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31. Carla Bley (geb. 11. Mai 1936 in Oakland, gest. 17. Oktober 2023)
32. Germering: Alliage Quintett & Sabine Meyer – Beschwingt und feinsinnig
33. Landsberg: Compagnie Handmaids: Mama Europa – Chancen und Realitäten
34. Fürstenfeld: Afra Kane – Mit Sensibilität und Entschlossenheit
35. Staatsschauspiel Stuttgart: Die Präsidentinnen – Einfach monumental
36. Landsberg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee – Ein ästhetisch überz...
Mittwoch 18.10.2023
Carla Bley (geb. 11. Mai 1936 in Oakland, gest. 17. Oktober 2023)
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Foto: TJ Krebs
Carla Bley / Andy Sheppard / Steve Swallow
„Life Goes On“


So einfach, so klar, so schön – kann Musik sein. „Life Goes On“ heißt das neue Album des Trios Carla Bley, Andy Sheppard und Steve Swallow. Drei Suiten, deren Melancholie das Herz öffnen, deren hintergründiger Humor anregend wirkt, deren Fragilität betroffen macht. Es bedarf schon gewaltiger Erfahrung und spieltechnischer Sicherheit, derart spartanisch musikalische Leidenschaften in die Praxis umzusetzen. Das Titelstück als vierteiliger Blues ist eine Offenbarung an Reduktion. Keine Note zu viel, kein Ton zu wenig und trotzdem finden Ästhetik, Eleganz und Ursprünglichkeit einen gemeinsamen Ausdruck. Blues als Kammermusik, bei dem der Fluss des geistigen Austauschs in ständiger Bewegung ist.
Das ganze Album ist ein instrumentales Gespräch, sparsam, aber von höchster Effizienz. Carla Bleys Klavierspiel beeindruckt trotz ihrer Leichtigkeit in der Schärfe der Konturen und den ausgeführten Wendungen. Andy Sheppard spielt das Saxophon wenig virtuos, stattdessen inspiriert, nuanciert mit einem philosophischen Unterton. Und Steve Swallow ist am elektrischen Bass der gewohnt raffinierte Diplomat im Sinne der Gesamtmusik. Er hält zusammen, was zusammen gehört, stoisch, trotzig, elegant.
„Life Goes On“ kann in dieser Besonnenheit nur spielen, wer sich lange und gut kennt. Das Trio existiert seit über einem Vierteljahrhundert. Steve Swallow hat sich schon vor sechs Jahrzehnten den Kompositionen der Pianistin Carla Bley gewidmet. Neugierde und Aufgeschlossenheit sind sowieso die lebensbestimmenden Maxime aller drei Solisten. Ein Album voller Würde und Kurzweil.
Jörg Konrad
(KultKomplott im März 2020)


Carla Bley, Steve Swallow, Andy Sheppard am 25. Mai 2014 in Dachau

Als Gary Burton sich im Dezember 1975 im Ludwigsburger Studio Bauer mit den Mitmusikern seiner neuen Band traf, um „Dreams So Real“ einzuspielen, hatte er sich im Vorfeld ausnahmslos für Kompositionen von Carla Bley entschieden. Schließlich galt die New Yorkerin schon in jenen Jahren als eine der genialsten Tonsetzer. Zum Burton-Quintett gehörten damals der gerade einmal 21jährige, noch völlig unbekannte Pat Metheny und Steve Swallow an der E-Bassgitarre. Es war Swallows erste intensivere Auseinandersetzung mit der Musik Carla Bleys.
Mittlerweile gibt es kaum Aufnahmen der Grande Dame am Jazz-Piano ohne ihn. Egal ob im Duo, im Quintett, in Big Band-Besetzung, oder, wie am gestrigen Sonntag in Dachau, im Trio: Fast immer ist der rhythmisch verlässliche, fruchtbaren Boden pflügende Tieftöner nah an ihrer Seite. Auch privat!
