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25. Dana Vowinckel „Gewässer im Ziplock“
26. Henrik Pontoppidan „Kaum ein Tag ohne Spektakel“
27. Points Of View - Konzepte und Sequenzen
28. Cornelius Völker „Vom Erscheinen und Verschwinden der Dinge“
29. Louis-Ferdinand Céline „Krieg“
30. Sherko Fatah „Der große Wunsch“
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Dienstag 23.01.2024
Dana Vowinckel „Gewässer im Ziplock“
Dana Vowinckel wurde 1996 in Berlin als Tochter eines amerikanischen Juden und einer deutschen Protestantin geboren. Im Alter von elf Jahren konvertierte sie zum Judentum, und ihre eigene Erfahrung als junge Jüdin in Deutschland fließt in ihren Debütroman „Gewässer im Ziplock“ ein.
Sie erzählt darin die Geschichte einer zerbrochenen jüdischen Familie, die sich zwischen Berlin, Chicago und Jerusalem abspielt. Die Autorin wollte einen Roman der Gegenwart schreiben, doch heute ist er für sie ein historischer Roman, wie sie in einem Interview sagt. Denn die beispiellosen Anschläge der Hamas auf Israelis am
7. Oktober 2023 haben die Welt für alle Juden verändert. Die Hoffnung auf einen Zufluchtsort, der eine - wenn auch bedrohte - Sicherheit und Heimat verspricht, ist zerstört.
Und doch ist es gerade jetzt lohnend, „Gewässer im Ziplock“ zu lesen. Das Buch beschreibt – neben vielem anderen - jüdisches Leben in Deutschland, das durch die jüngsten Ereignisse besonders in den Fokus gerückt ist. Ausgrenzung und Antisemitismus gehören im Roman zum Alltag, ein Antisemitismus, der sich seit dem 7. Oktober allerdings offener, ungenierter und gewaltbereiter zeigt.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die 15-jährige Margarita und ihr alleinerziehender Vater Avi, der als Kantor einer Synagoge in Berlin arbeitet. Avi ist in Jerusalem geboren und aufgewachsen. Hier hat er Marsha kennengelernt, eine amerikanische Jüdin, und gemeinsam sind sie nach Deutschland ausgewandert, um ihrer Tochter den Militärdienst zu ersparen. Doch Marsha hat es in dem kalten Land nicht ausgehalten. Als Margarita drei Jahre alt war, hat sie die Familie verlassen und in den USA Karriere als Wissenschaftlerin gemacht.
Das Buch erzählt vom Sommer 2023, als Margarita 15 Jahre alt ist. Während ihr Vater in Berlin bleibt, verbringt sie die Ferien zunächst bei ihren Großeltern in Chicago und besucht danach ihre Mutter Marsha in Jerusalem, die hier ein Fellowship an der Universität erhalten hat. Margarita soll ihrer fremdgewordenen Mutter näher kommen und auf einem gemeinsamen Roadtrip Israel kennenlernen.
Dana Vowinckel ist eine sehr genaue Beobachterin, und sie hat ein Gespür für die feinsten Nuancen zwischenmenschlicher Beziehungen. In „Gewässer im Ziplock“ gelingen ihr hinreißende, lebensnahe Porträts der vielschichtigen Figuren. Abwechselnd erzählt sie aus der Perspektive von Vater und Tochter. Margarita wird als schlagfertiges, trotziges junges Mädchen in der Pubertät geschildert, das von heftigen, widerstreitenden Gefühlen beherrscht wird. Sie macht erste sexuelle Erfahrungen, ekelt sich vor den Essgewohnheiten ihrer Großeltern und vor ihrem eigenen Körper, sehnt sich danach, von gleichaltrigen Jungen begehrt zu werden und schämt sich zugleich für ihre Abhängigkeit von deren Anerkennung, und sie schwankt zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und der Geborgenheit, die ihr Vater ihr gibt.
Avi lässt die Angst um seine Tochter nie los, weil er sie als jüdisches Mädchen potentiell immer in Gefahr sieht. Halt geben ihm sein Glaube und die jüdischen Rituale, deren Schönheit für Vowinckel vor allem in der Musik und der bildreichen Sprache liegt.
Ohne zu werten, schildert die Autorin dagegen in Marsha, Margaritas Mutter, eine säkulare Facette des Judentums. Marsha hält sich nicht an die zahlreichen Vorschriften, und Jiddisch ist für sie vor allem Gegenstand ihrer Forschung als Linguistin. Die Begegnung zwischen Mutter und Tochter und ihre gemeinsame Reise durch Israel gestalten sich äußerst schwierig. Margaritas Wut auf ihre Mutter, von der sie sich ihr Leben lang im Stich gelassen fühlte, führt zu heftigen Streits. Der Schlagabtausch zwischen beiden ist dabei so lebensecht erzählt, dass es immer wieder auch ein Vergnügen ist, ihm zu folgen. Auch deshalb, weil zwischen den Attacken Zärtlichkeit und das Bedürfnis nach Nähe zu spüren sind.
Am Ende des Romans kommt es zu einem Familientreffen am Krankenbett der Großmutter. Alle Figuren beschäftigt und quält in unterschiedlicher Weise, ob und wie jüdisches Leben in Deutschland möglich ist. In einem Land, in dem für alle Juden der Holocaust noch tief im Bewusstsein verankert ist, in dem Avi auf der Straße ein Baseballcap über seiner Kippa tragen muss und Margaritas Freund, als er erfährt, dass sie Hebräisch spricht, sie fragt: „Krass. Aber du bist jetzt nicht so eine Zionistin, oder?“.
Wie Dana Vowinckel sagt, ist das Lesen von Romanen immer auch eine Übung in Empathie. „Gewässer im Ziplock“ kann helfen, eine Tür zu öffnen und unsere jüdischen Nachbarn besser zu verstehen.
Lilly Munzinger, Gauting

