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31. Volker Reinhardt „Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzer...
32. Uwe Wittstock „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“
33. Georgi Demidow „Fone Kwas oder Der Idiot“
34. Peter Kemper „The Sound Of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz...
35. Michael Köhlmeier „Das Philosophenschiff“
36. André Franquin „Die Bravo Brothers“
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Dienstag 21.05.2024
Volker Reinhardt „Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzerisches Leben“
Aufklärer haben es zu jeder Zeit schwer. Doch besonders im Mittelalter waren die Konsequenzen für die unerschrockenen Kämpfer gegen Vorurteile, überholte Vorstellungen und religiös bestimmten Aberglauben besonders drastisch. Bestes Beispiel ist der Lebensweg des italienischen Priester, Dichter, Mönch, Philosoph und Astronom Giordano Bruno. Geboren 1548 in Nola, rund 30 Kilometer nordöstlich von Neapel vom Fuße des Vesuvs entfernt, wurde er 52jährig in einem Inquisitionsprozess zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt und hingerichtet. Sein Vergehen: Rationales Denken und naturwissenschaftliche Überlegungen. Im Sprachjargon der Inquisition: Ketzerei und Magie.
Der deutsche Historiker Volker Reinhardt hat sich mit Brunos Biographie tief in das Mittelalter begeben und sehr detailliert dessen Leben und Arbeit aufgefächert. Herausgekommen ist ein Buch, das sowohl das Kämpfertum des Freidenkers in den Mittelpunkt stellt, als auch die Zeit in der er lebte und wirkte. Reinhardt begleitet in "Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzerisches Leben" Bruno bei seiner Weihung zum Priester 1572 und bei seinen ersten deutlichen Zweifeln an der Dreifaltigkeitslehre, die ihn nur vier Jahre später dazu bewegen, aus dem Orden wieder auszutreten. Anschließend beschreibt der Historiker die Reisen Brunos, quer durch ein zerrissenes Europa, hin zu dessen intellektuellen wie religiösen Zentren, nach Genf, Toulouse, Paris, Oxford, London, Wittenberg, Prag, Zürich, wo er jeweils zwar teilweise mit Neugier empfangen wurde, letztendlich aber, nach dem man seine Geisteshaltung und naturwissenschaftlichen Arbeiten kennen lernte, als Ketzer vom Hof verjagte.
Bruno selbst war trotz seiner Überzeugungen, seinem Eintritt für Toleranz eine streitbare und manchmal auch ambivalente Persönlichkeit. Doch er fühlte sich immer der Freiheit des Denkens verpflichtet und wandte sich deutlich gegen jede Form von Religionen, die er einzig als ein Machtinstrument der Herrschenden einschätzte. So wurde Bruno als tätiger Oppositioneller und überzeugter Zweifler an allem Religiösen zu einer Art Spielball der Mächtigen seiner Zeit.
Es war eine Frage der Zeit, bis die Kirche mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln gegen diesen unangepassten Skeptiker vorging. Reinhardt hat für diese Abhandlung neue Dokumente ausfindig gemacht, wie die Verhörprotokolle der Verhandlungen, die die Hintergründe und den tatsächlichen Ablauf der Verfahren noch einmal in einem völlig neuen Licht darstellen. Reinhardt kommt nach akribischen Untersuchungen zu dem Schluss, dass an Giordano Bruno ein „Ausnahmeverbrechen“ konstruiert und durch Papst Clemens VIII. ein Exempel statuiert wurde. Letztendlich ist seine Hinrichtung ein eindeutiger Justizmord. Als Bruno das Urteil verkündet wurde, sagte er den berühmt gewordenen Satz: „Ihr verhängt das Urteil vielleicht mit größerer Furcht, als ich es annehme!“
Brunos Schriften wurden zugleich auf den Index gesetzt und erst 1966(!) wieder frei gegeben. Und erst im Jahr 2000(!!) erklärte Papst Johannes Paul II. Giordano Brunos grausame Hinrichtung für Unrecht – wobei eine vollständige Rehabilitierung aus „formal religiösen Gründen“ bis heute nicht stattfand.