In Dachau waren beide, gemäßentsprechend ihrer letzten Einspielung für ECM München, zu Gast im Trio. Andy Sheppard, der englische Saxophonist, dessen erstes eigenes Album 1987 übrigens von eben diesem Steve Swallow(!) produziert wurde, ist, bei aller musikalischen und persönlichen Nähe von Bley und Swallow, so etwas wie der Dreh-und Angelpunkt dieser Formation. Denn das, was die Pianistin an Akkorden und Harmonien so makellos schichtet und was der Bassist mit rhythmischer Finesse so fragmentarisch unterlegt, verbindet der Saxophonist mit spielerischer Eleganz.
Ihre manchmal leicht sperrigen Vorlagen und verletzt klingenden Dissonanzen haben Charme, wirken in ihrer Unvollkommenheit kultiviert und erinnern entfernt an einen stillen Gruß von Th. Monk, dem Jazz-Genie. In diesem Trio gibt es keine Gipfelstürmer. Es sind eher kammermusikalische Rituale, die trotz Blues und Latin enorm europäisch klingen. Entschleunigte Metamorphosen, so lyrisch wie fesselnd, mit unglaublicher Suggestivkraft umgesetzt. Hier spielt das Diktat der Erfahrung, in dem Klugheit, Empathie, Virtuosität, Humor und intellektuelle Leidenschaft Hand in Hand gehen.
Jörg Konrad
(KultKomplott im Mai 2014)
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Samstag 14.10.2023
Germering: Alliage Quintett & Sabine Meyer – Beschwingt und feinsinnig
Bilder
Foto: Ira Weinrauch
Germering. Das Alliage Quintett hat sich mit der Klarinettistin Sabine Meyer bei ihrem gemeinsamen Auftritt am Freitag im Orlandosaal der Germeringer Stadthalle auf ein ganz besonderes Programm geeinigt. Kompositionen, die in dieser Zusammensetzung und Fülle nur selten zu erleben sind. Da wäre zu Beginn gleich die „Cuban Overture“ von George Gershwin, ein Stück, dass der Sohn jüdisch-russischer Einwanderer in Anlehnung an eine Kuba-Reise 1932 fertigstellte und aufgrund seiner rhythmisch-folkloristischen Ausrichtung einen bestimmten Tanzcharakter aufweist. Der Arbeitstitel lautete entsprechend auch „Rumba“.
Dieser Tanzcharakter wurde noch erweitert durch den Blumenwalzer aus Tschaikowskys „Der Nussknacker“ und natürlich durch Carl Maria von Webers „Aufforderung zum Tanz“. Es gab zudem eine Bearbeitung von Schostakowitschs „5 Stücke für 2 Violinen und Klavier“ (obwohl es sich beim Alliage Quintett um ein reines Saxophon Ensemble handelt – also an diesem Abend keine Geige zur Verfügung stand) und Alexander Borodins „Polowetzer Tänze“. Vervollständigt wurde das Programm durch Stefan Malzew, Johann Sebastian Bach und die „Brazileira“ aus „Scaramouche“ von Darius Milhaud. Selbst wenn man es nicht gelesen hatte, die Überschrift des Abends erschloss sich jedem Zuhörer wohl aufgrund der akustischen Präsentation von selbst: „Aufforderung zum Tanz“.
Es wurde entsprechend ein beschwingter Musikabend, abgesehen von zwei tragenden, sehr melancholisch umgesetzten Präludien von Schostakowitsch, die übrigens allesamt von dem russischen Komponisten, Pianisten und Pädagogeen als Film- resp. Schauspielmusik gedacht waren.
Das Alliage Quintett bestehend aus Daniel Gauthier (Sopransaxophon), Miguel Valles (Altsaxophon), Simon Hanrath (Tenorsaxophon), Sebastian Pottmeier (Baritonsaxophon) und Jang Eun Bae (Klavier) hat natürlich einen Teil der Vorgaben für ihre Besetzung plus Solostimme neu arrangiert. Und trotz der Themenvorgabe zeichnete sich der Abend durch Vielseitigkeit und passionierte Musizierweise aus. Das rauchige Tenor, das sonore Bariton, das schärfere Alt, das strahlende Sopran und die jubilierende Klarinette von Sabine Meyer finden in der Gemeinschaft zu einer das Publikum mitreißenden und aufmunternden Klangsprache.