Dana Vowinckel
„Gewässer im Ziplock“
Suhrkamp
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Mittwoch 10.01.2024
Henrik Pontoppidan „Kaum ein Tag ohne Spektakel“
Henrik Pontoppidan (1857-1943) war der 17. Nobelpreisträger und der erste Literat Dänemarks, dem diese Auszeichnung verliehen wurde. Das Besondere: Er musste sie sich mit seinem Landsmann Karl Gjellerup teilen, der aber einen Großteil seiner Werke in deutscher Sprache schrieb und nicht zuletzt deshalb in seiner Heimat nie wirklich einflussreich war.
Henrik Pontoppidan hingegen war schon zu Lebzeiten in Dänemark „weltberühmt“ und gehört bis in die Gegenwart zu den bedeutendsten Autoren des Landes. Außerhalb Dänemarks ist er meist nur ausgewiesenen Skandinavien-Kennern ein Begriff.
Er begründete mit seinen literarischen Arbeiten den Naturalismus. Gleichzeitig galt er als ein ausgezeichneter Menschenversteher und -beobachter. So sind einerseits seine Landschaftsbeschreibungen von enormer Intensität und Poesie. Andererseits thematisiert er auf beeindruckende Weise die Stellung des Menschen sowohl im ländlichen, als auch im städtischen Umfeld. Aus dieser gelebten Gegensätzlichkeit schuf er seine bekanntesten Romane, wie „Das gelobte Land“, „Hans im Glück“ und „Das Totenreich“.
Dem Göttinger Wallstein Verlag, bei dem der vorliegende Band „Kaum ein Tag ohne Spektakel“ erschien, gelingt ein Wiedereinstieg in Pontoppidans Schaffen, nicht in dem er seine Romane neu auflegt, sondern die Vielseitigkeit des Autors zum Ausdruck bringt. Das Buch enthält Erzählungen und Geschichten, Kritiken, Kolumnen und Reportagen des Dänen – allesamt von Ulrich Sonnenberg neu übersetzt.
Der erste Teil des Bandes enthält insgesamt zwölf Erzählungen, in denen das Schicksal gegen die Moral kämpft, die Natur sich gegenüber der Moderne behauptet, die lokalen Gegebenheiten den Hoffnungen und Wünschen der Menschen manchmal unvereinbar gegenüberstehen. Manche dieser kurzen Texte klingen ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Doch im Grunde sind es genau die Themen, die bis in die Gegenwart die Menschen beschäftigen, die heute vielleicht in einem etwas anderen Licht betrachtet werden – aber letztendlich, oft schmerzhaft, um die Existenz in der Gesellschaft kreisen.
Zugleich zeigt Pontoppidan, trotz seiner konservativen Grundhaltung, deutlich eine gesellschaftskritische Distanz gegenüber gottesfürchtigen Lebensmaximen und strenggläubigen Wertesystemen, die er teilweise mit Ironie und leichtem Sarkasmus unterläuft.
Dass Henrik Pontoppidan jedoch nicht allein als literarischer Asket gesehen werden kann, machen seine Feuilletons und Kolumnen deutlich, die fast ausnahmslos als journalistische Arbeiten für Tageszeitungen entstanden sind. Besonders auffällig hier seine Reisebeschreibungen, wie eine Schiffsfahrt an den Polarkreis und vor allem die Reportage „Aus Berlin“. Hier verarbeitet der Autor einen Aufenthalt in der deutsche Hauptstadt im Jahr 1891. Es zeigt sich wieder seine enorme Beobachtungsgabe und in diesem Fall sein konkret kritischer Blick, sowohl auf die strenge Architektur des Zentrums von Berlin, als auch auf die nationalistischen Tendenzen innerhalb der Bevölkerung. Beides befremdet ihn.
„Kaum ein Tag ohne Spektakel“, das teilweise wie etwas aus der Zeit gefallen wirkt und dann wieder menschliche Schicksale mit derartiger Wucht beschreibt, als handele es sich um Literatur der Moderne, beeindruckt neben dem erzählerischen Können des Autors vor allem durch die Bandbreite der hier aufgegriffenen Themen. Insofern hat der Wallstein Verlag mit diesem Band auf weitere Werke des Dänen neugierig gemacht.
Jörg Konrad