Jörg Konrad

Volker Reinhardt
„Der nach den Sternen griff. Giordano Bruno - Ein ketzerisches Leben“
C.H. Beck
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Dienstag 30.04.2024
Uwe Wittstock „Marseille 1940 – Die große Flucht der Literatur“
Juni 1940. Im Internierungslager Les Milles in der Nähe von Marseille werden, zusammen mit unzähligen anderen Exilanten, auch Thomas Manns Sohn Golo und die Schriftsteller Lion Feuchtwanger und Walter Hasenclever festgehalten. Die Nachricht, dass Marschall Pétain mit den Nazis über einen Waffenstillstand verhandelt, schlägt ein wie eine Bombe und klingt für viele wie ein Todesurteil. Am nächsten Morgen heißt es jedoch, dass alle gefährdeten Männer zu einem unbekannten Ort gebracht werden sollen. Feuchtwanger und Golo Mann werden in einem überfüllten Zug abtransportiert, doch Hasenclever ist nicht dabei. Er hat keine Kraft mehr, zu fliehen. Er stirbt im Lager an einer Überdosis Veronal.
In seinem bewegenden und packenden Buch „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ schreibt der Journalist und Kulturredakteur Uwe Wittstock die Geschichte der deutschen Literaten während der Nazizeit fort, die er mit „Februar 33. Der Winter der Literatur“ begonnen hat. Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 hatten zahllose linke und jüdische Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland und Österreich in Frankreich Asyl gefunden. Im Juni und Juli 1940 eroberte dann die deutsche Wehrmacht in einem unglaublichen Tempo Paris, den Norden Frankreichs und einen Streifen entlang der Atlantikküste, und es kam zu einer zweiten riesigen Fluchtwelle. Alle hatten Angst um ihr Leben. Viele Exilanten wurden von den Franzosen in Lager gesteckt, viele versammelten sich in Marseille in der verzweifelten Hoffnung, über Spanien und Portugal nach Übersee fliehen zu können.
Im Mittelpunkt von „Marseille 1940“ stehen bekannte Namen wie Anna Seghers, Lion Feuchtwanger, Hannah Arendt, Heinrich Mann, Franz Werfel. Wittstock hat Tagebücher, Autobiographien und Briefe ausgewertet. Mit häufigen Perspektivwechseln erzählt er in jeweils kurzen Episoden, die sich wie ein Mosaik zu einem farbigen Bild zusammensetzen, von den politischen Ereignissen und den dramatischen Schicksalen dieser Menschen. Sie stehen, wie er sagt, stellvertretend für all jene, von denen man zu wenig weiß, um von ihnen berichten zu können.
Gleichzeitig hat Wittstock mit seinem Buch einem Mann ein Denkmal gesetzt, der heute fast vergessen ist. Varian Fry, ein brillanter junger Journalist aus New York, wird vom Autor als Idealist und Bewunderer der deutschen Literatur geschildert, gleichzeitig als eigenwilliger Mensch mit einer Neigung zu Depressionen. Auf mehreren Reisen hatte sich Fry ein Bild von Deutschland gemacht und in seinen Artikeln schon früh vor den Nationalsozialisten gewarnt. Nach dem deutschen Überfall auf Frankreich beschloss er, zu handeln und möglichst viele bedrohte Exilanten vor den Nazis zu retten. Im Juli 1940 gründete er in New York das Emergency Rescue Committee (ERC), sammelte bei Prominenten Spendengelder und flog schließlich im August selbst nach Marseille. Eine Liste der zweihundert am meisten gefährdeten Schriftsteller und Künstler hatte er sich auf dem Flug ans Bein geklebt.
Sein Büro in Marseille quoll bald schon über von Hilfesuchenden. Fry konnte engagierte Frauen und Männer als Mitarbeiter gewinnen. Offiziell deklarierte er seine Organisation als Hilfskomitee, das Flüchtlinge mit Geld und Sachspenden unterstützte. Darüber hinaus aber besorgten er und seine Leute Transitvisa für Spanien und Portugal, Affidavits für die Einreise nach Amerika und, wenn nötig, gefälschte Pässe und Papiere. Vor allem aber verhalfen sie vielen Menschen auf geheimen Routen zur illegalen Flucht über die Berge nach Spanien, da Frankreich keine Ausreisegenehmigungen erteilte.