Berührend an diesem Abend das feinsinnige Spiel Sabine Meyers, die sich besonders im Zusammenspiel mit Daniel Gauthier (Sopransaxophon) recht wohl zu fühlen schien. Ihre kurzen, frohlockenden Dialoge, das sich gegenseitig animierende „Rivalisieren“ wirkte in seiner ganzen spielerischen Dynamik raffiniert und vermittelte neben Charme auch immer einen gewissen Humor.
Jörg Konrad
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Autor: Siehe Artikel
Mittwoch 11.10.2023
Landsberg: Compagnie Handmaids: Mama Europa – Chancen und Realitäten
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Landsberg. Die Zeiten änderten sich - als nach den beiden Weltkriegen der Traum von einer Europäischen Union greifbar erschien und er einige Jahre darauf tatsächlich umgesetzt wurde.
Die Zeiten hatten sich geändert - als im Herbst 1989 Europa zusammenrückte und aufgrund von Volksrevolutionen in den Ländern des Ostblocks die nächste Dekade der Hoffnung entstand. Es gab mehr Freiheit, mehr Toleranz, wohingegen nationale Grundstimmungen, als Auslöser für (ethnische) Konflikte, bröckelten.
Die Zeiten haben sich wiederholt geändert - als nur ein gutes Jahrzehnt später die Nationalismen wieder auf dem Vormarsch waren und in einigen Ländern Europas, trotz Freizügigkeit und Unabhängigkeit, wieder den Alltag bestimmten.
Werden sich die Zeiten wiederholt ändern, in dem das Streben nach einem gemeinsamen Europa an diesen nationalen Eitelkeiten zerbricht?
Mama Europa“, entworfen und gespielt von Sabine Mittelhammer von der Berliner Compagnie Handmaids, beschäftigt sich mit den Kulturen und der neueren Geschichte des zweitkleinsten Kontinents der Erde. Ein Kontinent, dessen Historie so reich ist an Erfolgen und Niederlagen, an individuellen Schicksalen, an Not, Hoffnung, Verfolgung und Erlösung bis in unsere Tage. Festgemacht an ihrer eigenen Biographie gab die Schau- und Puppenspielerin am Dienstag im Landsberger Stadttheater einen sehenswerten Diskurs über die Chancen und Realitäten – quasi eine Art (verkürzte) Geschichtsstunde Europas der Neuzeit.
Sabine Mittelhammers Familiengeschichte gehört eindeutig in das hoffnungsvolle Kapitel der europäischen Integration. Haben sich ihre Vorfahren noch als Franzosen und Deutsche unversöhnlich gegenüber gestanden, lernten sich ihre Eltern, der Vater bei Augsburg, die Mutter im bretonischen Brest lebend, kennen und lieben. Sie gründeten eine Familie. Tochter Sabine wiederum lernte, aus Berlin kommend, einen Franzosen kennen – und beide gründeten ebenfalls eine Familie.
Doch dieser Erfolgsgeschichte stehen europäische Entwicklungen gegenüber, die stärker auf Ab- und Ausgrenzung setzen, als auf kluge Eingliederung und Solidarität. Der einstige Gedanke einer gemeinsamen nachhaltigen Entwicklung als Beitrag zu Frieden und Sicherheit, sowie die Umsetzung des Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte („Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen“) steht auf dem Spiel und läuft Gefahr, wieder verloren zu werden.
Diese Träume und Realitäten hat Sabine Mittelhammer in ihrem Ein-Personen-Stück beeindruckend in Szene gesetzt. Sie arbeitet mit Papier und Klebeband, formt kurzerhand Spielfiguren, zieht Grenzlinien, macht Fluchtlinien auf einfache Art deutlich und gibt damit eine zwar spielerische, aber zugleich auch bedrückende europäische Bestandsaufnahme. Träume und Trauer, Hoffnung und Not, Liebe und Enttäuschung, Glück und Abkehr, Not und Trost gehören (leider) oft zur gleichen Seite einer Medaille.