Henrik Pontoppidan
„Kaum ein Tag ohne Spektakel“
Erzählungen und Feuilletons
Wallstein Verlag
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Dienstag 26.12.2023
Points Of View - Konzepte und Sequenzen
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Die Photographische Sammlung SK Stiftung Kultur wurde 1992 gegründet, mit dem Ziel, Photographie „im dokumentarischen Stil“ zu erfassen und zu dokumentieren. Der erste Erwerb der Institution galt dem bedeutenden August Sander-Archiv, das, wie auch alle späteren Anschaffungen konservatorisch und wissenschaftlich betreut wird. Mittlerweile umfasst die Sammlung über 40 000 Objekte von über 100 Photographinnen und Photographen aus dem Zeitraum von 1860 bis 2010.
Einen Einblick in die Bereiche Portrait, Landschaft, Botanik, urbanes Leben und Architektur bietet mit 471 Abbildungen der vorliegende Katalog „Points Of View – Konzepte und Sequenzen“, der die ständige Ausstellung in Köln begleitet. Hier sind unter anderem Arbeiten von Diane Arbus, Boris Becker, William Christenberry, Hugo Erfurt, Walker Evans, Claudia Fährenkemper, Candida Höfer, Albert Renger-Patzsch, Tata Ronkholz, Hugo Schmölz, Wilhelm Schürmann, Otto Steinert, Bernd und Hilla Becher und natürlich August Sander enthalten.
„Kein Tag vergeht heute, ohne dass weltweit Milliarden von Photographien erstellt werden, die meisten wohl mit dem Mobiltelefon“, beginnt eine Einführung in den Sammlungsbestand von Gabriele Conrath-Scholl, der dem Fototeil des Katalogs vorangestellt wird. Conrath-Scholl verweist in ihrem Text auf die Entwicklung und ständige Erweiterung der Photographischen Sammlung und vor allem darauf, dass die Photographie es ermöglicht, Aspekte der Realität „relativ unverfälscht zu dokumentieren“. Sie zitiert diesbezüglich eine Aussage von Hilla Becher, die davon spricht, dass die Stärke der Photographie in der realistischen Wiedergabe der Welt besteht. Auf diese Art ist es möglich, die jeweilige Gegenwart zu konservieren und der Nachwelt zugänglich zu machen.
Gleiches gilt auch für diesen Band, der von Schirmer/Mosel in ausgezeichneter Qualität editiert wurde und damit die Sammlungsbestände zumindest in Ausschnitten einem breiten Publikum zugänglich macht.
Helga Brauer

Points Of View
Konzepte und Sequenzen
Hrsg. v. Die Photographische Sammlung SK Stiftung Kultur

Abbildungen:

- August Sander
Familie von Lehrer Geisler, 1910
Sander: © Die Photographische Sammlung/SK Stiftung Kultur; VG Bild-Kunst, Bonn 2023