Die Fluchtgeschichten, von denen Wittstock erzählt, lesen sich spannend wie Thriller. Zu den prominentesten Exilanten, die Fry und seine Mitstreiter erfolgreich über die Pyrenäen führten, gehörten Alma und Franz Werfel, Golo und Heinrich Mann mit seiner Frau Nelly und Marta und Lion Feuchtwanger. Dabei schildert Wittstock auch komische Momente, z.B. wenn Alma Mahler-Werfel ihre lange vermissten zwölf Koffer in einem theatralischen Auftritt zum Zug nach Spanien bringen ließ. Es gab aber auch tragische Misserfolge. So nahm sich Walter Benjamin in dem kleinen Grenzort Portbou das Leben, als er dort von spanischen Beamten festgenommen wurde.
Varian Fry ließ sich darin, was er als seine Lebensaufgabe sah, durch nichts beirren; weder durch die ständige Gefahr, als illegaler Fluchthelfer aufzufliegen, noch durch die zunehmenden Schwierigkeiten, die ihm das amerikanische Außenministerium und seine Chefs im New Yorker ERC wegen seiner oft eigenmächtigen Entscheidungen und seiner zu großen Nähe zu Kommunisten machten. Als Fry im August 1941 von der französischen Polizei verhaftet wurde und schließlich das Land verlassen musste, hatten er und seine Gruppe über 1000 Menschen die Flucht aus Frankreich ermöglicht und sie vor den Nationalsozialisten gerettet.
So ist „Marseille 1940“ auch ein zutiefst beeindruckendes Dokument der Empathie, der Menschlichkeit und des Mutes in finsteren Zeiten.
Lilly Munzinger, Gauting
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Mittwoch 27.03.2024
Georgi Demidow „Fone Kwas oder Der Idiot“
Rafail Belokrinitskij, die Hauptfigur des erstmals ins deutsche übertragenen Romans „Fone Kwas oder Der Idiot“ von Georgi Demidow, bezichtigt sich selbst mit Sabotageakten im Energiesektor, obwohl diese physikalisch/wissenschaftlich einfach nicht umsetzbar sind. Es klingt absurd, zumal er selbst als Chefingenieur eines großen Energieverbundes tätig ist. Er klagt sich selbst an, um die letzte Chance wahrzunehmen, vom Bolschewistischen System, in dessen Kerkern er seit Mitte der 1930er Jahre eingesperrt ist, vielleicht doch noch freizukommen. Ein naiver Gedanke.
Dieser Rafail Belokrinitskij trägt deutliche Züge des Autors, dessen Schicksal für Hunderttausende Bewohner der damaligen Sowjetunion typisch war. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wurde er vom Berüchtigten NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) verhaftet, wegen scheinbarer konterrevolutionärer Propaganda angeklagt und zu etlichen Jahren Lagerhaft in einem Gulag (ein Netz von Straf- und Arbeitslagern in den sibirischen Weiten der Sowjetunion) verurteilt. Vierzehn Jahre verbrachte Demidow im Lager Kolyma, wo er auch den Autor Warlam Schalamow kennenlernte.
Wie durch ein Wunder überlebte Demidow die Zeit der brutalsten Repressalien und begann, nachdem sein Traum als Physiker zu arbeiten geplatzt war, anschließend schriftstellerisch tätig zu werden. Er schrieb ausschließlich auf der Schreibmaschine, da ihm im Gulag etliche Finger erfroren waren. 1980 wurden sämtliche Manuskripte Demidows und die in seinem Besitz befindlichen Schreibmaschinen beschlagnahmt. Demidow starb als ein gebrochener Mensch.
Durch die Reformen der aufziehenden Perestroika und dem Engagement seiner Tochter Walentina Demidowa tauchten seine Manuskripte wieder auf und „Fone Kwas oder Der Idiot“ ist nunmehr der erste Roman aus dem Nachlass Demidows, der in deutsche Sprache übersetzt wurde.
Man darf davon ausgehen, dass vieles von dem, was Damidow seinen Helden widerfahren lässt, autobiographische Züge aufweist. Die Hauptfigur Rafail Belokrinitskij aus „Fone Kwas oder Der Idiot“ durchlebt die körperliche und seelische Hölle – um letztendlich unschuldig und zu Jahren der Zwangsarbeit verurteilt zu werden. Anfangs glaubt er noch, dass seine Festnahme ein Versehen sei und sich dieser Irrtum schnell auflösen würde. Doch die drastischen Geschehnisse in Zelle 22, in der sich ausschließlich Opfer Stalins willkürlicher Verhaftungswellen befinden, lehrt ihn mit der Zeit: Der NKWD irrt sich nie und das Schicksal seiner Gefangenen und Gefolterten ist ihm gleichgültig.
