pontoppidan „Kaum ein Tag ohne Spektakel“
Henrik Pontoppidan (1857-1943) war der 17. Nobelpreisträger und der erste Literat Dänemarks, dem diese Auszeichnung verliehen wurde. Das Besondere: Er musste sie sich mit seinem Landsmann Karl Gjellerup teilen, der aber einen Großteil seiner Werke in deutscher Sprache schrieb und nicht zuletzt deshalb in seiner Heimat nie wirklich einflussreich war.
Henrik Pontoppidan hingegen war schon zu Lebzeiten in Dänemark „weltberühmt“ und gehört bis in die Gegenwart zu den bedeutendsten Autoren des Landes. Außerhalb Dänemarks ist er meist nur ausgewiesenen Skandinavien-Kennern ein Begriff.
Er begründete mit seinen literarischen Arbeiten den Naturalismus. Gleichzeitig galt er als ein ausgezeichneter Menschenversteher und -beobachter. So sind einerseits seine Landschaftsbeschreibungen von enormer Intensität und Poesie. Andererseits thematisiert er auf beeindruckende Weise die Stellung des Menschen sowohl im ländlichen, als auch im städtischen Umfeld. Aus dieser gelebten Gegensätzlichkeit schuf er seine bekanntesten Romane, wie „Das gelobte Land“, „Hans im Glück“ und „Das Totenreich“.
Dem Göttinger Wallstein Verlag, bei dem der vorliegende Band „Kaum ein Tag ohne Spektakel“ erschien, gelingt ein Wiedereinstieg in Pontoppidans Schaffen, nicht in dem er seine Romane neu auflegt, sondern die Vielseitigkeit des Autors zum Ausdruck bringt. Das Buch enthält Erzählungen und Geschichten, Kritiken, Kolumnen und Reportagen des Dänen – allesamt von Ulrich Sonnenberg neu übersetzt.
Der erste Teil des Bandes enthält insgesamt zwölf Erzählungen, in denen das Schicksal gegen die Moral kämpft, die Natur sich gegenüber der Moderne behauptet, die lokalen Gegebenheiten den Hoffnungen und Wünschen der Menschen manchmal unvereinbar gegenüberstehen. Manche dieser kurzen Texte klingen ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Doch im Grunde sind es genau die Themen, die bis in die Gegenwart die Menschen beschäftigen, die heute vielleicht in einem etwas anderen Licht betrachtet werden – aber letztendlich, oft schmerzhaft, um die Existenz in der Gesellschaft kreisen.
Zugleich zeigt Pontoppidan, trotz seiner konservativen Grundhaltung, deutlich eine gesellschaftskritische Distanz gegenüber gottesfürchtigen Lebensmaximen und strenggläubigen Wertesystemen, die er teilweise mit Ironie und leichtem Sarkasmus unterläuft.
Dass Henrik Pontoppidan jedoch nicht allein als literarischer Asket gesehen werden kann, machen seine Feuilletons und Kolumnen deutlich, die fast ausnahmslos als journalistische Arbeiten für Tageszeitungen entstanden sind. Besonders auffällig hier seine Reisebeschreibungen, wie eine Schiffsfahrt an den Polarkreis und vor allem die Reportage „Aus Berlin“. Hier verarbeitet der Autor einen Aufenthalt in der deutsche Hauptstadt im Jahr 1891. Es zeigt sich wieder seine enorme Beobachtungsgabe und in diesem Fall sein konkret kritischer Blick, sowohl auf die strenge Architektur des Zentrums von Berlin, als auch auf die nationalistischen Tendenzen innerhalb der Bevölkerung. Beides befremdet ihn.
„Kaum ein Tag ohne Spektakel“, das teilweise wie etwas aus der Zeit gefallen wirkt und dann wieder menschliche Schicksale mit derartiger Wucht beschreibt, als handele es sich um Literatur der Moderne, beeindruckt neben dem erzählerischen Können des Autors vor allem durch die Bandbreite der hier aufgegriffenen Themen. Insofern hat der Wallstein Verlag mit diesem Band auf weitere Werke des Dänen neugierig gemacht.
Jörg Konrad

Henrik Pontoppidan
„Kaum ein Tag ohne Spektakel“
Erzählungen und Feuilletons
Wallstein Verlag
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Autor: Siehe Artikel
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