Die Frage existiert, seitdem er wissenschaftlich durchleuchtet wird: Ist Jazz politisch? Eine klare, wie ebenso knappe Antwort ist schwierig. Zwar ist der Jazz generell gesellschaftlich relevant, jedoch, neben der jeweiligen künstlerischen Individualität des Ausführenden, abhängig von den äußeren, auch soziologischen Bedingungen. Doch wenn er prinzipiell politisch wäre, dann ginge es nicht nur um seine Entstehung, sondern zugleich um seine Wirkung. Die Meinung von Cecil Taylor und Monty Sunshine oder von Archie Shepp und Dave Brubeck fällt naturgemäß ihres musikalischen Anspruches sehr verschieden aus. Aber vielleicht zeigt sich hier schon das Besondere in der politisch-ästhetischen Auseinandersetzung.
Die Antwort des Musikjournalisten, Redakteurs, Biographen und Juroren Peter Kemper füllt immerhin ganze 750 Seiten. „The Sound Of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz“ - ein enormes Werk, voller Beispiele, Verweise, kluger Gedanken und persönlicher Portraits zum Thema Jazz. Allein mit folgendem Eingangsstatement macht Kemper klar, wohin die Reise geht: „Eine Grundannahme dieses Buches lautet: Jazz ist als Innovation von Afroamerikanern entstanden und hat sich im Kontext ihrer Emanzipationsbewegung und ihres Kampfes um Bürgerrechte entwickelt.“
Im Folgenden geht es Kemper also darum, diese Annahme anhand von Beispielen, sowohl musikalischen als auch sozialen, wie ebenso kulturpolitischen und philosophischen Bezügen, zu unterstützen resp. nachzuweisen.
Natürlich geht Kemper zuallererst von der Musik selbst aus. So beschäftigt er sich intensiv mit Armstrong und Parker, mit Charles Mingus und Albert Ayler, mit John Coltrane, Miles Davis, bis hin zu Kamasi Washington und Matana Roberts. Die Ergebnisse, was die Politisierung der Musik betrifft, fallen, wie schon erwähnt, unterschiedlich aus. Denn neben den Themen Klassenkampf und Rassismus werden auch spirituelle Ansätze in Form von religiösen Bekenntnissen angesprochen und durchleuchtet.
Gleichzeitig fließen philosophische Betrachtungsweisen eines Georges Bataille (in Bezug auf Pharoah Sanders) oder Jacques Derrida (in Bezug auf Ornette Coleman), sowie von Adorno und Heidegger in dieses Werk mit ein, wodurch ein gesellschaftspolitischer Blick von außen gegeben ist.
Als spannendstes Kapitel darf an dieser Stelle das siebzehnte unter dem Titel „The Future Is Female“ genannt werden. Die Saxophonistin, Komponistin und Sängerin Matana Roberts hat mit einem Großprojekt („Coin Coin“) afroamerikanische Ahnenforschung betrieben und ähnlich der AACM-Bewegung aus Chicago die Vergangenheit historisch aufgerollt, um die Zukunft des Jazz bewusst neu zu gestalten. Aus diesem Konzept heraus und zusätzlich inspiriert von der #Me-Too Bewegung ist wiederum eine Aktionsgruppe entstanden, deren akustische Spuren deutlich in der Musik der Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington nachzuhören sind. Die 1980 geborenen Sängerin, Klarinettistin und Komponistin Angel Bat Dawid geht noch einen Schritt weiter. Sie sprengt die Rolle als Musikerin und „verwandelt die Musik in eine suggestive und multimediale Performance-Kunst“. Mit ihren Auftritten steht sie für ein „pulsierendes Manifest des zeitgenössischen Black Empowerments“. Sie fasst ihr Credo folgendermaßen zusammen: „Wenn Du schwarz bist, ist am-Leben-bleiben schon ein Erfolg“.
Jörg Konrad