Belokrinitskijs wird gezwungen, seine Anklageschrift selbst zu verfassen. Aus Angst vor weiterer Folter entwirft er ein völlig unlogisches, widersinniges Konstrukt, in der stillen Hoffnung, seine Peiniger würden diesen Irrsinn erkennen, darauf eingehen und seine Unschuld bemerken. Doch Belokrinitskijs fällt, wie Thomas Martin in seinem Nachwort so treffend schreibt, wie einst sein Autor, „in das Räderwerk von Stalins Terror, Zacken eines Zahnrads aus dem Surrealen Getriebe der Macht.“ Rafail Belokrinitskijs steht wie alle anderen Insassen des Gefängnisses unter Generalverdacht und wird gnadenlos abgeurteilt.
Georgi Demidow entwirft diesen Text in einer eher nüchternen Sprache, ohne starke emotional wirkende Anteilnahme, was dieser Geschichte erst recht diesen grausamen Unterton gibt. Er erzählt die Geschehnisse mit der Präzision und Schärfe eines beobachtenden Wissenschaftlers und beschreibt eine surreale Welt in der Realität. Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit!
Jörg Konrad

Georgi Demidow
„Fone Kwas oder Der Idiot“
Galiani
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Mittwoch 20.03.2024
Peter Kemper „The Sound Of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz“
Die Frage existiert, seitdem er wissenschaftlich durchleuchtet wird: Ist Jazz politisch? Eine klare, wie ebenso knappe Antwort ist schwierig. Zwar ist der Jazz generell gesellschaftlich relevant, jedoch, neben der jeweiligen künstlerischen Individualität des Ausführenden, abhängig von den äußeren, auch soziologischen Bedingungen. Doch wenn er prinzipiell politisch wäre, dann ginge es nicht nur um seine Entstehung, sondern zugleich um seine Wirkung. Die Meinung von Cecil Taylor und Monty Sunshine oder von Archie Shepp und Dave Brubeck fällt naturgemäß ihres musikalischen Anspruches sehr verschieden aus. Aber vielleicht zeigt sich hier schon das Besondere in der politisch-ästhetischen Auseinandersetzung.
Die Antwort des Musikjournalisten, Redakteurs, Biographen und Juroren Peter Kemper füllt immerhin ganze 750 Seiten. „The Sound Of Rebellion - Zur politischen Ästhetik des Jazz“ - ein enormes Werk, voller Beispiele, Verweise, kluger Gedanken und persönlicher Portraits zum Thema Jazz. Allein mit folgendem Eingangsstatement macht Kemper klar, wohin die Reise geht: „Eine Grundannahme dieses Buches lautet: Jazz ist als Innovation von Afroamerikanern entstanden und hat sich im Kontext ihrer Emanzipationsbewegung und ihres Kampfes um Bürgerrechte entwickelt.“
Im Folgenden geht es Kemper also darum, diese Annahme anhand von Beispielen, sowohl musikalischen als auch sozialen, wie ebenso kulturpolitischen und philosophischen Bezügen, zu unterstützen resp. nachzuweisen.
Natürlich geht Kemper zuallererst von der Musik selbst aus. So beschäftigt er sich intensiv mit Armstrong und Parker, mit Charles Mingus und Albert Ayler, mit John Coltrane, Miles Davis, bis hin zu Kamasi Washington und Matana Roberts. Die Ergebnisse, was die Politisierung der Musik betrifft, fallen, wie schon erwähnt, unterschiedlich aus. Denn neben den Themen Klassenkampf und Rassismus werden auch spirituelle Ansätze in Form von religiösen Bekenntnissen angesprochen und durchleuchtet.
Gleichzeitig fließen philosophische Betrachtungsweisen eines Georges Bataille (in Bezug auf Pharoah Sanders) oder Jacques Derrida (in Bezug auf Ornette Coleman), sowie von Adorno und Heidegger in dieses Werk mit ein, wodurch ein gesellschaftspolitischer Blick von außen gegeben ist.