Sabine Mittelhammer machte in ihrer Inszenierung deutlich was Europa war, was Europa ist und was Europa letztendlich sein könnte. Ideale Vermittlung von Schulstoff - nicht trocken und theoretisch, sondern kreativ und lebendig, provozierend, auch verklärend und vor allem immer die Möglichkeiten einer humanen Entwicklung aufzeigend.
Jörg Konrad
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Autor: Siehe Artikel
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Freitag 06.10.2023
Fürstenfeld: Afra Kane – Mit Sensibilität und Entschlossenheit
Fürstenfeld. In Afra Kane steckt ebenso viel afro-amerikanischer Jazz, wie auch europäische Klassik, westliches Pop-Entertainment und leidenschaftliches Soulfieber. Derart ausgestattet braucht die italienisch-nigerianische Singer-Songwriterin keine Vergleiche mit den großen Vocal-Diven zu fürchten. Zu dem ist Afra Kane eine ausgezeichnete Pianistin, mit spürbarem Sinn für Form, für improvisatorische Dramaturgie und leidenschaftliches Powerplay. Ihre Anschlagskultur ist formidable, ihre Individualität subtil. So präsentierte sich die Sängerin, Pianistin und Komponistin mit ihrem musikalischen Partner Marius Rivier am Mittwoch im mittlerweile 150. Konzert(!!!) der Fürstenfelder Reihe Jazz First.
Das Programm bestand aus eigenen Songs, die Afra mit Hingabe und der ihr eigenen Selbstverständlichkeit vortrug. Viele Sängerinnen in ähnlicher Situation hätten sich in ihrer Repertoireauswahl stärker auf Jazz-Standards oder bekanntere Cover-Versionen gestützt. Afra Kane, heute in der Schweiz lebend, platzierte sich mit ihren Kompositionen in den nah beieinander liegenden stilistischen Territorien von Gospel, Soul und Rhythm & Blues. Hier kann sie ihre Möglichkeiten, nach eigenem Bekunden, am auffälligsten ausschöpfen.
Afra wurde im norditalienischen Vicenza geboren und erhielt als Neunjährige ersten Klavierunterricht. Sie liebt Chopin und Debussy und wurde gleichzeitig durch ihr Elternhaus mit afrikanischem Gospel konfrontiert. Später kamen dann wichtige Einflüsse durch die Stars des Motwon-Labels, wie Marvin Gaye und Aretha Franklin hinzu. „In der klassischen Musik war alles auf perfektionistische Interpretation ausgerichtet. Beim Singen von Soul konnte ich dagegen meine Gefühle ausdrücken, ohne mich irgendwie um die Technik kümmern zu müssen“, sagte sie in einem Interview.
Sie siedelte nach Wales um und kam dann, über das internationale Erasmus-Programm, nach Genf, wo sie promovierte. Gleichzeitig lernte sie die Musik von Keith Jarrett, dem Brasilianer Hermeto Pascoal und dem ukrainischen Pianisten und Komponisten Nikolai Kapustin kennen und lieben. Mit all diesen Einflüssen ausgestattet entwickelte sie ihre eigene Musik, die letztendlich ihren ungewöhnlich reichen Erfahrungsschatz widerspiegelt.
In Fürstenfeld musizierte sie mit dem Schlagzeuger Marius Rivier, der versuchte, mit einer möglichst breiten rhythmischen Vielfalt dem Set einen weltmusikalischen Rahmen zu geben. Dieser wirkte letztendlich jedoch einengend und die Musik begrenzend.