- Gabriele & Helmut Nothhelfer
Tanzendes Paar beim Pfingstkonzert im Zoologischen Garten, Berlin, 1974
Nothhelfer: © VG Bild-Kunst, Bonn 2023

- Francesco Neri
Vater mit seinen Freunden, Casola Valsenio, 2013
Neri: © Francesco Neri
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Montag 18.12.2023
Cornelius Völker „Vom Erscheinen und Verschwinden der Dinge“
Noch bis zum 7. Januar 2024 zeigt der Düsseldorfer Kunstpalast Arbeiten von Cornelius Völker. Der 1965 in Kronach geborene Maler hat an der Düsseldorfer Kunstakademie bei A.R. Penck und Dieter Krieg studiert und lebt seitdem in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt.
Völker gehört zu den figurativen Malern, die sich vertrauten Motiven und Alltagsgegenständen in kräftigen Farben nähern. Sein Blick auf Menschen, Tiere, Pflanzen, bis hin zu Bücher- und Zeitungsstapeln vermittelt eine Art der grellen Sachlichkeit, die einerseits, was seine Motive betrifft, traditionell wirken. Andererseits bringen eben jene starken Farben und die großformatige wie plastische Gestaltung der Vorgaben Transparenz und Realität in die Arbeiten. Trotz dieser Klarheit und dem überquellenden, radikal-leuchtenden Farbspektrum ist es eine ästhetische Poesie, die sofort gefangen nimmt.
Völker malt seine Bilder nach originalen Motiven, nutzt kaum Fotografien oder andere bildliche Hilfsmittel. Insofern sind seine Werke Teil und Ausschnitt der Wirklichkeit, als eine Abstraktion der Realität. Das wird auch an der Genauigkeit der Formen und den Details seiner Sujets deutlich. Er arbeitet zum Beispiel an den Bücherstapeln die wulstigen Ränder und geschundenen Umschlagseiten plastisch heraus, zeigt die Meerschweinchen als greifbare, flauschige Wollknäule, wobei der markant gelbe oder intensiv hellblaue Hintergrund etwas surreal Poppiges in die Bilder bringt. Bei seiner Jägermeister-Ramazzotti-Flaschenbatterie glaubt man erst an eine flüchtige Fotografie, bis sich die Formen und Farben deutlich als Malerei zu erkennen geben. Die Bilder offenbaren immer Direktheit, keine verschatteten, oder auf emotionale Stimmungen ausgerichteten Arbeiten. Die Klarheit und Fleischigkeit der Farben und Schärfe der Konturen sind unerbittlich, wie im Licht von Scheinwerfern. Mitunter wirken sie distanziert bis unterkühlt.
Der aus dem Hause Schirmer/Mosel stammende Ausstellungskatalog „Vom Erscheinen und Verschwinden der Dinge“ beeindruckt durch eine hervorragende Druckqualität. 185 Seiten, auf denen ein Großteil der 85 Ölgemälde und 50 Papierarbeiten der in Düsseldorf ausgestellten Werke wiedergegeben sind. Vorangestellt ist dem Bildteil ein einfühlsamer Essay von Kay Heymer, Leiter Moderne Kunst, Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf und eine Einführung von Maite van Dijk.
Jörg Konrad

Cornelius Völker
„Vom Erscheinen und Verschwinden der Dinge“
Schirmer/Mosel

Abbildungen:

- Mann, 2007
Öl auf Leinwand, 220 x 150 cm

- Feuerzeug, 2010
Öl auf Leinwand, 240 x 160 cm

- Buchkanten, 2008
Öl auf Leinwand, 190 x 120 cm

- Cornelius Völker
Vom Erscheinen und Verschwinden der Dinge
Hrsg. vom Museum Kunstpalast, Düsseldorf, und Museum MORE, Gorssel
Mit Texten von Kay Heymer und Maite van Dijk
192 Seiten, 110 Farbtafeln
ISBN 978-3-8296-0990-6
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Mittwoch 13.12.2023
Louis-Ferdinand Céline „Krieg“
Die Entdeckung des vorliegenden Manuskripts könnte selbst der Stoff für einen Roman sein. Louis-Ferdinand Céline, Antisemit und Rassist und gleichzeitig großer Literat, musste als französischer Kollaborateur und Verfasser etlicher Hetzschriften 1944 beim Vormarsch der Alliierten Paris bei Nacht und Nebel verlassen. Er türmte über Baden-Baden und Sigmaringen nach Dänemark, wo er schon zuvor vorsorglich seine Ersparnisse deponiert hatte. In Kopenhagen lebte er kurze Zeit unerkannt – wurde dann aber verhaftet und kehrte erst sechs Jahre später nach Frankreich zurück.
Die in seiner Wohnung aufgrund der abrupten Flucht hinterlassenen literarischen Arbeiten/Skizzen/Manuskripte, immerhin 6000 Seiten, galten seither als verschollen. Sie tauchten erst vor einigen Jahren wieder auf, wobei ihr Weg bis heute nicht ganz geklärt ist. So jedenfalls konnte sechzig Jahre nach dem Tod des einstigen Skandalautors ein neuer Roman von Louis-Ferdinand Céline erscheinen, der speziell in Frankreich umgehend alle Verkaufsrekorde brach.
In „Krieg“ verarbeitet Céline eigene Erlebnisse aus dem 1. Weltkrieg. Ferdinand, die Hauptperson, wird auf dem Kriegsfeld in der Nähe von Ypern in Flandern schwer verletzt, von einem englischen Soldaten geborgen und in ein kleines nahes Städtchen in ein Lazarett verbracht. Hier, in einer zum Lazarett umfunktionierten Kirche und dessen Umgebung spielt die Handlung des Romans. Ferdinand freundet sich mit Cascade an, einem Soldaten, der sich eine Schusswunde zugefügt hat, um dem Kriegsinferno zu entfliehen. Später wird dieser von seiner Ehefrau denunziert und aufgrund der begangenen Selbstverstümmelung als Deserteur exekutiert.
Das packende an diesem gerade einmal knapp 140seitigem Manuskript ist dessen Sprache, in der Céline seinen „Krieg“ erzählt. Er findet eine beeindruckende und für ihn sehr typische Form zwischen grobschlächtiger Alltagskommunikation, die von einer deutlichen Kriegsverrohung gekennzeichnet ist, und einer ausdrucksstarken Poesie, die hohen literarischen Anspruch erfüllt. Selbst die derben und mit Alpträumen und Schrecken angereicherten Sequenzen lesen sich anschaulich, sind psychologisch klug durchdacht und dramaturgisch hocheffizient umgesetzt. Dadurch erhält der Text eine sehr bildhafte Komponente, als bestünden einzelne Abschnitte aus virtuellen Szenen. Im übertragenen Sinn kein Drehbuch, aber eine Art geschriebener Film.
Die Frivolität seiner Gedanken und Sätze scheint dem Untergangsszenario des Krieges zu entsprechen. In den Sätzen finden entfesselte Ideen ihren Ausdruck, so wenn Céline vom Krieg schreibt, der ihn im Kopf erwischt hat, oder „ … das linke Ohr fest an den Boden geklebt mit Blut, den Mund auch. Zwischen beiden gewaltiger Lärm ...“. Die Schrecken dessen, was sich auf den Schlachtfeldern zuträgt, ist mit genormten Sätzen und regelrechter Grammatik nicht mehr auszudrücken. Beinahe jede Szene erhält bei ihm einen erschütternden Beigeschmack. Die Verzweiflung ist allenthalben zu spüren. Kein Heldentum nirgends.
Gerhard von Breuste