Als spannendstes Kapitel darf an dieser Stelle das siebzehnte unter dem Titel „The Future Is Female“ genannt werden. Die Saxophonistin, Komponistin und Sängerin Matana Roberts hat mit einem Großprojekt („Coin Coin“) afroamerikanische Ahnenforschung betrieben und ähnlich der AACM-Bewegung aus Chicago die Vergangenheit historisch aufgerollt, um die Zukunft des Jazz bewusst neu zu gestalten. Aus diesem Konzept heraus und zusätzlich inspiriert von der #Me-Too Bewegung ist wiederum eine Aktionsgruppe entstanden, deren akustische Spuren deutlich in der Musik der Schlagzeugerin Terri Lyne Carrington nachzuhören sind. Die 1980 geborenen Sängerin, Klarinettistin und Komponistin Angel Bat Dawid geht noch einen Schritt weiter. Sie sprengt die Rolle als Musikerin und „verwandelt die Musik in eine suggestive und multimediale Performance-Kunst“. Mit ihren Auftritten steht sie für ein „pulsierendes Manifest des zeitgenössischen Black Empowerments“. Sie fasst ihr Credo folgendermaßen zusammen: „Wenn Du schwarz bist, ist am-Leben-bleiben schon ein Erfolg“.
Jörg Konrad
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Dienstag 20.02.2024
Michael Köhlmeier „Das Philosophenschiff“
„Philosophenschiff“ – das klingt wie ein Name aus einem romantischen Roman. Aber die Wirklichkeit dahinter ist alles andere als poetisch. Philosophenschiffe nannte man Schiffe, auf denen im Jahr 1922 Hunderte von russischen Wissenschaftlern, Philosophen und Schriftstellern außer Landes und ins Exil geschickt wurden. Lenin hatte den Befehl dazu gegeben, und Trotzki nannte ihre Ausweisung einen Akt der vorausschauenden Humanität. Denn diese politisch unzuverlässigen Personen würden sich später als Agenten des Feindes erweisen und man wäre dann gezwungen, sie zu erschießen.
Michael Köhlmeiers Buch „Das Philosophenschiff“ berichtet von Ereignissen aus der russischen Vergangenheit, die heute wieder erschreckend aktuell sind. Geschichte lässt sich ja am besten durch Geschichten von Menschen anschaulich machen. Köhlmeier vermischt in seinem Roman – wie auch in anderen seiner Bücher – Fiktion und Realität gekonnt miteinander. Eine Hundertjährige bittet ihn, ein entscheidendes Kapitel aus ihrem langen Leben niederzuschreiben. Diese Anouk Perleman-Jacob, eine sehr wache alte Dame und berühmte Architektin, hat sich der Autor ausgedacht, doch viele Figuren und Begebenheiten des Romans sind historisch verbürgt.
Anouk, die hier ihre Geschichte erzählt, wuchs in Sankt Petersburg als Tochter von zwei jüdischen Wissenschaftlern auf. Nach der Oktoberrevolution im Jahr 1917 herrschte in Russland Bürgerkrieg. Das junge Mädchen erlebte das Grauen, wurde Zeugin von Not, Angst und Mord. Die Bolschewiki, die unter der Führung Lenins durch Zwang und Gewalt eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen erschaffen wollten, führten auch gegen die Zivilbevölkerung einen erbitterten Krieg. Millionen Menschen verloren ihr Leben, und die Intellektuellen, „die Lakaien des Kapitals“, standen besonders im Fokus der Säuberungen.
Durch deutliche Anspielungen auf Wladimir Putin schlägt Köhlmeier im Roman auch einen Bogen in die Gegenwart. So lässt er die alte Dame von dem größenwahnsinnigen Zar Pawel I. erzählen, einem Sohn Katharinas der Großen, der sich einen acht Meter langen Tisch zimmern ließ, an dem er seine Gäste empfing, und der einen Krieg gegen die Ukraine plante.
Im September 1922 werden die 14-jährige Anouk und ihre Eltern von zwei Herren der Geheimpolizei abgeholt und auf ein Schiff gebracht. Dieses besondere Philosophenschiff ist eine Erfindung des Autors: ein riesiger Luxusdampfer mit nur zehn verängstigten Menschen an Bord. Ein Geisterschiff, das so aussieht, „als würde es ins Jenseits fahren“. Zu dieser phantastischen Szenerie gehört auch der unbekannte Gast, der eines Nachts auf das Schiff gebracht wird. Niemand sonst bekommt ihn zu Gesicht, nur Anouk, ein starkes, intelligentes Mädchen, macht auf dem Sonnendeck der 1. Klasse die Bekanntschaft eines halbseitig gelähmten Mannes im Rollstuhl. Er gibt sich als Lenin zu erkennen, und die beiden kommen ins Gespräch. Sie unterhalten sich über vieles, über Liebe und Macht, und Anouk nennt ihn, obwohl er die Schuld am Tod so vieler Menschen trägt, einen Freund. Denn angesichts seines eigenen Todes ist er „doch nur irgendein Mensch“.