Afra Kane beeindruckte mit ihrer freien, bewusst nicht perfekten Interpretation der eigenen Kompositionen. Ihre warme, berührende Stimme vermittelte sowohl Sensibilität als auch Entschlossenheit, ihre Taktverschleppungen sowie ihr Gespür für Dynamik und Nuancen sind als ein Teil ihrer vocalen Identität zu verstehen. Im Nachhall darf man gespannt beobachten, ob sich hier eine Große Stimme entwickelt, die die Tradition der sophistizierten Jazz- und Soulladys fortsetzt.
Jörg Konrad
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Foto: Katrin Ribbe
Mittwoch 04.10.2023
Staatsschauspiel Stuttgart: Die Präsidentinnen – Einfach monumental
Alles ist groß. Riesengroß. Einfach monumental. Die Möbel - überdimensioniert; das erfahrene Elend - kolossal; die unerfüllten Träume - gewaltig. Die Bühne: Eine heruntergekommene Puppenstube, mit turmhohen Sitzgruppen und eine nur unter Lebensgefahr zu ersteigende Standleuchte als Klettergerüst. Zwischen den Utensilien agieren drei bipolare Ladys in seelisch unscheinbaren Grautönen. Das klingt trostlos, das ist trostlos. Aber so inszeniert nun einmal Amélie Niermeyers das Stück „Die Präsidentinnen“ von Werner Schwab (1958 – 1994), einem jener Autoren, die das Theaterpublikum noch schrecken konnten.
Das Ensemble des Staatstheater Stuttgart ging bei seiner Vorstellung am Dienstag im Veranstaltungsforum Fürstenfeld bis an die Grenzen des Erträglichen. Manchmal darüber hinaus. Körperlich wie unmittelbar, verbal unkontrolliert und rein impulsgesteuert. Erna (Anke Schubert, Grete (Christiane Roßbach) und Mariedl (Celina Rongen) bringen das Stück aufdringlich, lärmend, ruhelos über die Rampe. Bei ihnen gehen Leidenschaft, Intensität und Hoffnungslosigkeit beeindruckend Hand in Hand. Kein Satz ohne derbe Anzüglichkeiten, das scheint die einzige Regel.
Alle drei fühlen sich mit ihrem Schicksal allein gelassen, fühlen sich gegenüber dem Leben nackt und ausgeliefert. Und Schuld an dieser Misere sind (natürlich) die Anderen. Erna, geschlagen mit einem alkoholabhängigen Sohn, träumt von einer Beziehung zum örtlichen Fleischhauer Wottila, Grete, die von ihrem Mann wegen einer weitaus jüngeren Asiatin verlassen wurde, steht auf den feschen Tubaspieler Freddy. Und Mariedl, „Klofrau“ mit Leib und Seele, liebt den Herrn Pfarrer und hasst jede Form von Blasphemie. Was sie zusammenhält ist neben der Not die Religion: Alle drei vergöttern Jesus.
Die Präsidentinnen des Leids schreien immer lauter werdend ihre Träume und Hoffnungen und ihren seelischen Schmerz heraus, werden immer stärker zu kämpfenden Rivalinnen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann und wie die skurile Konstellation in einer Zimmerschlacht explosionsartig auseinanderfliegt.
Amélie Niermeyers grelle wie exzessive Inszenierung lebt stark von der Lust an Provokationen, lebt von der Herausforderung an die scheinbare heile Welt die voller irrationaler Lebenslügen ist. Die Sprache ist markant bis grob, manchmal unerträglich, aber auch komisch - obwohl dem Publikum das Lachen immer wieder im Halse stecken bleibt.
Die Schauspielerinnen geben in ihren Rollen alles. Sie agieren leidenschaftlich, intensiv, sind körperlich enorm präsent. Sie machen die Tragik und Komik ihres Lebens deutlich und arbeiten ihren Frust aneinander ab - bis zur endlichen Katastrophe.
Wenn das Theater, wie der spanische Dramaturg Federico Garcia Lorca behauptet, eine Schule des Weinens und des Lachens ist, dann bewegt sich „Die Präsidentinnen“ genau auf diesen Spuren.
Und was war die Moral des Abends? Wahrscheinlich gab es keine und wenn, dann vielleicht als Frage verpackt: Ist die Welt tatsächlich eine Fäkaliengrube?