Louis-Ferdinand Céline
„Krieg“
Rowohlt
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Mittwoch 29.11.2023
Sherko Fatah „Der große Wunsch“
In Sherko Fatahs Roman „Der große Wunsch“ sucht ein Vater nach seiner verlorenen Tochter. Murad, ein deutscher Intellektueller mit kurdischen Wurzeln, begibt sich auf die Reise in das Herkunftsland seines Vaters, in das gefährliche Grenzgebiet zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak. Seine Tochter Naima ist verschwunden, ohne Abschied und Erklärung. Er und seine geschiedene Frau, eine Deutsche, wissen nur, dass Naima im Internet einen Gotteskrieger kennengelernt hat und ihm ins Kampfgebiet des IS gefolgt ist.
Sherko Fatah wurde 1964 in Ostberlin als Sohn eines kurdischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. In all seinen Büchern befasst er sich mit dem Aufeinandertreffen der europäischen und der arabischen Kultur, mit Entwurzelung und Gewalt.
Der Roman ist großartig erzählt. Landschaften sind für Sherko Fatah ein Spiegel der Seele, wie er in einem Interview sagt. Schon das erste Kapitel erzeugt in eindrucksvollen, an starken Bildern reichen Landschaftsschilderungen eine Stimmung von Verlorenheit und Gefahr. Murad hat sich in die Berge an der syrischen Grenze fahren lassen, eine Welt von karger Weite und herber Schönheit. Auf dem einsamen Rückweg durch Nebel und Schnee verliert er die Orientierung, wird von wilden Hunden verfolgt und schafft es nur mit Mühe zurück in das archaische türkische Dorf, in dem er sich einquartiert hat.
Hier wartet er auf zwielichtige Mittelsmänner, die behaupten, eine Spur zu seiner Tochter gefunden zu haben. Um die Leere zu füllen, unternimmt Murad zusammen mit seinem Fahrer Ausflüge in die Umgebung, in eine Region, die von Krieg und Gewalt geprägt. Ist. Sie stoßen auf ein kurdisches Militärlager und auf eine Höhle voller Skelette, erschreckende Überreste des Genozids an den Armeniern.
Zu den Menschen im Dorf hat Murad wenig Kontakt. Die lange Zeit des Wartens verbringt er vor allem mit Nachdenken. Nachdenken über sich selbst, sein Leben, über seine Tochter und darüber, wie unbegreiflich und fremd sie ihm geworden ist. Nirgends findet er Gewissheiten, zunehmend verliert er den Boden unter den Füßen.
Fatah schildert in seinem Roman die Wurzellosigkeit eines Mannes zwischen den Kulturen, der weder im Land seiner Väter noch in Deutschland eine wirkliche Heimat hat.
Der Name der Hauptfigur, „Murad“, bedeutet im Arabischen „Der große Wunsch“. Murads Tochter Naima verwendet den Namen ihres Vaters als ihr Computer-Passwort. Sein größter Wunsch ist, Naima zu finden und aus den Fängen des Gottesstaates zu befreien. Aber was ist der große Wunsch seiner Tochter, was hat sie zu ihrem radikalen Schritt bewogen? Wie kann sich eine junge Frau, die in Sicherheit, Freiheit und Wohlstand aufgewachsen ist, einer Terrororganisation wie dem IS anschließen? Trifft ihn als Vater eine Schuld? Hat auch sie sich in Deutschland fremd gefühlt und nach einer Heimat gesucht? Hat sie plötzlich die Religion als Halt entdeckt? Oder ist sie einfach aus Verliebtheit einem jungen Mann ins vermeintliche Abenteuer gefolgt? Und wie verhält sie sich zu den unmenschlichen Gräueltaten der Gotteskrieger? Fragen, auf die es im Buch keine Antworten gibt.
Von seinen Mittelsmännern erhält Murad immer wieder Nachrichten von der Frau, die angeblich Naima sein soll. Fotos zeigen eine tiefverschleierte Muslimin. Er kann sie nicht identifizieren. Sporadisch werden ihm Audiofiles zugespielt, die aus dem online-Tagebuch seiner Tochter stammen sollen. Er ist sich nicht sicher, ob es sich wirklich um ihre Stimme handelt. Die Verbindung zu ihr findet nur auf der digitalen Ebene statt, die Wahrheit über Naima bleibt quälend unklar, wenn die Botschaften auch bruchstückhaft Einblicke in die düstere Welt einer Terroristin ermöglichen.
Anfangs fühlt sich die Frau noch als Teil einer Gemeinschaft, die einen berechtigten Kampf gegen die Unmoral und Verkommenheit des kapitalistischen Westens führt. Sie hat sich einer Hisba angeschlossen, einer Fraueneinheit des IS. Diese kontrolliert, ob die Menschen der Stadt sich an die Vorschriften des Kalifats halten und meldet kleinste Verstöße der Religionspolizei. Doch zunehmend scheint die junge Frau von Einsamkeit, Zweifeln und Angst gepeinigt zu werden. Ihre Berichte über Grausamkeiten der Gotteskrieger häufen sich und kulminieren in einer Folterszene an einer Schwangeren.
Sherko Fatah hat einen vielschichtigen, faszinierenden Roman über Fremdheit, Sinnsuche und Fanatismus geschrieben, der in einen hochspannenden, überraschenden Schluss mündet. „Der große Wunsch“ stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Zu Recht.
Lilly Munzinger, Gauting

Sherko Fatah
„Der große Wunsch“
Luchterhand
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Autor: Siehe Artikel
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