Am Ende der Geschichte wird Lenin von seinem Nachfolger und ärgsten Feind entsorgt. Bevor er ihn über Bord des Dampfers kippen lässt, rechnet Stalin mit seinem Vorgänger ab. Die Schlussszene kann man als Verbeugung Köhlmeiers vor einem großen russischen Schriftsteller lesen. Sie weist viele Parallelen zu Dostojewskis „Großinquisitor“ auf. Lenins Idee von der Schaffung eines neuen, vom Joch der Unterdrückung befreiten Menschen, so Stalin, war ein Irrtum. Denn die meisten Menschen fürchten die Freiheit. Sie wollen vor allem genug zu essen haben und sind grob wie er selbst. „Mit einem Unterschied. Ich kann zuschlagen.“ So verweist der Autor auf die Zeit nach Lenin: den stalinistischen Terror.
Michael Köhlmeier ist ein großartiger, raffinierter Erzähler. Immer wieder macht er kleine Abstecher, spielt mit Dichtung und Wahrheit, spricht über die Vieldeutigkeit von Lyrik, stellt sich Fragen nach seiner eigenen Vergangenheit, in der er als junger Mann mit der RAF sympathisierte. Aber immer bleibt das eine Thema im Zentrum seines Buches: die Kontinuität der Despotie in Russland.
Lilly Munzinger, Gauting

Michael Köhlmeier
„Das Philosophenschiff“
Hanser
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Dienstag 13.02.2024
André Franquin „Die Bravo Brothers“
Am 03. Januar diesen Jahres wäre der großartige französische Comiczeichner André Franquin 100 Jahre alt geworden. Anlässlich dieses Jubiläums ist im Carlsen Verlag eine der wohl schönsten von ihm gestaltenden Stories in einem Prachtband veröffentlicht worden: „Die Bravo Brothers“. Weitere Jubiläumsausgaben mit Gaston oder seine „Schwarzen Gedanken“ sind bereits erschienen. Weitere Titel sind angekündigt.

Die Story: Was schenkt man dem immerzu gestressten und nahezu dauernervösen Reporter Fantasio zum Geburtstag? Die Lösung: Der Bürobote des Carlsen Verlages Gaston kauft von einem insolventen Zirkus drei Affen, die im Verlag für ordentlich Action und Chaos sorgen. Die Aufgabe: Fantasios Freund Spirou bringt in Erfahrung, dass der menschenscheue Dompteur Noah die „Bravo Brothers“ genannten Affen dressiert hat und sorgt letztlich dafür, dass alles wieder in geregelte Bahnen kommt. Damit sind alle wichtigen Protagonisten vorgestellt und Franquin kreierte mit ihnen eine rasante Story, die zeit seines Lebens eine seiner Lieblingsgeschichten war und ihn selbst immer wieder zum Lachen brachte.

Bei der vorliegenden Gesamtausgabe handelt es sich um die komplette 22-seitige Erzählung aus dem Jahr 1965, sorgfältig restauriert und neu koloriert. Auf weiteren fast fünfzig Seiten wurde zusätzliches Material aus dem Bravo Brothers Universum zu Tage gefördert und nun erstmals veröffentlicht. Angefangen von Cover(entwürfen) bilden die kompletten, geinkten s/w Originalseiten, versehen mit Kommentaren von José-Louis Bocquet und Serge Honorez das Herzstück dieser Ausgabe. Franquins grandiose Arbeitsweise lässt sich anhand dieser Seiten am eindrucksvollsten nachvollziehen. Durch die Kommentierung erfährt der Leser mehr über herzliche Kleinigkeiten, Hintergründe, Details und Anspielungen, die Franquin hier umsetzte und die seinen unverwechselbaren Zeichenstil letztlich prägten.
Thomas J. Krebs
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