Jörg Konrad
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Freitag 29.09.2023
Landsberg: Fräulein Smillas Gespür für Schnee – Ein ästhetisch überzeugendes Konzept
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Foto: Lutz Edelhoff
Landsberg. Es ist an die drei Jahrzehnte her, da sprengte ein Roman des damals noch relativ unbekannten dänischen Autors Peter Høeg die Bestsellerlisten deutschsprachiger Literaturgazetten. Ein Krimi in Zeiten als diese, ähnlich den Kochbüchern, in der Welt der Bücher noch ein Nischendasein fristeten. Gleichzeitig war im Grunde aber klar: An diesem Text musste inhaltlich mehr sein, als dass ein einfacher Kriminalfall von einem verqueren (Privat-)Detektiv mit überdurchschnittlichem Intelligenzquotienten auf noch so skurrile Weise gelöst würde.
Høeg strickte in „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ aus unterschiedlichsten Problemaspekten, von denen manche Kritiker behaupteten, es wären vielleicht zu viele, eine Geschichte, die, aus heutiger Perspektive betrachtet, ihrer Zeit ein wenig voraus schien. Aber das Publikum damals kaufte, las und liebte dieses Buch, das von einem vom Dach gestürzten sechsjährigen Eskimojungen, einer Naturwissenschaftlerin aus Grönland, von Alkoholsucht, einem weit zurück liegenden, aber bis in die Gegenwart wirkenden Katastrophenszenario und mehreren Nordland-Expeditionen handelte. Die Story wurde (natürlich) verfilmt, dramatisiert und erfuhr am Donnerstag als Puppenspiel des Erfurter Theater Waidspeicher eine Aufführung im Stadttheater Landsberg.
Eine Geschichte, die ihre Dramaturgie, ihren Charme und ihre Brisanz durch das Zusammenspiel von Handpuppen und Schauspielern entwickelte, die tatsächlich aufgrund ihres ästhetischen Konzepts und der spieltechnischen Umsetzung zumindest die Verfilmung deutlich in den Schatten stellt. Frank Alexander Engel hat diese Aufführung inszeniert und kann sich bei der Umsetzung des Stoffes auf ein engagiertes und professionelles Ensemble stützen.
Die Handlung wirkt hingegen ein wenig hölzern, abgesehen davon, dass hier Menschen mit Umwelt- bzw. Naturkatastrophen konfrontiert werden, die in der Lage sind, biologische Grundlagen auf der Erde gehörig aus dem Gleichgewicht zu bringen. In diesem Kontext kommt der kleine Jesaja zu Tode und die 37jährige arbeitslose Mathematikerin und Geologin Smilla Jaspersen zeigt auf, dass es sich hier um Mord handelt, als dem Ergebnis eines politischen und wirtschaftlichen Komplotts.
Beide, Smilla als auch Jesaja haben grönländische Wurzeln, wobei das Verhältnis zwischen Grönland, einem politisch selbstverwalteten Bestandteil des Königreichs Dänemark, und Dänemark seit Jahrhunderten von sozialen Spannungen geprägt ist. Insofern bekommt die Geschichte neben der individuellen Identitätsfindung auch eine gewisse gesellschaftliche Sprengkraft und damit einen gegenwärtigen, sehr realen Bezug.
Das Ensemble des Theater Waidspeicher mit Karoline Vogel, Kathrin Blüchert, Paul Günther, Tomas Mielentz und Maurice Voß spielt selbst und führt die Handpuppen auf eine sehr inspirierende und, trotz der herausfordernden und manchmal rücksichtslosen Lebenswirklichkeit, immer wieder beeindruckend poetische Art und Weise. Oft sind es nur kleine Nuancen, wie die Körpersprache der Figuren, die berühren und die Charaktere deutlicher herausschälen. Ein insgesamt anregender und fesselnder Theaterabend, der vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen und Bravo-Rufen bedacht wurde.
Jörg Konrad
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Autor: Siehe Artikel
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